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Hirn-Stürmchen in Zettelland

von Anne Peter

Berlin, 8. Dezember 2011. Klar, kann man machen. Man kann Kleists "Käthchen von Heilbronn" hernehmen und den Text, ohne feste Rollenzuweisung und einheitliche Figurenzeichnung, auf eine Hand voll Schauspieler verteilen, die ihn mal einzeln, mal chorisch sprechen und sich von Zeit zu Zeit mit dem Namen des Autors anreden. Man kann auch Briefe von Kleist hineinmixen. Man kann zwischendurch ein bisschen auf Puppenspiel machen, wahlweise mit nostalgischem Retro-Modell oder kugelrunden Pappmaché-Köppen. Man kann die Holunderbuschszene in einem Miniaturtheater mit Miniaturfigürchen nachspielen und zwei Parallelspieler dabei in einigen Metern Höhe vom Schnürboden baumeln lassen. Man kann blecherne Ritterrüstungen in Lebensgröße vor sich hertragen und einander zur Ritterparodie scheppernd auf die Schultern klopfen. Und vielleicht schafft man es sogar, dem Zuschauer mit ein paar Modelleisenbahn-Bäumen auf zwei grasgrün bestreuselten Halbnackt-Körpern ein Wald-Setting zu suggerieren.

Man kann das so machen. Muss man aber nicht. Andreas Kriegenburg – nach Simone Blattner am Berliner Ensemble und Jan Bosse am Maxim Gorki Theater der dritte Regisseur in Berlin, der sich in letzter Zeit jenes engelgleichen Mädchens annimmt, das den Grafen Wetter vom Strahl in traumgestärktem Liebeswahn verfolgt – bleibt im Deutschen Theater die Antwort auf die Frage, warum er für seine "Käthchen"-Version all diese Mittelchen aus der Regietheater-Spielkiste zur Anwendung bringt, weitgehend schuldig.

Vermischtes aus dem Kopf des Autors

Die Einfälle ergeben, wie immer bei dem Bilderbauer und Atmosphärenschaffer Kriegenburg, manch hübsches, manch drolliges Einzelbild, bleiben im Ensemble aber disparates Stückwerk. Eine große Kunstanstrengung, bei der undurchsichtig, ja willkürlich erscheint, was einzeln, was im Chor gesprochen wird, wann die Puppen zum Einsatz kommen und wann kurzfristig Pathos-geladene Einfühlung (aufgerissene Augen, zusammengezogene Brauen, Jammerstimme) gemimt wird. Der Preis für den Verzicht auf Figurendramaturgie ist hoch. Wer den Text nicht parat hat, wird Mühe haben zu folgen.

Soviel immerhin ist zu erkennen: Kriegenburg schließt Kleists "großes historisches Ritterschauspiel" mit dessen Biographie kurz und folgt mit der Kollektiv-Erspielung einer diffusen Zersplitterungsthese. Er behauptet, dass Leben und Werk irgendwie ganz eng zusammenhängen und inszeniert das Stück als ein sich im Kopfe des Autors langsam aufblähendes Hirngespinst, das mal die eigenen sexuellen Phantasien ausbuchstabiert, mal den damals modischen Mittelalter-Ritterklimbim parodiert.

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Bei Ritters in der Schreibstube. © Arno Declair

 

 

Am Tischchen in der Stube hinterm Federkiel

So schauen wir anfangs in eine hohe (ebenfalls von Kriegenburg ersonnene) Schreibstube, deren Wände vom Boden bis zur Decke mit Zetteln gespickt sind, verziert mit Kleist-Handschrift, weiß bis dekorativ-vergilbt. An Schreibtischchen sitzen sechs Kleist-Doubles in 19.-Jahrhundert-Kluft – Kniehose, Weste, Frack zu weiß gekalkten Gesichtern und dunkel umschatteten Augen – und zeigen deutliche Symptome einer Schreibblockade: Der eine kaut auf dem Federkiel, ein anderer lässt sinnierend den Löffel in der Kaffeetasse kreisen, der dritte beißt sich vor Inspirationslosigkeit auf die Finger. Dann lassen alle, synchron von Erschöpfung übermannt, die Köpfe auf die Tischplatte sinken, berappeln sich nach kurzer Pause ebenso synchron, und beginnen, durcheinander Zitatfetzen aus Kleist-Briefen zu murmeln.

Alexander Khuon legt sich ein kleines Mädchen-Leibchen übers Gesicht und atmet, schwer erotisiert, den Stoff-Dunst ein, bevor ihm das Loblied des Käthchen-Vaters auf sein zartes, frommes, liebes Töchterlein über die Lippen quillt und er sich gemeinsam mit Jörg Pose, der Kommata und Doppelpunkte einspricht, immer stärker in Ekstase redet – die Geburt des "Käthchens" aus dem erotischen Wunschtraum seines Autors heraus.

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Elias Arens, Barbara Heynen, Judith Hofmann und Alexander Khuon. © Arno Declair

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Biographie ein Spiel

Es wirkt allerdings, als hätte Kriegenburg für sein dreistündiges Unterfangen, das nach der Kaiserszene ohne Happy End mit ein paar verzweifelten Brief-Zeilen abbricht, eine Kleist-Biographie nur mal lose durchgeblättert und nach Gusto ein paar Motive aus dessen Leben und Schaffen für die szenische Belebung der ansonsten denkbar trockenen Angelegenheit zusammengeklaubt. Kleist hat "Über das Marionettentheater" geschrieben – also macht man was mit Puppen, auch wenn das in der hier gepflegten Praxis nichts Erkennbares mit jenen Reflexionen über die Anmut des Unbewussten zu tun hat. Kleist hat den Doppelselbstmord am Wannsee nach einem Gemälde inszeniert – also drapiert man sich in dieser Pose. Und das oft wiederholte "Liebe Ulrike, bitte schicke Geld" soll uns immer wieder mit der Nase darauf stoßen, dass Kleist sich mit dem "Käthchen" den dringend benötigten Publikumserfolg zu erschreiben trachtete. Aber wohin führt der Biographismus? Was erhellt er? Was gewinnt Kriegenburg mit seiner Metaebenen-Herangehensweise? Welche Deutungen tun sich dadurch auf? Das Rauschen in diesem Brief- und Blätterwald übertönt eine große Leere.

 

Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe
von Heinrich von Kleist
Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Andrea Schraad, Dramaturgie: Sonja Anders, Licht: Matthias Vogel.
Mit: Elias Arens, Barbara Heynen, Judith Hofmann, Alexander Khuon, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose.

http://www.deutschestheater.de/

 

Mehr Käthchens von Berlin hier (Berliner Ensemble) und hier (Maxim Gorki Theater), von Zürich hier, von Freiburg hier, von Dresden hier. Und Dieter Dorns Abschieds-Käthchen in München hier.


Kritikenrundschau

Christine Wahl schreibt im Tagesspiegel (10.11.2011): In Kriegenburgs Versuch, das "Ritterschauspiel mit der Biografie des Autors kurzzuschließen", wohnten wir, "so die Behauptung, der Geburt des 'Käthchens' aus dem Geiste des Kleist'schen Traums bei". Nur nehme sich der szenische Ringelreigen rätselhaft aus: "Über die Frage, wer hier gerade wen, womit und warum spielt, darf drei Stunden lang spekuliert werden. (…) Jeder darf mal. Hauptsache, es kommt kein Identifikationsverdacht auf." Aus dem "Konzept des multiplen Heinrichs" schlage Kriegenburg "erstaunlich wenig Kapital. Tatsächlich multipliziert er eher als zu differenzieren."

Eine "einzige große Ausweichbewegung vor dem Stück, zugleich kleinmütig wie auftrumpfend", sei dieses "Käthchen" von Kriegenburg, sagt Hartmut Krug in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (8.12.2011, hier) sowie ausführlicher einen Tag später in der Sendung "Kultur heute" im Deutschlandfunk (9.12.2011, hier). Kriegenburg lasse sich "von keiner der Figuren tiefer reizen", und der übergreifende "Begründungszusammenhang zwischen biografischen Details und Stückszenen wirkt beliebig, weder überzeugt er noch wirkt er durchdacht und erhellend." Einen gelegentlichen "atmosphärischen Reiz" mag "Kriegenburgs dramaturgisch-szenische Bastelei" erzeugen, allerdings ergibt der Abend für den Kritiker dadurch nicht mehr als "leeres Beeindruckungs-Theater eines Regisseurs, der vor den Zumutungen von Kleists Stück zurückschreckt und ihm dabei Sinn und Sinnlichkeit nimmt."

Eine ca. 30 Zeilen lange Kürzestkritik widmet Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (10.12.2011) diesem "Heißlufttheater", das alles verfeuere, was sich "Tantchen Käthe heutigentags unter Regietheater so vorstellt", wobei es Tantchen auch den Eindruck vermittele, dass dieser Arbeit "offenbar jeder Spiel- und Inszenierungsgrund verloren gegangen sein muss."

Bedeutsames kann auch Irene Bazinger für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.12.2011) an diesem Abend "zwischen Kunstgewerbe und Sentimentalität mit biographischen Zitaten und langen Gesichtern auf der Bühne wie im Publikum" nicht ausmachen: "Wie getrieben vom horror vacui herrscht das Prinzip der Überladenheit vor: von der flatternden Zettelwirtschaft über die Requisiten – scharenweise verschiedene Puppen, ein kleines Tischtheater, ein riesiges Schwert – bis zu Donnerblech und Lederprothese." Das Spiel der Akteure sei von einer "permanenten Effekthascherei" befallen, ohne dass es den "elementaren Leerlauf der Aufführung kaschieren" könne.

Einen "Erfolgsregisseur", der sich "nicht die Finger verbrennen" wolle, hat Christopher Schmidt für die Süddeutsche Zeitung (10.12.2011) erlebt. Indem Kriegenburg mit seinem "Making of" alles Dramen-Geschehen "aus der Psychopathologie des Autors ableitet, muss er nicht selbst Stellung beziehen und ist fein raus. Oder unfein." So biete der Abend zwar "putzigen Bilderzauber, auf den sich der Edelkitschier Kriegenburg versteht", aber nirgends eine zwingende Interpretation: "Das völlige Fehlen einer inneren Notwendigkeit ist das größte Ärgernis dieser nur routinierten Repertoire-Pflichtübung."

Auf dem Onlineportal der Welt (10.12.2011) findet Matthias Heine immerhin Gefallen an den Puppenfiguren, deren Auftritte "oft von magischer Schönheit“ seien. "Aber man stellt einer Aufführung doch kein wirklich gutes Zeugnis aus, wenn man ihr nachsagt, sie sei umso besser, je weiter sie sich vom Theater entfernt. Wenn die Schauspieler selbst mal eine Figur ganz ohne Puppen darstellen müssen, kommen sie selten über eine Parodie hinaus." So schwankt der Kritiker zwischen Bewunderung für manch "zauberische Momente" (wie etwa die Flammenszene, in der Kätchen das Bild des Grafen Wetter vom Strahl aus einer brennenden Burg rettet) und Missfallen, wenn "die Schauspieler doch allzu oft zwischen Ergriffenheit und Lachsack" schwankten. Fazit: "Ein halbguter Abend".

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