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Ich bin eine Episodenfigur

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 9. Dezember 2011. "Ich liebe ihn, ich liebe ihn", sagt die Gutsbesitzerin Ranjewskaja. Die Liebe zu ihm sei wie ein Mühlstein, den sie um den Hals trage und der sie irgendwann in den Abgrund reißen werde. Hat die sich selbst und allen anderen ständig kokett ausweichende Hauptfigur von Anton Tschechows "Der Kirschgarten" da etwa einen lichten Moment?

Bei Ursina Lardi, die in der Inszenierung von Thorsten Lensing und Jan Hein (Theater T 1) die Ranjewskaja spielt: ganz entschieden nicht. Denn in dieser Inszenierung geht es um das Gegenteil vom Zu-sich-Kommen, um alles, was jenseits der lichten Momente stattfindet. Also spricht die Ranjewskaja über ihre Liebe zu dem Mann, vor dem sie die Flucht auf ihr heimatliches Gut angetreten hat, in einem Ton, der knapp daneben liegt, der diesen lichten Moment als einen gespielten lichten Moment entdeckt.

Laut, brutal, cholerisch

Vielleicht hofft sie, durchs Verzweiflung-Spielen die echte Verzweiflung in sich zu evozieren, die ja immer noch besser ist als die Langeweile. Laut, brutal und cholerisch bewegen sich alle "Kirschgarten"-Figuren bei Lensing/Hein über die Bühne, um ja keine solche aufkommen zu lassen. Das war auch schon in ihrem Onkel Wanja 2008 so, wo es allerdings mit dem Sich-in-einen-lichten-Moment-Hineinspielen dann doch noch ab und zu etwas wurde.

"Ich bin eine Episodenfigur", diagnostizierte die von Onkel Wanja geliebte Jelena da einmal. Das scheinen Lensing/Hein und ihr starfunkelndes Ensemble sich für ihre Exkursion in den "Kirschgarten" zu Herzen genommen zu haben. Was sie mit diesem Stück präsentieren, ist eine Ansammlung von Figurenepisoden, in der es von Episodenfiguren nur so wimmelt.

Diese Figuren bauen ganz zu Anfang schnell noch eine Ziegelmauer auf. Vor dieser Mauer wird der erste Akt gespielt; dann wird sie umgerissen. Während des zweiten Akts, der in der freien Natur spielt, bilden die Mauersteine ein gebirgiges Draußen. In der Pause, vor dem dritten und vierten Akt, die wieder im Gutshaus stattfinden, wird die Mauer erneut aufgebaut.

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Stars zwischen Ziegeln: Peter Kurth, Ursina Lardi und, hell im Hintergrund, Devid Striesow.
© David Baltzer

Stark figurenzeichnend wirken die farbenfrohen Kostüme: Ranjewskajas Tochter Anja (Aenne Schwarz) trägt einen tief ausgeschnittenen Cardigan verkehrt herum, entblößt also große Teile ihres entzückenden Rückens. Der vielgelobte Pariser Chic ihrer toughen Mutter, die ihre schönen Beine in einem äußerst kurzen roten Kleid gewagt in Szene setzt, ist ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen. In puncto Sexiness steht auch die oft als graue Maus angelegte Warja (Anna Grisebach) den anderen nicht nach: In schwarzen Pumps, das Schlüsselbund wie ein Accessoire an den losen Hüftgürtel geschnallt, stöckelt sie durchs Gut – kein Wunder, dass es da ab und zu mit Lopachin (Devid Striesow) durchgeht. Auf dessen Trieb-Attacken reagiert Warja stets mit einer Aggression, die ihren eigenen Trieb verrät.

Gruppenszenen im Zerfallen

Währenddessen bietet sich das Dienstmädchen Dunjascha (Maria Hofstätter) dem zugereisten Diener Jascha (Philipp Richardt) an und pudert sich dann Tränen ins Gesicht, nachdem sie von ihm fallen gelassen worden ist. Und der unfähige Gutsverwalter Jepichodow (Joachim Król), der sich ständig zwischen verzweifelter Liebe zu Dunjascha und Selbstmord entscheiden muss, verkündet irgendwann: "Ich kenne meine Fortune."

Ihre Fortune scheinen sie alle von Anfang an allzu gut zu kennen. Dementsprechend unterkühlt wirken die Gruppenszenen. Wie auf einem Bandfoto lungern sie da in der Gegend herum und scheinen sagen zu wollen: Wir stehen jetzt hier nur zufällig zusammen. Die Disparität seiner Figuren, die Tschechow besonders in diesen Gruppenszenen ausleuchtet, wird von Lensing/Hein nochmals unter die Lupe genommen.

Was dabei herauskommt, ist ein garantiert melancholiefreier Theaterabend. Eine Komödie, so bezeichnete Tschechow den "Kirschgarten", wird's allerdings deshalb nicht. Dazu tritt die Handlung des Stücks zu sehr in den Hintergrund, und die Figuren sind zu eingesperrt in ihrer Überspanntheits-Dimension. In einer Aneinanderreihung scheinexplosiver Momente hat der einzelne scheinexplosive Moment es schwer.


Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Deutsche Übersetzung von Thorsten Lensing und Jan Hein
Regie: Thorsten Lensing, Jan Hein, Kostüme: Anette Guther, Christel Rehm, Musik: Willi Kellers.
Mit: Ursina Lardi, Aenne Schwarz, Anna Grisebach, Peter Kurth, Devid Striesow, Lars Rudolph, Rik van Uffelen, Horst Mendroch, Joachim Król, Maria Hofstätter, Valentin Jeker, Philipp Richardt, Willi Kellers, Benjamin Eggers.

www.sophiensaele.de


Auf welchen Bühnen waren einige der hier Versammelten letzthin zu sehen? Devid Striesow in Dantons Tod bei Laurent Chétouane, Ursina Lardi im Kronauer-Solo Die Kleider der Frauen von Lensing/Hein, Peter Kurth in Die Wohlgesinnten von Armin Petras nach Jonathan Littell, Joachim Król – auf keiner Bühne, dafür neuerdings im "Tatort" als Ermittler Frank Steier.


Kritikenrundschau

Dem Musiktheaterkritiker des Tagesspiegels Frederik Hanssen (11.12.2011) war es vor allem einmal: zu laut. "Sobald es um Gefühle geht, wird bei Thorsten Lensing geschrien, und zwar von allen Beteiligten" (weshalb der Text die schöne Überschrift "Brüller, zur Sonne, zur Freiheit!" kriegt). Ansonsten mute alles – entgegen dem Credo des Regieteams – äußerlich sehr stadttheaterhaft an und inhaltlich völlig entleert: "Hier gibt es kein gesellschaftliches Oben und Unten, keine Reibung zwischen Dienern und Herren, Finanzstarken und Antriebsschwachen. Lautstärke ersetzt innere Kraft, Handgreiflichkeiten die Haltung zur Figur. Ausgestülpte Worte ohne Zwischentöne – was nützt es da, den Originaltext ungekürzt zu spielen?" Das alles sei ein "halb verdauter Hauptstadt-Stilmix: Emotionsfreie Postdramatik, wohlfeiles Performancetheater, das für den Schlüpfer-Gag, jeden Ekel-Effekt sofort den Inhalt verrät (…)."

Matthias Heine haut in der Welt (12.12.2011) in dieselbe Kerbe namens Brülltheater: Wenn Lensing/Hein "schon jeden Darsteller der Welt haben können, dann wäre es doch viel logischer gewesen, Aal-Jürgen vom Hamburger Fischmarkt, einen Einpeitscher aus der Hertha-Ostkurve, Claudia Roth von den Grünen, einen Karnevalssänger sowie andere Schreihälse, Permanenthysteriker und Volldampf-Betriebsnudeln zu verpflichten. Die würden den künstlerischen Ansprüchen der Inszenierung viel eher genügen können." Oder anders gesagt: "Denn selten ist außerhalb des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes einem Publikum dermaßen hartnäckig etwas vorgeschrien worden wie hier." Zu welchem Zwecke der Krakeel? "Vielleicht wollen Lensing und Hein gerade das prollig Gewalttätige in Tschechows sonst oft so melancholisch gezeichneten Figuren herausstreichen. Eventuell möchten sie sogar das nach dem Ende des Sozialismus so vernachlässigte Arbeiter-und-Bauern-Theater wiederbeleben."

Behutsam und historisierend wie bei der Sanierung der Sohiensaele gehe es auf der Bühne nicht zu, so Volker Corsten in der FAZ Sonntagszeitung (11.12.2011). Lensing und Hein "zeigen in ihrer eigenen, derben Übersetzung eine Welt der Gierigen und Nervösen, der Zocker, die viel zu viel, wenn auch nicht alles, gesetzt haben" und nun auf ihr Urteil warten würden, auch wenn nicht klar sein, was es überhaupt zu gewinnen gebe. Fazit: "Sie alle steigen vom ersten Ton an hoch ein. Zu hoch. Sie können den Einsatz nicht halten. Was aber nicht heißt, dass damit gleich alles verloren ist."

Eine funktionierende "Teamarbeit" erlebt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (12.12.2011) und für die Frankfurter Rundschau (12.12.2011) lediglich beim anfänglichen Aufbau der Ziegelmauer. Anschließend sehe das Stück so aus, "als hätten Lensing und Hein ihren Teil der Arbeit zu früh als abgeschlossen betrachtet und zu früh aus der Verantwortung gegeben − in die Hände der Schauspieler". Vereinzelte großartige Momente entdeckt der Rezensent im Spiel von Ursina Lardi, Devid Striesow, Peter Kurth, Lars Rudolph, aber Joachim Król mit seinen "gut gebauten Slapstick-Nummern", jedoch: "Es gibt − anders als bei 'Onkel Wanja', der sich organisch ins Orgiastische aufschaukelte − keine Entwicklung. Von Beginn an gehen im 'Kirschgarten' Emotionstölpel aufeinander los, mit Tritten, Schlägen, Tassen, Möbeln ohne einander zu erreichen." So komme es, "dass man Schauspieler statt Figuren sieht und Kostüme statt Konflikte".

Andrea Gerk ist in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (9.12.2011, hier im Podcast) fasziniert von diesem Schauspiel: "Es lebt total von diesen eigenwilligen, facettenreichen Hochkarätern"; diese Schauspieler, die man sonst in Film- und Fernsehrollen eher leise Töne anschlagen höre, drückten hier "ganz schön auf die Tube", so als wären sie froh, sich einmal richtig "austoben" zu können. Die Inszenierung sei "auf eine brutale Arte leer und rau", die Figuren würden "bei der geringsten Kleinigkeit aus der Haut fahren". In dieser Weise böte die Inszenierung die Lesart an, dass in diesem "Kirschgarten", die "Zerstörung schon stattgefunden hat, eigentlich von Anfang an." Der Kirschgarten trete als realer Ort in den Hintergrund und werde zum Raum unterschiedlicher Wunschprojektionen, "ein allgemeines Bild von Zerstörung, Verzweiflung und Verrutschtheit."

Die "denkbar bunt und plakativ zusammengewürfelte Besetzung" hinterlasse in der Aufführung "einen entsprechend disparaten Eindruck", befindet Peter Hans Göpfert im rbb Kulturradio (10.12.2011). "Verschiedene darstellerische Stile geraten da durcheinander. Jeder spielt seinen eigenen Stiefel." Von einer Regie sei nichts zu merken. "Die Aufführung kokettiert dreieinhalb Stunden mit ihrem scheinbaren Charakter einer Probe und Improvisation und einer zeitgeistig vergröbernden eigenen Übersetzung." Dabei gibt für den Kritiker immerhin Devid Striesow seiner Rolle als Lopachin "eine interessante und konzentrierte Pointe".

Einen "Abend mit hoher emotionaler Dichte" hat hingegen Dirk Pilz von der Neuen Zürcher Zeitung (13.12.2011) gesehen, eine "Studie zur Ergründung von Gefühlszuständen", bei der alles aus der jeweiligen Spielsituation heraus entwickelt werde. "Kaum ein Gang, eine Geste, ein Ton scheint festgelegt zu sein, immer agieren die Darsteller in grosser schauspielerischer Freiheit, allein ihren Figuren und deren Zuständen verpflichtet. Entsprechend unberechenbar, sprunghaft sind sie." Dadurch werde "Der Kirschgarten" zur "Komödie der Unmittelbarkeit". Dass das viele Rennen, Schreien und Schwitzen "nicht zu blindem Aktionismus" führe, sei dem "edlen Ensemble" zu verdanken. Es spiele "Menschen, die in Gefühlszuständen feststecken". Lardi zum Beispiel, die ihre Ranjewskaja zwischen größtmöglichen Widersprüchen aufspanne, sie jedoch nie "ins Sentimentale abdriften" lasse. Ein "beissend nüchterner Abend". Lensing/Hein erlaubten ihren Schauspielern "alles, nur keine verschwiemelte Gefühligkeit".

"Bloß nicht als elegische Birkenhain-Pastorale, sondern roh und rüde" wollen Lensing/Hein ihren Tschechow Christopher Schmidt zufolge gespielt wissen, dessen Kritik die Süddeutsche Zeitung am 15.12.2011 nachreicht. "Tschechow unplugged" also, nur leider wirbele diese "Kirschgarten"-Inszenierung nicht annähernd so viel Staub auf wie die Steine, die die Schauspieler am Anfang zu einer Mauer schichten. Fahrig und betont aufgekratzt fange alles an, laut und ungebärdig, "aber auch wenn das Tempo später rausgenommen wird, bleibt der Spielfluss stockend, wirkt die Aufführung unorganisch und ungefüge." Es herrsche das pure Verkehrschaos. Trotzdem gelängen den Star-Schauspielern "selbstverwaltet einige feine Figurenprofile".

"Lensing und Hein versetzen die Geschichte in eine totale Postmoderne", befindet Andrea Heinz in der Zeit (15.12.2011). "Sie tun das nicht etwa mittels alberner Modernisierung (auch wenn Devid Striesow einmal ein affiges Glitzerhemd trägt), sie drehen einfach nur an der Gemütsverfassung ihrer Figuren herum." Heraus komme eine völlig hysterische Inszenierung, "in der man fast meint, die blank liegenden Nervenfasern der Darsteller sehen zu können". Es gehe hier "um die Verfasstheit des Menschen, dessen Gott tot ist. Diese Menschen suchen etwas, sie nennen es Geld oder Liebe, Paris oder Kirschgarten. Am Ende aber suchen sie nach etwas, das sie vollständig macht, und sie zerbrechen, weil sie einfach nicht wissen, was das sein könnte."

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