Philotas + - Gernot Grünewald verschneidet in Karlsruhe das Lessingsche Heldendrama mit Bundeswehrinterviews aus Afghanistan
Zwanzig Beamer und kein Schwert
von Georg Patzer
Karlsruhe, 10. Dezember 2011. "Helden" ist das Spielzeitmotto des Badischen Staatstheaters in Karlsruhe. Fiesco war schon dran (Schiller), Major Tellheim (Lessing), der urdeutsche Hermann (Kleist), Theodor von Gothland (Grabbe). Jetzt Prinz Philotas (noch einmal Lessing): begierig in den Krieg gezogen, aus jugendlichem Überschwang zu weit nach vorne gestürmt und gleich vom Feind gefangen genommen. Ein wenig Glück hat Philotas allerdings, denn zur gleichen Zeit ist Polytimet, der Sohn des Gegners Aridäus, von Philotas' Vater gefangen genommen worden. Da könnte man sie doch schön austauschen. Und dann weiterkämpfen.
Für das Vaterland sterben?
Aber Philotas hat sich etwas anderes in den Kopf gesetzt: Er will ein Held sein. Er will die "Schmach", dass er leicht verwundetet gleich in seiner ersten Schlacht in die Hand des Feindes fiel, nicht auf sich sitzen lassen. Also ersticht er sich mit einem Schwert, damit der Austausch nicht stattfinden kann, sein Vater nicht gezwungen ist, ihn zu retten. Ist das Heldentum? Für ein Ziel zu sterben, für ein Abstraktum? Für die Ehre, für das Vaterland? Sind Selbstmordattentäter dann auch Helden?
Regisseur Gernot Grünewald hat sich entschieden, nicht nur "Philotas" zu inszenieren, sondern auch bei den deutschen Soldaten in Afghanistan nachzufragen. Ein paar Tage war er im nördlichsten (und ruhigsten, wie er unnötigerweise betont) Lager, in dem deutsche Soldaten Dienst tun: Mazar-e Sharif. Er hat ihnen mit seinem Dramaturgen Tobias Schuster das Stück vorgelesen und sie zu ihren Gedanken und Gefühlen, zum Töten und Sterben befragt.
Videoreise nach Mazar-e Sharif
Beides wären gute Stücke gewesen, einzeln oder auch zusammen: Lessings "Philotas" über ein Kind, das zum Mann werden will (so heißt es im Stück), indem er den Heldentod stirbt – und ein sensibles Dokumentarstück über die Situation der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Grünewald entschied sich für eine Collage. Immer wieder blendete er Originalaufnahmen der Soldaten ein und lässt das Ensemble (Jan Andreesen, Klaus Cofalka-Adami, Gunnar Schmidt und Frank Wiegard) Passagen nachsprechen, in denen sich die Soldaten und eine Psychologin über das Vaterland, den Heldentod und das Stück auslassen.
Da wurde der Bogen vom 18. Jahrhundert zum 21. gespannt. Und man hätte ihn sehr schön hin- und herschwingen lassen können. Leider gelang es Grünewald meistens nicht, die beiden Teile sinnvoll zu verbinden, und so standen Highlights aus "Philotas" neben Interviewschnipseln, die zum Teil mehrfach wiederholt wurden, bis sie auch der letzte verstanden hatte.
Dummerweise meinte Grünewald aber auch noch, dass man das Publikum darauf aufmerksam machen müsste, dass es im Theater sitzt. Also trieb er die vier sehr guten Schauspieler, die abwechselnd und zum Teil gleichzeitig in die Rolle des Philotas (und andere) schlüpften, dazu, dem Publikum zu erklären, was es auf den vier Bildschirmen oder der großen Leinwand gerade sah: nämlich das Lager Mazar-e Sharif oder den Regisseur und den Dramaturgen in Afghanistan oder die Soldaten, wie sie den beiden zuhören.
Avantgarde von vorgestern
Die Schauspieler mussten außerdem Regisseur spielen und sich gegenseitig zu darstellerischen Höchstleistungen antreiben ("Los, weiter, mehr Gefühl, na also, jetzt bist du doch drin!"), nach einem Schwert suchen ("Scheiß-Staatstheater! Zwanzig Beamer und kein Schwert!"), den Text in die Kamera halten oder sich gegenseitig filmen. Sie mussten sich das Gesicht mit Klebeband zukleistern, nur damit Philotas auf die Narben im Gesicht der Soldaten hinweisen konnte. Mussten den Text parallel aufsagen, sich über ihn lustig machen, ihn vom Blatt lesen oder ins Publikum laufen, um ihn dort aufzusagen.
Das alles ist Avantgarde von vorgestern, Sozialkundeunterricht auf der Bühne, Unterweisung in Brechtschem Verfremdungseffekt. Vor allem sind es ärgerliche Kinkerlitzchen, die sich das Staatstheater unter dem neuen Intendanten verstärkt angewöhnt hat: die Texte nicht ernst zu nehmen und sie mit enormem Technikaufwand und unnötigen Mätzchen "aufzupeppen", damit ein jugendliches Publikum seine Gaudi hat. Es ist albernes Studententheater eines Regisseurs, dem das Material offensichtlich über den Kopf gewachsen ist (25 Stunden Interviews) und der weder von der einen noch der anderen "Textquelle" überzeugt genug war.
Philotas +
Nach Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Gernot Grünewald, Bühne und Kostüme: Michael Köpke, Musik: Nina Wurman, Dramaturgie: Tobias Schuster, Video: Jonas Plümke.
Mit: Jan Andreesen, Klaus Cofalka-Adami, Gunnar Schmidt, Frank Wiegard.
www.staatstheater.karlsruhe.de
Mehr über den Afghanistan-Einsatz auf deutschen Bühnen: Julia Roesler gab im Juni in Göttingen mit Soldaten einen "szenisch-musikalischen Einsatzbericht"; Volker Lösch hob im Oktober in Stuttgart mit Homers Ilias / Achill in Afghanistan das antike Epos in die Jetztzeit.
In den Badischen Neusten Nachrichten (12.12.2011) lobt Andreas Jüttner zunächst "einprägsame Bilder und bedenkenswerte Texte" sowie den Einsatz der Videotechnik in dieser Lessing-Aktualisierung: Wenn Andreesen von Philotas' Attacke erzählt und dabei im Taschenlampenlicht gefilmt werde, dann erinnere das an Live-Reportagen von "embedded journalists" bei nächtlichen Militär-Aktionen, und wenn Frank Wiegard und Gunnar Schmidt mit Philotas' sehnlich erwartetem Schwerr in filmische Heldenposten verfielen, dann illustrierten sie die Verführungskraft von Waffen, die einige der interviewten Soldaten zu bedenken gäben. Rätselhaft bleibt für Jüttner trotz dieses Lobes, "warum die Regie der eigenen Ästhetik so wenig traut, dass sie glaubt, das tatsächliche Rollenspiel parodistisch ausstellen zu müssen." Sei der Ansatz, das Theaterprinzip des Simulierens zu hinterfragen, mittlerweile selbst ein Theaterprinzip? "Und falls ja: Warum wirken dann die 'authentischsten' Privatmomente am unglaubwürdigsten?"
Gernot Grünewald gelte als "Spezialist für dokumentarisches Arbeiten", so Rüdiger Krohn in Die Rheinpfalz (13.12.2011). Das werde an diesem Abend durchaus erkennbar. Aber im Abgleich seines Afghanistan-Materials mit dem Lessing-Stück zeige Grünewald "einen bedenklichen Mangel an szenischer Umsetzung komplexer Sachverhalte und vor allem an Seriosität im Umgang mit dem Text, zu dem er erkennbar keinen Zugang findet". Der Abend weise "das ganze, etwas abgeleierte Arsenal an Modernismen" auf, "mit denen Hilf und Ahnungslosigkeit sich so gerne als kesse Respektlosigkeit ausgeben". So bleibe denn nach 90 Minuten "lärmender, hochtouriger Rede- und Bilderschlacht" das magere Resümée, dass die bloße, unverfremdete Aufführung von Lessings Einakter die Botschaft des Abends klarer zum Ausdruck hätte bringen können., während der "heftig aufgemotzte Doku-Teil" etwa im Beiprogramm besser aufgehoben gewesen wäre.
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Aber zur Sache.
Lessings "Philotas" ist ein heikler, weil in seiner Haltung schwer verifizierbarer, heute fast kryptisch anmutender Text. Das Pathos des "Helden" Philotas, der im Ringen um sein Heldentum leiden, sogar sterben will, erscheint schon in Lessings Einakter auf die Spitze getrieben, satirisch überzeichnet. Beim Inszenieren dieses Stücks eine wie auch immer geartete "Ernsthaftigkeit" darüberzustülpen, wäre schwach und würde den Text entwerten. Regisseur und Dramaturg des Badischen Staatstheaters haben sich anders entschieden und den Begriff "Held" auf seinen Gehalt untersucht: undogmatisch, hellsichtig und sogar: amüsant. Und das ist wohl der entscheidende Aspekt dieses erhellenden Theaterabends, der vielen bitter aufstößt. Darf man das? Über Krieg, Tod und Heldentum locker diskutieren, die Argumente verschärfen, das Thema mit Humor und Übermut angehen? Ist nicht vielmehr Betroffenheit angezeigt, stille Ernsthaftigkeit, VORSICHT? Es ist genau diese Ängstlichkeit, dieses schamige Umschiffen heikler Themen, das deutsche Hochkultur oft so unerträglich geistlos, trist und frustrierend macht. Solches erspart uns der Intendant Peter Spuhler, und holt stattdessen aufgeschlossene, kluge junge Regisseure wie Grünewald an sein Haus, die sich erst einmal die Mühe machen, genau zu lesen, hinzuhören. Was hat Philotas, was haben die Soldaten in Afghanistan für eine Sprache? Was ist ihr Ziel, was sind ihre Werte?
"Philotas" verhilft dem Zuschauer tatsächlich dazu, dem "Helden" auf die Spur zu kommen, die interessanten und zeitgemäßen Fragen zu verfolgen, die Heldentum bedeuten kann. Und diese Inszenierung bietet – Danke dafür! – keine eindimensionalen Bewertungen oder altklugen Kommentare zum NATO-Einsatz oder zum Krieg gegen die Taliban. Das können andere besser.
Ich finde, es gehört zu einer angemessenen, seriösen Rezension, zu erwähnen, wie ein Theaterabend beim Publikum ankam. (Bei aller denkbaren subjektiven Aversion sollte man das nicht verschweigen.) "Philotas" bekam bei der Premiere einen nicht enden wollenden Applaus.
Zur Sache: ich habe jetzt alle Inszenierungen der neuen Aera Spuheler gesehen und ich kann ehrlich sagen, das Problem des Haus sind keinswegs die guten dramaturgischen Ideen, die Schauspieler oder die Stuecke. Das Problem ist, dass das alles nie richtig stimmig und ueberzeugend wird oder wirkt. Ergo: untaugliche (leider pauschal betrachtet, denn meine Enttaeuschung ist bisher auch pauschal gewesen) Regisseure. Aber warum merken das Spuhler, Linders und ihre intelligenten DramaturgInnen nicht schon bei den internen Endproben? (...) Warum wird das bei ihnen nie stimmig, so dass die "tollen" Ideen tatsaechlich aufgehen beim wohlmeinenden Zuschauen? Ohne bessere Regisseure - egal ob jung, alt oder greis - wird diese Spielzeit ein Desaster nur wegen der kuenstlerischen Blindheit der Leiter!
Ich hoffe demnächst auf "Immer noch Sturm" und "Orpheis steigt herab". Vor der Übernahme des Solbergschen "Hamlet" aus Heidelberg graut mir allerdings jetzt schon.
Das ist etwas, was mir schon bei der letzten Debatte über Karlsruhe aufgestoßen ist. Es wird so getan, als wären in den letzten Jahren nur Gustaf Gründgens-Gesächntnisinszenierungen gelaufen. Klar, es gab auch einiges an eher konventionellen Inszenierungen (oder was auch immer Sie mit Schauspielertheater meinen), aber haben Sie "Winterreise" in der letzten Spielzeit gesehen? Nur so als Beispiel? Oder waren sie in den Spielzeiten davor ab und zu mal im Karlsruher Schauspiel?
Insofern kann man dem Karlsruher Publikum nicht vorwerfen, dass es neue Theaterformen nicht kennen würde.
Übrigens ist auch gegen eher konventionelle Inszenierungen nichts zu sagen, wenn sie in sich stimmig und anregend sind. Aus der letzten Spielzeit erinnere ich mich noch gut an "EINE FAMILIE (August: Osage County)". Ein sehr gutes Stück mit großartigen Schauspielern sehr gut inszeniert. Vielleicht ist das auch eine Frage der Reife der Regie-Teams.
Zum Umgang mit der Sprache: Für mich ist das bemühte "wir sprechen jetzt alles so, als würden wir uns zufällig auf der Straße begegnen" viel vorgestriger als der "Theaterton", den sie bemängeln. Aber eigentlich will ich hier keine Debatte über so etwas aufmachen. Sondern wollte einfach nur anmerken, dass das Theater unter Knut Weber sicher ein anderes Theater war, aber eben keines, das das Publikum unterfordert hätte oder Theater von annodazumal geboten hätte. Und über Spuhler und seine Intendanz möchte ich noch nicht diskutieren, sondern erst mal abwarten. Die Spielzeit ist ja noch jung.
Anonsten können wir gerne unsere unterschiedlichen Auffassungen auf sich beruhen lassen.
Auf ein Theater der Menschendarstellung für unsere Stadt.
,,
Übrigens hat die Aufzählung der Stationen, die die Regisseure bisher absolviert haben und antreten werden, wenig mit deren Reife zu tun. Die eigene Handschrift ist z. B. Herrn Solberg sicher nicht abzusprechen, ob man sie reif oder vielleicht doch eher Kindergeburtstag nennen möchte, lässt sich auch mit Verweis auf seine Berufung nach Basel nicht automatisch beantworten.
@rina: Zitat "...die Vorstellung,die Leitung eines Theaters könnte in der Probenendzeit eingreifen und verändern,ist absolut theaterfremd" - nunja mit verlaub, das ist natürlich völliger quatsch. zumindest, wenn sie sich auf die heutigen arbeitsweisen und vorgänge im stadttheaterbetrieb beziehen sollten. natürlich wird eingegriffen, ultimaten gesetzt, druck ausgeübt, gefeuert etc. das ist nun mal alles andere als "theaterfremd" und mitunter ja auch kein alleinstellungsmerkmal des theaterbetriebes. das kann man finden wie man will - verleugnen sollte man es allerdings nicht.
Bei wem haben Sie denn in den vorherigen Spielzeiten "Getöne" wahrgenommen? Gerade bei den Herren sind ja einige der auffälligsten Schauspieler (Tank, Wagner) geblieben, die werden Sie ja wohl nicht meinen. Wen dann?
http://mp3-download.swr.de/swr2/journal/interviews/2011/12/504108.6444m.mp3
ich war nun in allen vostellungen, außer gothland, und zu philotas+ kann ich nur sagen, großartig! dieses stück hat mich zum mitdenken und mitfühlen gebracht. was soll man einen philotas einfach nur erzählen?? dann wäre er in 45minuten um und die handlung könnte man in 2sätze packen, aber so wurde daraus ein für mich sehr gelungene interpretation und zusammenfügung zwischen heute (dem nahen osten) und der "alten" geschichte, und man versteht die geschichte immer noch. APPLAUS!
Aber was mich wirklich aufregt, sind die blöden den Schauspielern aufgezwungene Mätzchen der Regie, die mich manchmal glauben macht, dass einfach jeder noch so idiotische Einfall mitinszeniert wird. Und das beziehe ich nicht nur auf Philotas, sondern auf alle Inszenierungen. Lauter Witzigkeiten und pubertäre Gags, am schlimmsten war in der Hinsicht "Minna von Barnhelm". Einen Sinn konnte ich darin nicht entdecken, es sei denn den, dass man in Karlsruhe unbedingt mit der Kreissäge und dem Vorschlaghammer hantieren muss. Die Aufführung, in der ich war, fand aus gutem Grund vor nur sehr wenigen Leuten statt.
Und: "zum mitdenken und mitfühlen gebracht"? Gut. Das kann ich akzeptieren. Mit ging es nicht so, weil ich aus familiären Gründen einige Soldaten kenne, die in Afghanistan waren, auch in dem Lager im Norden, aber auch in richtig gefährlichen. Und ich empfehle eine geistig und gefühlsmäßige Zetungslektüre, die dasselbe leistet. Und noch einmal: Das hätte eine kluge Philotas-Inszenierung auch geleistet. So aber fiel der ganze, viel zu lange Abend völlig auseinander, und die Mätzchen, die die Schauspieler machten, auch dieses permanente aus der Rolle fallen, haben nur noch genervt.
(...)