Auf ewig im Keller

von Simone Kaempf

Berlin, 17. Dezember 2011. Um gefangen zu sein, braucht es kein Gefängnis. Menschen, genauer ihre Prinzipien, Gefühle oder Versprechungen auf eine bessere Zukunft können genauso an einen Ort fesseln. Die Gefangenschaft mag dann, ähnlich wie bei einem Stockholm-Syndrom, in anderem Licht erscheinen. So jedenfalls ergeht es der Frau in "Tage unter", die einst entführt wurde in ein Haus mit einem verbunkerten Keller, und nun, sich längst behütet fühlend in den neuen Strukturen, zurück soll in die Freiheit. Und zwar vehement, gegen ihren Willen.

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"Tage unter" © Elisabeth Carecchio

Ein abgelegenes Haus, die Frau, die einst von dem Mann entführt wurde, mit dem sie nun eine regelrechte Liebesgeschichte verbindet, ein Mädchen und ein Junge, die vom Mann dazugeholt werden – streckenweise ähnelt das Stück des norwegischen Dramatikers Arne Lygre ein wenig jener verknappten nordischen Dramatik, in der die Redwilligkeit immer im richtigen Moment stockt und sich die Spannung aus dem Zurückgedrängten entwickelt. Wobei eben ziemlich bald klar ist, dass hier das Verrätselt-Verborgene der Keller ist, in dem der Mann seine Opfer einsperrt, die er zu sich holt, nur zu ihrem Besten und zu ihrer Heilung, wie er behauptet. Und dass es schon bald darum geht, welche Strategien die Menschen an den Tag legen, wenn sich die Dinge um einen herum verändern. Die Verschwiegenheit entwickelt sich hier auch zu einer ziemlichen Redseligkeit, jedenfalls in der Inszenierung des französischen Regisseurs Stéphane Braunschweig, der das Stück als Koproduktion von Spielzeit Europa, dem Düsseldorfer Schauspielhaus und dem Pariser Théâtre Colline inszeniert hat.

Ein Bunker als Welt

Es wirkt hier anfangs sogar wie ein Konversationsstück, so strahlend gelaunt und gut aufgelegt erscheinen Udo Samel und Claudia Hübbecker auf der grau und aschfahl beleuchteten Bunkerbühne. Ein scheinbares Liebespaar, das erzählt, wie es zusammenkam. Satz für Satz entwickelt sich die Geschichte, die natürlich viel düsterere Wendungen nimmt als die anfängliche Stimmung suggeriert. Voller kleiner Kippmomente und langsamer Veränderung, verkörpert durch das Auftauchen des Mädchens und des Jungen, das der Frau Angst macht, ahnt sie doch, "es kann alles durcheinander bringen".

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"Tage unter" © Elisabeth Carecchio

Der Bunker wird bei Lygre zur Metapher für die Welt mit ihrer Dialektik von Freiheit und Abhängigkeit, Sicherheit und Unsicherheit, Einsamkeit und Gemeinsamkeit. Und es tauchen nicht nur das Mädchen und der Junge auf. Es stirbt auch plötzlich der Entführer; der Mann, der die Ordnung bestimmt hat, der Übervater, verschwindet. Zurück bleiben drei, verunsichert und unfreiwillig sich selbst überlassen. Das alles hat bei Lygre eine diskursive Aufladung, ist auch raffiniert konstruiert. Man kann sich diesen Text atmosphärisch aufgeladen vorstellen, aber darauf zielt Regisseur Braunschweig gar nicht ab. Die Lockerheit des Anfangs wechselt mal in eine Farce, dann in den Tragödienton. Er bedient die Genres, statt mit ihnen zu spielen, fabriziert auf der Bühne Symbolismus (wenn der Mann stirbt, verwandelt sich eine Bunkerwand in ein großes offenes Fenster).

Im Samel'schen Kraftfeld

Das Licht auf der Bühne wird bunter, die Stimmen werden mal über Mikrofone verzerrter, das sind hier die Mittel der Verfremdung. Vor allem aber hält sich Braunschweig seltsam dicht an den Text, lässt selbst die Stellen, in denen die Figuren in der dritten Person über sich reden, wie einen konsistenten Teil der Gesamterzählung wirken. Das nimmt die Luft aus dem Text und enttäuscht, weil Braunschweig im Programmheft zwar umfassend aufzählt, was alles in dem Autor Lygre steckt, von dem er vergangenen Monat mit "Je disparais" in Paris bereits ein anderes Stück inszeniert hat, aber dennoch verdunkelt bleibt, was ihn an diesem Text denn genau interessiert. Oder trifft man hier nur mit inkompatiblem Blick auf die französische Theatertradition, die den Text heilig nimmt und ihre Experimente moderat anlegt?

Getragen wird der Abend von der Performance Udo Samels. Er verkörpert den Mann, der behauptet, aus Weltverbesserungsmotiven zu entführen, und Samel spielt das mit einer mächtigen Präsenz und einem Kraftfeld um sich herum, das höchst spürbar macht, wie seine Opfer seinen Ideen verfallen. Bald aber stirbt seine Figur. Und wie nun das Mädchen (Bettina Kerl) und der Junge (Daniel Christensen) kammerspielhaft um Vertrauen ringen, ist nur halb so interessant. Schon bei Lygre bleiben die Motive diffus, und Braunschweig legt es nicht darauf an, sie zu erhellen. Aber so allgemein-existenziell gehalten, sich vage an unterschiedlichen Mitteln ausprobierend, sieht man auf der Bühne nur moderat mitnehmende Entführungsfälle.

 

Tage unter (DEA)
von Arne Lygre, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie und Bühne: Stéphane Braunschweig, Mitarbeit Bühne: Alexandre de Dardel, Kostüme: Thibault Vancraenenbroeck, Dramaturgie: Astrid Schenka, Künstlerische Mitarbeit: Anne-Françoise Benhamou.
Mit: Daniel Christensen, Claudia Hübbecker, Bettina Kerl, Udo Samel.

www.berlinerfestspiele.de


Mehr zu Inszenierungen mit Udo Samel? Zuletzt spielte er in Dieter Giesings Professor Bernhardi-Aktualisierung am Burgtheater, dortselbst auch in Andrea Breths Zwischenfälle und Matthias Hartmanns öffentlicher Krieg und Frieden-Probe.

 

Kritikenrundschau

Aus Sicht von Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (19.12.2011) kommt der Abend nicht über das "gestelzte Aufdecken" eines "psychopathologischen Fehlverlaufs einer Weltverbesserung hinaus" und bleibt auch in der Konstruktion seines Grundkonflikts reichlich papiern. Nur kurz meint die Kritikerin zu Beginn daher auch, in eine Liebeshgeschichte geraten zu sein. Doch bereits das Stück selbst ist aus ihrer Sicht reichlich unterkomplex. In seiner ausgestellten Idee zur Feiheit findet sie es am Ende mindestens so verbaut wie Stéphane Braunschweigs Bühne mit der großen Mauer. Und doch entfessen sich aus ihrer Sicht in dieser Überkonstruiertheit mitunter, dank der Schauspieler, Momente fast leichten Spiels.

Ratlose Zuschauergesichter nach einem misslungenen Abend gibt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (19.12.2011) zu Protokoll. Unterirdischer als mit diesem Abend könne es bei der Spielzeit Europa wohl nicht mehr werden. Regisseur Braunschweig lasse das Stück im eigenen Bühnenbild aus klaustrophobischer Waschbetonwand mit fensterloser Mauernische werkergeben seinen Lauf nehmen. "Wie auch in die einsilbigen Stücke von Jon Fosse kann man allerhand große Themen in diese bedeutungsschwangere Blase projizieren. Oder man lässt es." Auch das Wort "Existenzialismus-Pingpong" fällt. Auch der große Udo Samel hat aus Sicht des Kritikers in diesem Debakel letztlich auf verlorenem Posten gestanden.

Bereits das Stück sei ein konstuiert wirkendes, blutleeres Hirngespinst, schreibt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (27.12.2011). Der norwegische Autor Arne Lygre umkreise vor der Folie einer klaustrophobischen Foltergeschichte die Grundfragen menschlicher Existenz. "Dass er die Suche nach der wahren Persönlichkeit ausgerechnet von einem offensichtlich Persönlichkeitsgestörten antreiben lässt, ist das Gruselige daran." Die Figuren empfindet der Kritiker als "Testpersonen in einer düsteren Versuchsanordnung". "Zügig werfen sich die Schauspieler die Sätze zu. Udo Samel ist als Folterknecht ein böse-lieber Onkel, der nur widerwillig droht, den Frauen Finger und Zehen abzuschneiden, falls sie ihn vor Ablauf einer 20-Monats-Frist verlassen wollten. Wirklich einfühlen mag er sich nicht in diese Figur; während Claudia Hübbecker die Frau hingebungsvoll zur willfährigen Komplizin aufjuchzt, die das störrische Mädchen drangsaliert." Dem Eindruck des Kritikers zufolge unterscheiden die Akteure nicht, "ob sie in der Rolle oder als deren Über-Ich sprechen. Regisseur Stéphane Braunschweig falle "auch als Bühnenbildner, nicht viel mehr ein, als die Steinmauer aus Pappmaché aufwendig zurück und vor zu schieben, bis sie die Hölle auf Erden verschließt."

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