altKomm, lass mich Deine Leere spüren!

von Wolfgang Behrens

Berlin, 18. Dezember 2011. An einem solchen Abend würde man gerne einmal ein Experiment machen. Man müsste dazu Johannes Zachers weitgehend leeren, die sterile Atmosphäre einer Flughafen-VIP-Lounge verströmenden und später nebeldurchwallten Bühnenraum mitsamt der in ihm sich abspielenden Aufführung auf eine gigantische Sackkarre packen und um anderthalb Kilometer weiter den Kurfürstendamm westwärts verschieben. Man wäre dann nicht mehr an der Boulevardbühne Theater am Kurfürstendamm, sondern im Hochkultur-Tempel Schaubühne. Wenn man nun noch den Namen des publikumswirksamen Film- und Fernsehstars aus den Ankündigungen tilgte, was würde das an der Wahrnehmung einer Inszenierung wie derjenigen Amina Gusners von Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" ändern?

Sicher, es bleibt ein Gedankenspiel, aber vielleicht ein aufschlussreiches. Der Boulevard zieht ein eigenes Publikum mit eigenen Erwartungen, und auch ohne gleich demographische Erhebungen anzustellen, wird man sagen dürfen, dass es starorientierter und amüsierwilliger ist. Die meisten sind heute Abend wohl nicht hier, um "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" zu sehen, sondern um Katja Riemann zu erleben. Und lachen wollen sie auch. Was ja alles nur legitim ist.

Feinnervige Schauspielkunst, grobnerviges Publikum?

Zum Problem wird das nur, wenn es zu überdecken droht, dass hier etwas stattfindet, das den Vergleich mit den großen Häusern der Stadt – dem Deutschen Theater oder eben der Schaubühne – mitnichten zu scheuen braucht. Was Katja Riemann (von der man ja nur zu oft vergisst, dass sie vor ihrer Filmkarriere ein veritables Ensemblemitglied des Berliner Schiller-Theaters war) und Peter René Lüdicke als seelenstrippendes Professoren-Ehepaar Martha und George an feinnerviger Schauspielkunst entfesseln, das ist auch in einer Theatermetropole wie Berlin nicht alltäglich.

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© Johannes Zacher

Wenn aber einige Zuschauer das bloße Erwähnen eines Drinks mit wohligem Gelächter goutieren oder auf ein erhobenes Glas hin selbst mit einem "Prost" herausplatzen, haben es gefährlichere und abgründigere Zwischentöne schwer. Man meint dann mitunter nicht im falschen Film, sondern im falschen Kino zu sein (auch wenn, zugegeben, Albees Stück ja wirklich enormen Witz hat, aber eben nicht nur).

Entgleiste Partygänger

Doch genug, kommen wir zum eigentlichen Gegenstand! Wer in Berlin "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" spielt, der setzt sich – zumindest im Jahre 2011 – nahezu zwangsläufig dem Vergleich mit Jürgen Goschs sieben Jahre altem Geniestreich am Deutschen Theater aus. Waren Corinna Harfouch und Ulrich Matthes dort zwei existentiell verletzte Schmerzensmenschen, so ist der Akzent in Amina Gusners Inszenierung deutlich verschoben. Martha und George sind bei Katja Riemann und Peter René Lüdicke zuerst einmal entgleiste Partygänger, die ihren späten Gästen, dem jungen Biologiedozenten Nick und seiner "Süßen" (Karim Cherif und Anne Haug), eine beeindruckende Ehehöllen-Show bieten. In beiden Protagonisten stecken hier jederzeit auch Entertainer, die mit ihren Zynismen und Krassheiten um die Aufmerksamkeitsgunst der jungen Leute buhlen.

Riemann und Lüdicke füllen diese Figurenanlage mit stupender Virtuosität: Sie versteht es immer wieder, mit großartiger Schnell- und Spannkraft ihren ins rote Partykleid attraktiv gewandeten Körper in Positur zu bringen, um dann aus den verführerischsten Haltungen heraus eiskalte Spitzen zu setzen. Er dagegen agiert mit einer aufreizend ironischen Lässigkeit. Lüdicke gelingt es so, seinem George das reine Versager-Schicksal, das der Rolle oft anhaftet, zu ersparen: Indem an seiner sarkastischen Außenseite fast alles von Marthas Boshaftigkeiten abperlt, wird er zu einem überraschend starken Widerpart, wenn nicht gar zum eigentlichen Motor der Konversationsschlacht.

Die Leere hinter den Figurenfassaden

Weil Riemann und Lüdicke die Fassaden ihrer Figuren so brillant auszustellen vermögen, wirkt deren In-sich-Zusammenfallen umso erschreckender. Wenn das schwindelerregend reaktionsschnelle, mitunter raffiniert überlappende Hin und Wider der Repliken gegen Ende zu den neuralgischen Punkten, den tatsächlichen Traumata von Martha und George vorstößt, dann nehmen sowohl Riemann als auch Lüdicke das Tempo heraus und lassen ihr Spiel plötzlich gewissermaßen ins leere Innere ihrer Figuren kippen. Der finale Zusammenbruch Marthas ergreift dabei von Katja Riemann derart eindringlich Besitz, dass er noch beim Schlussapplaus in ihrem Körper nachzittert. Man kann es nur wiederholen: Ein so intensives Schau- und Zusammenspiel ist nicht jeden Tag zu erleben.

Und was das anfängliche Gedankenexperiment betrifft: Die Aufführung wandert im Januar weiter an das koproduzierende Centraltheater Leipzig. Und das zumindest steht ja nicht im Ruf des Boulevards.

 

Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
von Edward Albee
Deutsch von Alissa und Martin Walser
Regie: Amina Gusner, Bühne: Johannes Zacher, Kostüme: Inken Gusner.
Mit: Katja Riemann, Peter René Lüdicke, Anne Haug, Karim Cherif.

www.komoedie-berlin.de

 

Kritikenrundschau

In der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel (20.12.2011) schreibt Patrick Wildermann: Das Paar Lüdicke und Riemann sei in den "Minenfeldern des vergifteten Miteinanders" erfahren, die Erwartungen stünden vorher auf "lustvoll böse und bissig gut". Amina Gusner nun erfülle jedoch nicht gleich die Erwartungen an das "gut abgehangene Schauer-Stück der gefrorenen Gefühle". Das abstrakte Setting von Johannes Zacher mache es den Schauspielern nicht leicht, auf "Albees pychorealistische Höhe der Kunst abzuheben". Das "Freiflächenspiel" erinnere an Jürgen Goschs "Virginia Woolf" am Deutschen Theater, nur bedeute ein abstrakter Raum in der "unsubventionierten KudammBühne ein Wagnis". Das fordere bereits Respekt ab. In der ersten Hälfte setze Gusner auf "Unterspannung und Überzeichnung", auf "frivole Körperkomik und Slapstick mit Schnaps". Bloß keine "bequeme Einfühlung ins Kampfgeschehen!" Nach der Pause gewinne die Inszenierung "schärfere Kontur". Auch bei Albee gehe es da "ans Mark der Lebenslügen". Katja Riemann und Peter René Lüdicke spielten das "hervorragend" – sie als "rabiat verletzende Kratzbürste mit Restliebe im hintersten Herzen", er als "vom Selbstekel fast erstickter Ex-Hoffnungsträger seiner selbst".

Auch Christian Rakow in der Berliner Zeitung (20.12.2011) zieht den Vergleich zu Jürgen Goschs Inszenierung: "Man hätte nicht unbedingt erwarten dürfen, dass im Theater am Kurfürstendamm die hohe Messlatte auch nur annähernd in Sichtweite kommt." Kam sie aber doch, es handele sich schlicht um eine "Wahnsinnsleistung". Mit Amina Gusners "kühler Ausleuchtung" der "Virginia Woolf" werde man sogar "ästhetisch erschüttert", ohne dass das Kudammtheater dabei seine Identität verleugnen müsse. Katja Riemann sei eine "ungemein wache, reiche, elegant psychologisierende Bühnenschauspielerin". Selbstverliebt tänzele sie als Martha umher und demütigte ihren Gatten "eher schnippisch als vordergründig boshaft". Peter René Lüdicke, "Theatervollblut mit eingeborenem Stehaufmännchen-Naturell", sei ein Schauspieler, der "tiefe Abgründe" auftue, wenn er "scheinbar nur unbeschwert herumspaßt". Die erste Hälfte hebe in einem Wartesaal-Ambiente artifiziell an, gelegentlich träten die Spieler "wie auf einem Laufsteg zu einer Formation zusammen und kokettieren mit dem Showeffekt". Die zweite Hälfte werde "markerschütternd", die Geschichten "existenzieller, todestrunkener. Der läuternde Humor ist fort."

Das "geile Wundenhacken, das beherrscht unser erfolgsverwöhntes Hochleistungstheater-Starduo Riemann-Lüdicke", schreibt Reinhard Wengierek in der Berliner Morgenpost (20.11.2011). Aber ihre Darstellung bleibt für den Kritiker nicht im Virtuosentum stecken, sondern lässt zwei eindrückliche Figuren entstehen: Martha und George. "Die beiden geradezu gespenstisch, aber auch rührend aneinander klebenden Schlachtrösser rücksichtsloser Desillusionierung und also Lebenskraftvernichtung fackeln unter Amina Gusners subtil erhellender Regie, die einer spektakulären Versuchsanordnung gleicht, nicht bloß jenes Pointenfeuerwerk ab, für das der Sex-Suff-Schlagmich-Thriller so berühmt-berüchtigt ist. Sie drehen zwar auf, aber eben auch immer wieder weg von der Psycho-Nummernoper gefällig anrüchigen Edel-Entertainments." So ließen ihre Kämpfe auch eine "Sehnsucht nach Liebe, die da flüchtig emporsteigt ins Angst machende Dunkel", enstehen.

"Nur ein paar Stühle und leere Schnapsflaschen, mehr braucht Regisseurin Amina Gusner nicht, um die wohl berühmteste aller Eheschlachten in Szene zu setzen", bemerkt Claudia Euen in der Sächsischen Zeitung (20.1.2012). Dabei brilliere Peter René Lüdicke noch mehr als der Star Katja Riemann "in seiner Ambivalenz aus Ergebenheit und Aufbegehren".

"Katja Riemann beweist an diesem Abend, dass sie Theater im Blut hat", findet hinegen Nina May in der Leipziger Volkszeitung (20.1.2012). Lüdicke sei ihr ebenbürtig. "Wie diese beiden sich gegenseitig den Respekt verweigern und ihn sich im Spiel doch immer wieder erarbeiten, übt hypnotisierende Anziehungskraft aus." Allerdings fehle dem Abend die scharfzüngige Geschlechterkritik anderer Gusner-Inszenierungen.

Gekonnt ordinär und zuverlässig sieht Ralph Gambihler für die Leipziger Freie Presse (20.1.2012) das Albee'sche Professorenpaar als Würgeengel durch das Reich der Illusionen über die Liebe wüten - ohne diese freilich gänzlich zu vernichten. Die gute gebaute und sich durch solide Schauspielerführung auszeichnende Inszenierung sei nah dran an Albee, würze mitunter "boulevardesk" nach, was auch kein Schaden sei. Katja Riemann überzeugt den Kritiker als vernichtend vitales Alphaweibchen. Die spannendste Figur jedoch ist für ihn Peter René Lüdeckes George, den er als "raffinierte Mischung aus Schmerz und Schlagkraft" empfand.

Kommentare  
Wer hat Angst …, Berlin: Nachricht von der Konkurrenz
Gestern am DT: Noch immer endlos schmerzhaft gut. Unfassbar. Und ein Leuchtturm in der Berliner Beliebigkeit.
Wer hat Angst..., Berlin: kein Stück häufiger gesehen
Na, das könnte klappen mit meinem Sachsenaufenthalt, daß dann gerade dieser Abend in Leipzig läuft. Kein Stück habe ich häufiger gesehen als dieses; was mich daher ein wenig verwundert an der Kritik von Wolfgang Behrens, ist, daß er die Gegenspielmöglichkeit des George-Partes hier so erstaunlich findet: ich empfand jedenfalls noch bei jeder Inszenierung (noch am wenigsten seinerzeit in Dresden), eigentlich auch bei der legendären Verfilmung, die George-Rolle als die dankbarste, währenddessen es ein eigenes Kunststück ist, mit dem Biologiestudenten aus dem Kernschatten des Stückes herauszutreten -ähnlich geht es mit dem zuhörenden Part in Albees "Zoogeschichte", der schnell, von der dominanten Rolle überfahren, zum bloßen Ansprechpartner zu schrumpfen droht-(eigentlich kam bisher kein Theater-Biologiestudent an den Film heran für mich). Sehr stark war die Honey von Rebekka Indermaur in der ohnehin starken Lübecker Version (2005/2006), welche einen Vergleich mit der DT-Version in Berlin tatsächlich auch nicht scheuen mußte. Vielleicht klappts ja in Leipzig !
Wer hat Angst …, Berlin: psychologischer Vorteil
Lieber Arkardij Zarthäuser, ich meinte im Falle Georges auch nicht die Dankbarkeit der Rolle, die ist in der Tat immer gegeben (und die Figur ist auch - wie Sie zu Recht sagen - weit dankbarer als die des Nick), sondern ich meinte innerhalb des Stücks einen psychologischen Vorteil, den Lüdicke seinem George gegenüber anderen Rolleninterpreatationen (und gegenüber Martha) erkämpft. Ich will aber auch gar nicht ausschließen, dass ich selbst George bislang etwas zu schwach gelesen habe, zu sehr auf der Opfer-Seite, und nun durch diese Aufführung eines Besseren belehrt worden bin.
Virginia Woolf, Berlin: George gegen die Technokratie
Sehr geehrter Herr Behrens, ja, für mich stimmt das sowohl als auch,
sowohl als "Schauspielerfutter" als auch -wie Sie es nennen- "psychologisch" (ich denke, daß auch "moralisch" sehr gut in Frage kommt). Für Skeptiker des Stückes ist das ja fast eine "idealistische Männerphantasie": diese Schlußaktivität Georges "Flores, flores" ! Nun, ich mag das Stück ausdrücklich, selbst wenn ich bei Albee den Hang sehe, die "Gegenposition", hier könnte man vom "pervertierten Amerikanischen Traum" sprechen (und ist vormals ja auch gesprochen worden), geradezu an die Wand zu spielen (fast wie es irgendwo über Belinski steht "Was halten Sie vor meiner Argumentation ?" "Gut, aber ihr Gegenüber ist sichtlich ein Idiot,
was machen Sie da lange Worte ?!!). Dieses Spiel gegen die Technokratie bleibt natürlich im Stück ein großer Trumpf für George. Als Lesedrama könnte der Effekt noch auftreten, das gegen George zu wenden: "Schön, wie Du hier Worte findest, aber Du hast doch die besten Voraussetzungen, wie Martha sagt, wie bist Du so an den "Rand der Gesellschaft" geraten". Aber, wenn der "Zuchtbulle" dann erst einmal selbstzufrieden-selbstverliebt, die Gene der Zukunft im Sack tragend, auf George losstampft, geht das halt zumeist anders herum aus: wir sehen eher, daß es an der Zeit ist, nicht alles, was sich so durchsetzt, mit Heiligenschein zu versehen ("Alles Wirkliche ist vernünftig"), und sind dann auch eher geneigt, in Marthas Ansprüchen "uferlose weibliche" Komfortgedanken zu wittern: Wir ? Naja, ich denke jedenfalls, daß das Spiel dann für George ausschlägt, was als Lesedrama möglicherweise sogar gestützt dadurch, instinktiv ein wenig die weibliche Position zu stützen (zumindestens als männlicher Leser, der wohlgar noch hörte, daß bei Albee irgendwie die "männliche Position" bessere Karten hat ...), eher andersherum tendieren mag.
Es wäre natürlich spannend, sich die Frage zu beantworten, was dieses Drama, im nächsten Jahr wird es 50, heutzutage so sehr im Zentrum der Spielpläne unserer Gesellschaft verankert ? "Lacher an unmöglichen Stellen" mögen vielleicht auf Männer deuten, die bei Albee und dem "Siegeszug Georges" neue Kräfte sammeln "lernen" und auf Frauen, die sich an einem Drama erfreuen, in dem eine Frau es schafft, ihren Mann zu schöpferischem Handeln und "Mitihrreden" zu bewegen. Was die Läuterung am Schluß angeht, darf man da heute wohl getrost ein wenig skeptisch sein, sich an Polanskis Schluß von "Der Gott des Gemetzels" erinnernd, das Grinsen des feisten Hamsters am Tag danach, das geteilte Handy neuer Kindheitsfreunde. Wenn Albee im Haus der Heddas und Noras dann doch nicht landen kann, und das imaginäre Ufo dann doch wieder 150 Meter weiter gen Gedächtniskirche zieht, so hat es wohl doch ein wenig den Kudamm zum Broadway gemacht an dieser Stelle..
Virginia Woolf, Berlin: Dank für treffende Worte
Herr Behrens, saßen Sie am 07.01. zufällig im mittleren Bereich 7.,8.,9. Reihe? Denn Sie erwähnen detailliert genau unsere Erfahrungen mit dem Publikum. Da es sich um einen meiner ersten Theaterbesuche meines noch recht jungen Lebens handelte, war ich mir nicht sicher, ob die Art des akkustischen Teilhabens durch einzelne Besucher, der ergreifenden Inszenierung geschuldet waren, oder es sich lediglich um die falsche Vorstellung für dieses Publikum handelte? Das lautstarke verbale Eingreifen durch unseren Sitznachbarn ("Lassets Euch schmecken") hat zu einem nie dagewesenen Fremdschämen geführt. Der fehlende Applaus durch diesen und weitere Herren, ist sicherlich zulässig, aber auch Ausdruck dafür, dass Teile des Publikums hier in Ihrer Wahl der Abendunterhaltung grandios danebengegriffen haben.
Daher vielen Dank für Ihre treffenden Worte, die mir nun ein besseres Gefühl geben, wenn ich auf die tolle Inszenierung zurück blicke.
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