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(K)ein Weg ins Leben

von Hartmut Krug

Berlin, 18. Dezember 2011. Zuerst einmal ist da die Sprache. Eine realistische Kunstsprache, eine Alltagssprache. Knapp, sinnlich spröd. Pointiert, manchmal sinnbildhaft, aber nie zum Klischee gerinnend. Und mit Zwischenräumen, wo die Zeit still steht und die Gedanken ins Heute spazieren. Es ist eine Lust, Georg Seidels Theatertexte zu lesen. Weil da jemand die Welt erfasst mit seinen Fragen und sie bannt mit der Sinnlichkeit seiner Sprache. Kein cooler Fließtext, keine offene Textfläche, sondern Menschentheater. Nicht DDR-Theater, auch wenn der 1990 verstorbene Georg Seidel seine Texte aus den und gegen die Erfahrungen seiner Gesellschaft schrieb. Und die hieß nun einmal DDR. Weshalb Seidels Stücke nach der Wende kaum noch gespielt wurden. Dabei wurzeln seine Parabeln, die sich am realen Realismus rieben, stets in den allgemeinen Fragen jeder Gesellschaft.

Jochen Schanotta sucht seinen Weg ins Leben. "Immer war er vorneweg, Vorbild, kein Grund zur Klage", sagt sein Lehrer. Doch dann. Dann will er sein Leben, sich selbst finden, will wissen, wie er wirklich leben kann. Schon in Schanottas Umformulierung eines realsozialistischen Spruches stecken Sprengkraft und Beschränkung zugleich: "Der Mensch ist der Mittelpunkt aller Dinge. Ich."

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"Das Leben ist schön. Fangen wir an. Komm." Kathleen Morgeneyer (Klette) und Andreas Döhler (Schanotta)   © Arno Declair

In der Zwangsfalle des Funktionierens

Ein Kämpfer vermag er nicht zu sein, aber ein Suchender. Ernsthaft und verzweifelt, aber auch hilflos, sich aufreibend. Nie aber so äußerlich munter wie Plenzdorfs Edgar Wibeau. Wenn der kraftvolle, zuweilen etwas zu energische Schauspieler Andreas Döhler, der seinen Schanotta wunderbar zwischen Aufbruch, Anspruch und Verzweiflung schwanken lässt, dessen erste Erinnerung an kindliche Domestizierung zur Uniformität gleich dreimal erzählt, einmal humoristisch thüringisch, dann heftig empört und schließlich still in sich ruhend, dann wird in seinem dem Text hinzugefügten Fazit ein Thema der Aufführung deutlich: "Man hätte das nie mitmachen dürfen."

Schanotta fliegt von der Schule, lernt Klette kennen und irgendwie auch lieben, zieht mit ihr rum und später bei ihr ein, versucht vergeblich wieder auf die Schulbank zu kommen, scheitert auch an der Werkbank und wird schließlich von der Wehrpflicht eingefangen. Gut, die Wehrpflicht gibt es nicht mehr. Und auch "alles mit Draht umwickelt, das Land, damit's nicht auseinanderfällt" (ein Zitat, das neben anderen die staatliche Kampagne gegen das Stück und eine das Stück verfälschende Uraufführung 1984 am Berliner Ensemble zur Folge hatte), das spielt keine Rolle mehr.

Doch das Eingesperrtsein in der Zwangsfalle des Funktionierens, das Frank Abts konzentrierte und spielerisch lockere Inszenierung verdeutlicht, das kennt man auch in der neuen, realkapitalistischen Gesellschaft. Was da im Stück auf die DDR gemünzt ist, wischt das tolle Ensemble beiseite. Es zeigt Menschentheater. Nicht Jugendtheater, denn alle sind hier aus einer Generation. Grandios die Szene, in der zwei Männer von einem Film erzählen und dabei ihre eigene Situation becketthaft charakterisieren. Dazu stellen sich die Schauspieler in einer Reihe vor das Publikum und erzählen den Film. In dem haben zwei Männer nur gesoffen, sonst ist nichts passiert, und es war meist nichts zu sehen: "Das hat mich beeindruckt."

Gibt es ein richtiges Leben im falschen?

In den Kammerspielen des Deutschen Theaters sitzt das Publikum auf der Bühne und schaut auf eine Spielanordnung. Die Schauspieler treten aus einer Stuhlreihe am Bühnenrand vor das Publikum. Während sie uns etwas erzählen, wechseln sie ins Vorspiel. Eine Wand im offenen Raum, auf der einen Seite die Mutter, auf der anderen Schanotta: so werden eine Beziehung und eine Situation benannt. Kabarett gibt es hier nicht, nur stillen Humor, wie in der Musterungsszene. Und tolle Schauspieler, allesamt. Herrlich, wie unaufgeregt und präzise Natalie Seelig Schanottas Mutter spielt, eine Frau, die für sich sorgt und die sich um den Sohn sorgt, die sich eingerichtet hat und den Sohn schützen, aber nicht einsperren will. Und Kathleen Morgeneyer spielt eine Klette, die beweglich ist, von innen leuchtet und zugleich von ihrem Leben und ihrer Arbeit pragmatisch sagt, "Das ist besser als nichts". Vereinzelt ist auch sie, doch immerhin etwas bei sich. Und sie kämpft, für sich und um Schanotta. Sie stellt, so der Regisseur im Programmheft, eine der Kernfragen des Stücks: Gibt es ein richtiges Leben im falschen?

Frank Abt hat den Text meist geschickt bearbeitet. Nur dass er die Szene, in der eine Arbeiterin auf einer sich drehenden Werkbank für ihre Kollegen eine Peepshow vorführt, von Klette spielen lässt, passt nicht zu Figur und Stück. Schön dann wieder die Vertauschung der Schlussszenen: erst die milde Albtraumszene, in der Mutter und Lehrer den zum Militär gehenden Jochen in ein Kleinstuben-Idyll mit Blümchentapete und Toaster stoßen, dann dessen Traumerzählung von Tod und Sarg, und sein letztes Wort: "Schweigen."

Man konnte Angst haben, dass das Stück eines Autors, der zwölf Jahre am Deutschen Theater arbeitete, erst als Beleuchter, dann in der Dramaturgie, nur zur geschichtlichen Aufarbeitung benutzt werden würde. Doch Frank Abts Inszenierung geht respektvoll um mit Seidels "Jochen Schanotta" und entdeckt es für uns als aktuelles Zeitstück. Respekt.

 

Jochen Schanotta
von Georg Seidel
Regie: Frank Abt, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Marie Roth, Licht: Henrike Elmiger, Dramaturgie: Meike Schmitz.
Mit: Andreas Döhler, Natali Seelig, Daniel Hoevels, Kathleen Morgeneyer, Thomas Schumacher, Simon Brusis.

www.deutschestheater.de




Kritikenrundschau

Auf der Webseite von Deutschlandradio Kultur (18.12.2011) schreibt der ehemalige stellvertretende Chefredakteur von Theater der Zeit, der damaligen Zeitschrift des Theaterverbandes der DDR, Volker Trauth: Seidel wähle für sein Drama das "Labyrinth" als "dramatischen Raum", einen "Raum der Stagnation", in dem sich der Held im Kreise drehe, herumirre und keinen Ausgang finde. "Diesen dramatischen Raum will die Fassung des Deutschen Theaters erhalten." In der "Ausweglosigkeit", in dem "vom Helden empfundenen Stillstand", im "vergeblichen Suchen nach dem eigenen Zentrum", in der "Unveränderbarkeit der Verhältnisse" und im "Verlust des 'Wir-Gefühls' sehe das Regieteam um Frank Abt das "über die DDR Hinausweisende" dieses Stücks. Weil viele im Original noch ausgespielte Situationen nur berichtet würden, gebe es einen "Verlust an dramatischen Auseinandersetzungen" und die Figuren neben Schanotta gewönnen kaum Profil. Der Regisseur sehe im Stück kein "Jugendstück", der Held sei ein Mann um die 30, die anderen gleichaltrig. Statt eines "Generationskonflikt " stelle eine Gruppe von gleichaltrigen Schauspielern ein selten gespieltes Stück vor, einige Texte des Helden würden auf sechs Darsteller aufgeteilt. Andreas Döhler begegne dem "emotionalen Dauerdruck" seiner Figur Jochen "mit einer bewussten Vielgestaltigkeit des darstellerischen Ausdrucks". - "Insgesamt eine Inszenierung mit Licht und Schatten".

In der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau schreibt Ulrich Seidler (20.12.2011) in einer sehr lesenswerten Kritik: Schon der erste Satz reiße den Puffer zwischen DDR und Gegenwart weg: "Man hätte das nie mitmachen dürfen." Es sei dies ein Ruf aus einer "übellaunigen Zeit, in der alles stagnierte, sich hoffnungslos verbohrte und abwärts spiralte: ... Die Hoffnung auf den Zusammenbruch keimte gerade erst. Es ist ein Ruf von gestern, er trifft ins Heute." Die Diktatur sei untergegangen. Habe deswegen das "Misstrauen gegen das 'Mitmachen' heute an Dringlichkeit verloren?" Jochen Schanotta sei "ein Verweigerer, ein Bartleby", das Gegenteil eines Mittäters. Wie der "großartige" Andreas Döhler funkele. "Welche Kraft und Wildheit, wenn er die Arme hochreißt. Hier bin ich! Nehmt mich! Lasst mich! Ihr könnt mich mal!" Und dann, die Zurechtstutzung und Erschlaffung, wenn er das Unterhemd in den Schlüpfer stopfe, die Hose über den Bauchnabel ziehe, sich Haare ordentlich anklebe.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.12.2011) schreibt Irene Bazinger: Vom "allgegenwärtigen Repressionsapparat" sei in den Kammerspielen, wo Franz Abt das "systemkritische Jugendstück" von Georg Seidel inszeniere, "nichts zu sehen". Bei Andreas Döhler sei Schanotta ein "maulender, unfroher Rabauke, der zwischendurch ungeniert das Publikum anpöbelt". Ansonsten halte die Inszenierung "eher auf Distanz", lasse die Darsteller die Regieanweisungen mitsprechen und "penetrant darauf hinweisen", dass sie Theater spielten. Diese "gestische Süffisanz" kaschiere "freilich" nicht, dass "Franz Abt offenbar mit der Vorlage recht wenig anzufassen wusste". Der Regisseur sei von diesem "renitenten, rotzigen Außenseiter" überfordert.

"Überwältigend schöne, fantastische Bilder, dunkel und vieldeutig" gäbe es in dem Stück, preist Christoph Funke im Tagesspiegel (21.12.2011). In den Kammerspielen sei der Raum aufgehoben, dennoch entstehe "eine faszinierende Lebendigkeit, gerade im Ungesagten, Angedeuteten". Nicht nur die innere Verfasstheit des Helden Schanotta tue sich auf, auch die anderen Figuren blieben verstörend in den Beklemmungen einer falschen Welt gefangen. "Döhlers Schanotta zieht auch die Wahrheiten dieser Figuren ans Licht, ihre Hilflosigkeit, ihren Charme, ihre tapfer versuchte Ehrlichkeit, ihr böses Versagen. Und es gibt hinreißend vitale Szenen wie den Glücksrausch der Liebenden, einen Tanz der Entgrenzung, Menschsein und Tiersein ineinanderreißend."

"Jochen Schanotta" sei keine allein auf die DDR gemünzte Geschichte, sondern eine, die ganz grundsätzliche Fragen stelle, schreibt Esther Slevogt in der tageszeitung (21.12.2011): "Wie kann und soll man in dieser heillosen Welt überhaupt leben?" In einer der schönsten Szenen des Abends tobten Kathleen Morgeneyer und Andreas Döhler ausgelassen umeinander herum - in alten Pelzmänteln, die als Bärenverkleidung dienen. "Immer wieder verschlingen sie sich gegenseitig, werden wilde Umarmungen zur erstickenden Umklammerung. Spaß und Ernst sind bedrohlich ununterscheidbar, wie die berühmten Küsse und Bisse bei Kleist. Doch ein Entkommen gibt es nicht."

Frank Abts angenehm unaufgeregte Inszenierung "ist ein Blick zurück in die marode DDR der achtziger Jahre und der Versuch, im Zeitstück von damals ein auch jenseits der historischen Situation gültiges Muster von Verweigerung gegenüber den Zumutungen der Sachzwänge einer durchgeregelten Gesellschaft zu entdecken", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (28.12.2011). Die Inszenierung male ein kurzes Glück aus, "wenn sich die Verliebten Pappkronen aufsetzen, als wären sie jetzt die Herrscher aus eigenem Recht in ihrem privaten Königreich der Liebe, endlos weit weg von der grauen DDR." Sie hören Mozart, lassen sich von Konfetti beregnen, ziehen gut gelaunt am roten Theatervorhang: "Ein Parallelreich wie die Kunst. Das ist naiv, aber auch rührend sympathisch und von Abt schön kitschfrei erzählt."

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