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Polyneikes, Parsifal und alle anderen

von Andreas Wilink

Köln, 21. Dezember 2011. Die vier gut angezogenen Herren langen ordentlich hin und schlagen alles kurz und klein, während eine junge Frau versonnen die Bruchstücke betrachtet, eine zweite den Stammbaum der Labdakiden an die rückwärtige Seite der Kölner Schauspiel-Schlosserei malt und dazu melodramatisch Musik aufschäumt. Wenn alle Wandteile demoliert sind, bleiben nur kantige schwarze Säulen (Bühne: Susanne Münzner) einer Familiengruft, zwischen denen Trümmerfrauen und Trümmermänner Tragödie spielen.

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"Was habt ihr gemacht, mit unserer Erde?"
© Sandra Then

"Wir Kinder von Theben" heißen hier die Erben der "Phönizierinnen" des Euripides: Es ist die Drachensaat der fluchbeladenen Söhne des Vatermörders und Mutterschänders Oedipus, die einander vor Theben zum Bruderkrieg treffen. Ein Geschlecht am Scheideweg, wie damals, als der nach seiner Geburt ausgesetzte Sohn den König Laios, seinen Erzeuger, erschlug. Oedipus nahm danach seine Mutter Iokaste zur Frau, die im Prolog die grausige Geschichte vorträgt und mit lang anhaltendem Schrei Zeus anruft.

Euripides mit Occupy-Charme

In dem "Wir" steckt eine Aussage, ob als Abgrenzung und Aufforderung oder – gegenteilig – als Fortsetzung und in Nachfolge. "Wir Kinder von Theben" könnte den Generationen-Konflikt meinen, ein "Was habt ihr gemacht mit unserer Welt, die ihr als verbrannte Erde hinterlasst?", und würde den Wille zum Wechsel und Mut zum Nein propagieren. Man hörte dann die Warnung mit, Ressourcen zu schonen, sich zu bescheiden und der biblisch ähnlich formulierten Mahnung bewusst zu sein: "Ein Tag macht den Begüterten zum Bettler."

Euripides – Occupy-bewegt. Bei dem griechischen Dichter verlieren Göttergewalt, Schicksalsmacht, religiöse und staatliche Dogmen ihren Absolutheitsanspruch. Der Mensch stellt Fragen. Das zeichnet den – vergleichsweise – spätgeborenen Euripides aus, der das Heroische vor 2500 Jahren brach, um psychologische Mechanismen in den Bruchstellen zu finden, das Individuum in seiner Beschädigung zu etablieren und den Zusammenhang von "Eltern, Kind und Neurose" zu stiften, um es mit dem vor wenigen Tagen gestorbenen Horst-Eberhard Richter zu sagen. Das ist ziviler Ungehorsam gegenüber der Militanz des Mythischen. Wo Dunkel herrscht, soll das Licht angeknipst werden, um Obskurantismus auszulöschen und Erkenntnis, Vernunft, Sinn und Maß zu fördern. Wie bei einem Palimpsest liegt solche Lesart unter der antiken Urschrift.

Rührende Ersatzhandlungen

Nach 90 Minuten hat Robert Borgmann diese Möglichkeit vertan und für prätentiöse Attitüden geopfert. In ungebändigter Ideenlust inszeniert er (keineswegs zwingend) absichtsvoll viel und intensiv, arrangiert Bewegungsbilder in langen Fluchtlinien und um die Ecken herum, produziert angestrengt körperliche Aktionen, symbolische Handlungen und rührende Ersatzhandlungen, alberne Posen und  ironisierende Intermezzi. Es wird geschichtet (Äste, Steinfliesen) und geschuftet, geplanscht (in tödlichem Wasserballett), auf der Stelle getrippelt (Antigone), extemporiert, chorisch geflüstert (wozu Teiresias als zartes Kind die Lippen bewegt) und demonstrativ modelliert: ein lebendes Heldendenkmal der toten Sippe.

Polyneikes – aus der Heimat verbannter, vaterlandsloser Geselle und nun vor der siebentorigen Stadt, um sie zu verwüsten – wird mitmal "Parsifal" gerufen. Also mit dem Namen jenes törichten Gralssuchers, der ebenfalls vaterlos aufwuchs und Schlimmes anrichtete, bevor er geläutert das Heil fand. Ganz moderner Mensch, fühlt Polyneikes sich um seine "Redefreiheit" betrogen und jagt dem Gelde nach. Bruder Eteokles wiederum spricht, als rezitiere er Büchner mit einem von Dantons Gefährten, wenn er fordert: "Weg mit einer Gesellschaft, die der toten Aristokratie die Kleider ausgezogen und ihren Aussatz geerbt hat!"

"Die Nacht schnarcht über der Erde"

Renato Schuch und Carlo Ljubek geben sich lässig und verhandeln geschäftsmäßig, als müsste eine feindliche Übernahme vorbereitet bzw. abgewehrt werden. Ihrer Mutter (Julia Wieninger) ist engagiert emotional und von natürlicher Autorität, so dass die Söhne wie zwei dumme Jungs mit hängenden Schultern dastehen und die Rebellion zur Regression schrumpft.

Die Text-Fassung von Borgmann und der Dramaturgin Sybille Meier klingt an manchen Stellen seltsam salopp ("Da haben wir den Salat"), verwächst sich schief poetisch ("Die Nacht schnarcht über der Erde...") und franst anachronistisch aus. Etwa wenn Kreon (Yorck Dippe, der wie ein trauervoller Schubert oder Schumann gelegentlich sinnend am Klavier steht) über den Weg einer Gewehrkugel ins Innere eines Menschenkörpers räsoniert. Und sie legt sich aktuell ins Zeug: "Auf allen Seiten zeigt unsere Gegenwart das bunteste Parteigewühl". Zwei Boten hospitieren zudem wie Max und Moritz in der Maske von Freud und Marx, um so die beiden großen Bewegungen der Neuzeit, die bürgerlich-psychologische und die materialistisch-proletarische, ins Spiel zu bringen. Man tut schlau und ist am Ende doch nur ästhetisch, wenn sieben wie von Balthus gecastete Jungfräulein in Weiß malerisch niedersinken und Blut spucken.

Eine talentierte Veranstaltung, würde sie nicht zu sehr mit der Darstellung eben dieses Talents beschäftigt sein.


Wir Kinder von Theben
nach "Die Phönizerinnen"
von Euripides in den Übersetzungen von Dietrich Ebener und Friedrich Schiller
Regie: Robert Borgmann; Bühne: Susanne Münzner; Dramaturgie: Sybille Meier
Mit: Yorck Dippe, Marina Frenk, Orlando Klaus, Jpke Lefherz/Rosa Wilms-Posen, Carlo Ljubek, Renato Schuch, Julia Wieninger.

www.schauspielkoeln.de


Mehr über den Regisseur Robert Borgmann finden Sie im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Man fühle sich angesprochen und gemeint, vor allem dank des alerten Trios Julia Wieninger, Carlo Ljubek und Renato Schuch, die von aalglatt zu tief erschüttert wechseln können, schreibt Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (23.12.2011). Ihr Auftritte sind so vielstimmig wie eindringlich. Manches Mal greift Borgmann zu tief ins Regie-Nähkästchen. "Aber man spürt, dass es ihn gedrängt habe zu diesem Aufschrei der Jungen gegen die vorgefundene Dreckswelt."

Gewalt sei von Anfang an präsent in Borgmanns Inszenierung, und sie gehe nicht von U-Bahn-Schlägern aus, sondern von Karrieretypen, wie jene, die morschen Finanzsysteme für ihre Vorteile nutzen, so Thomas Linden in der Kölner Rundschau (23.12.2011). "Dieses Theben ist eine Stadt, die wir alle kennen", in der sich niemand mehr ums Recht schere. Fazit: "Eine interessante Inszenierung, die dem Thema der Verschmelzung von Macht und Gewalt auf der Spur bleibe."

Bei Borgman klopfen und treten "vier Herren in Business-Anzügen" Gipskartonwände ein, beschreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen (29.12.2011) – "Banker, die ganz andere Zerstörungen anrichten (können) als gewöhnliche Schläger." Der Regisseur aktualisiere das antike Drama "nicht bedingungslos, sondern stellt es ins Zwielicht und hält die Distanz in Bewegung. Spielt, umspielt und verspielt es." Er lasse seiner "Assoziations- und Zitierwut freien Lauf". Momentweise blitzten dabei "aktuelle politische Konstellationen und Ausweglosigkeiten auf. Immer wieder aber verheddert sich die Inszenierung in ihren überbordenden Einfällen." Das sei "Antike, querbeet". Bergmann verliere Euripides im Verlauf "immer wieder aus den Augen". Aber gleichzeitig "mit einem intensiven, spielfreudigen Ensemble auch angedeutet, wie weit er bei genauerer Draufsicht mit ihm kommen könnte".

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