alt

Tödliches Dreieck

von Michael Stadler

München, 21. Dezember 2011. Die Geometrie der Gefühle ist bekanntermaßen simpel und einsichtig: Während es beim Dreieck kompliziert wird, steht der Kreis für Harmonie. Nur findet der Blick am Runden keinen Halt. Es gibt keine Stabilität an der nach Außen gewölbten Oberfläche eines hochragenden, schwarzen Zylinders, der als eine Art Geheimnis-Silo flächendeckend auf der Bühne des Residenztheaters steht. Irgendetwas verbirgt sich in seinem Inneren, die Wissbegierde kratzt am Äußeren.

gyges_280h_tiborbozi_u
Stefan Konarske ist Gyges     © Tibor Bozi

Das Spiel um Verbergen und Offenbaren machen Nora Schlocker und ihre Bühnenbildnerin Jessica Rockstroh visuell geschickt auf, am neugierigen Blick wird sich die Tragödie in Friedrich Hebbels "Gyges und sein Ring" entzünden. Das zur Wiederbelebung ausgegrabene Werk beginnt mit den Insignien der Macht – Krone, Mantel, Schwert –, die der lydische König Kandaules von seinem Diener Thoas angeboten bekommt. "Was soll das?", ruft Werner Wölbern als Kandaules, setzt sich die Krone auf und macht den Affen, weil ihm die Traditionen affig erscheinen. Die Zeit ist reif für eine lässige, lässiger gekleidete Moderne, die er im Ansatz schon an seinem Freund Gyges zu erkennen meint.

Konflikt zwischen Tradition und Fortschritt

Entspannt lehnt Stefan Konarske an der Seite, ein Geck im flauschig-rosa Glitzerhemd, der mit dem König auch mal ein Küsschen austauscht, nicht homo-, sondern eher freundschaftlich metrosexuell. Die Kumpel sind bereit für eine liberale Variante der Monarchie, für die sich auch Hebbel in seiner Zeit stark machte. 1854 verfasste er das Stück, einige Jahre nachdem in Deutschland die bürgerliche Revolution ins Stocken geraten war. In dem alten Gyges-Stoff, dem Platon die Märchenidee des unsichtbar machenden Rings einimpfte, fand Hebbel eine symbolische Folie für den Konflikt zwischen Tradition und Fortschritt, wobei die Tragödie im Privaten durch Rhodope, die Braut des Königs, ins Rollen kommt.

Diese Rhodope steht in der Mitte des sich nun drehenden, auf der anderen Seite geöffneten Zylinders. Sie ist nicht burkaschwarz, sondern sonnengelb von Kopf bis Fuß verschleiert. Auch sie: eine Blickverweigerin. Als Satelliten stehen Rhodope ihre Dienerinnen Lesbia und Hero zur Seite – Friederike Ott und Katrin Röver sind fast identisch gekleidet, tragen denselben geflochtenen Haarkranz in angenehmer Zwillings-Symmetrie, die jedoch bald aufgebrochen wird. Im Laufe einer Feier, die Schlocker aufreizend ins Off verlegt – eine Tür wird aufgemacht zum Foyer, Licht und Musik von draußen sind Motor für Zuschauerfantasien –, lässt sich der lorbeerbekranzte Siegertyp Gyges von dem angetrunkenen Kandaules überreden, sich von der Schönheit Rhodopes zu überzeugen.

Geheimnis im Zylinderdunkeln

Nora Schlocker ist klug genug, die berühmte Voyeursszene, die bei Hebbel im Nachhinein berichtet wird, nicht zu bebildern. Dass Gyges mit Hilfe des Rings der Entschleierung Rhodopes heimlich, doch letztlich nicht unbemerkt beiwohnt, bleibt im Zylinderdunkeln. Das Danach hingegen rückt die Regisseurin schockartig ins Licht, wenn Gyges, der nackte Oberkörper weiß bestäubt, die Innenwand entlang irrend seinen Gefühlstaumel hinausruft – er hat sich in Rhodope verliebt! – und plötzlich Geäst mit Äpfeln schicksalsschwer vom Bühnenhimmel fällt.

Es folgt das Drama einer Frau, die sich entweiht fühlt und zweier Männer, die sich in einer neuen Geometrie wiederfinden. Auf einer aufgebauten Pyramide aus Stühlen thront Rhodope, aus der statuenhaften Braut, die Britta Hammelstein in kühlem Todernst spielt, wird nach der fatalen Nacht die zwar körperlich bewegte, dennoch weiterhin starr den Bräuchen verpflichtete Frau, die die Wiederherstellung ihrer Reinheit fordert. Die Schicksalsmaschine, in der das Dreieck Gyges-Rhodope-Kandaules sich eingespannt findet, bekommt durch Hans Platzgumers Live-Musik, eine Mischung aus leichter Elektronik und viel Gitarre, noch mehr nervöse Energie.

Ein schweres Königsschwert

Die auf nicht mal zwei Stunden eingedampfte Tragödie steuert ihrem Ziel zu, und es ist wunderbar anzusehen, wie der nuancenreiche Werner Wölbern sich als Kandaules um die Wahrheit zu winden versucht, bevor er einsieht, dass er dem Schicksal nicht entfliehen kann. Den verpönten Königsmantel umklammert Kandaules zuletzt, als ob er bereits die Todeskälte, die da auf ihn wartet, spürt. Thoas (Paul Wolff-Plottegg) wird später an diesem Mantel wehmütig schnuppern, um sich dann in den Dienst des neuen Herrschers Gyges zu stellen.

Diesen legt Stefan Konarske ambivalent als Königsgünstling an, der von den Geschehnissen mitgerissen wird, aber auch zur Tat schreitet. Plötzlich wird er herrisch, wenn ihm Lesbia als Liebesersatz anstelle von Rhodope angeboten wird. Plötzlich sticht er zu, wenn es ans Königstöten geht. Und plötzlich ist er doch wieder der kindliche Liebesnovize, bitter enttäuscht, wenn Rhodope sich beim Hochzeitskuss in seinen Armen ersticht. Das Königsschwert, das Gyges zum abrupten Ende hochhievt, wiegt sicherlich so schwer wie seine Zukunft.

Aber wenn man doch nur wüsste, gegen wen er dieses Schwert heute richtet. Nora Schlocker lässt offen, wo die Aktualität von Hebbels "Gyges" für sie liegt. Der Schlussapplaus im Residenztheater klang verhalten freundlich, obwohl man sehr begeistert sein konnte: von einem einleuchtenden Bühnenbild, dem feinen psychologischen Spiel der Darsteller und einer zur Reife gebrachten Inszenierung.


Gyges und sein Ring
von Friedrich Hebbel
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Caroline Rössle Harper, Musik: Hans Platzgumer, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie: Sebastian Huber
Mit: Britta Hammelstein, Stefan Konarske, Friederike Ott, Katrin Röver, Werner Wölbern, Paul Wolff-Plottegg

www.residenztheater.de


Mehr von Friedrich Hebbel auf deutschsprachigen Bühnen: "Judith" sah man jüngst am Deutschen Theater Berlin von Andreas Kriegenburg inszeniert und in Graz von Elmar Goerden, "Die Nibelungen" ebenfalls am DT Berlin von Michael Thalheimer und in Bremen von Herbert Fritsch, "Maria Magdalena" in Augsburg von Anne Lenk oder am Maxim Gorki Theater Berlin von Jorinde Dröse.

 

Kritikenrundschau

Die krude Mischung einer Spanner-Geschichte, die zur Zivilisationsparabel hochgetrommelt wird, "bringt die junge Tiroler Regisseurin kühl und pseudo-klassizistisch zur Wiedervorlage, als krampfiges Schrei- und Schreittheater", schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (23.12.2011) über Nora Schlockers "wenig überzeugenden Beitrag zur Integrationsdebatte". Die Inszenierung wolle offenbar das islamische Kopftuch gegen den westlichen Hedonismus verteidigen, ohne ein einziges Argument zu liefern, warum Orthodoxie nun besser sein soll als Säkularisierung und "so unterkühlt, wie Britta Hammelstein als entehrte Rhodope im safrangelben Kaftan agiert (...) leistet sie ihrer Sache keinen guten Dienst. Kaum besser Stefan Konarske, dessen Gyges ein Tabubrecher aus Langeweile ist." Stilistisch schwanke die Regie zwischen asketischer Strenge und ästhetischer Übercodierung. "Accessoires, die Geschlechtsmerkmale ausstellen wie lederner Penisschutz, figurbetonte Reithosen und ein Dekolleté am Rande zum Nipple-Gate, wirken unnötig denunziatorisch, und wenn der Apfel der Versuchung gleich dutzendfach und mitsamt seinen Ästen aus dem Schnürboden herunterkracht, ist das ein allzu plumper Wink."

"Erst das Ende macht diesen Abend diskussionswürdig. Und es scheint, als habe Nora Schlocker einzig darauf hingearbeitet", so Michael Schleicher im Münchner Merkur (23.12.2011). Bis kurz vor Schluss sei die Inszenierung eine zwar ordentliche, aber nicht zwingende Arbeit. Am Ende aber fordere die in ihrer Würde verletzte Königin Rhodope einen Zweikampf zwischen ihrem Mann Kandaules und dessen Freund Gyges und dieser junge Grieche Gyges "wird zu einem  Attentäter. Zu einem Anführer, der die nach der Hochzeit sich selbst tötende Rhodope nur kurz beweint, ehe er kämpferisch nach den Insignien der Macht greift." Ihm, der Überholtes loswerden will, gehöre Schlockers Sympathie. Fazit: "Über weite Strecken findet die Regisseurin zwar klare, konzentrierte Bilder, doch bleibt sie damit an der Oberfläche des Stücks", und so halte sich von dieser Inszenierung das Ende in Erinnerung – und das Bedauern, dass Nora Schlocker erst so spät zeigt, was ihr "Gyges und sein Ring" bedeute.

Regisseurin Nora Schlocker habe sich mit erstaunlich frischem Zugriff, kühler Ästhetik und dankenswertem Verzicht auf jede Aktualisierung an die selten gespielte Tragödie gewagt, so Gabriella Lorenz in der Münchner Abendzeitung (23.12.2011). "Alle Assoziationen zu heute überlässt ihre stimmig gekürzte 90-Minuten-Inszenierung den Zuschauern." Imposant auch die Drehbühne von Jessica Rockstroh: Ein schwarzgepanzerter Gasometer-Zylinder berge innen ein weißes Halbrund mit dicken Wänden.

mehr nachtkritiken