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Liturgien des Hasses

von Michael Laages

Frankfurt, 14. Januar 2012. Der erste Blick auf die Besetzungsliste zeigt, wohin die Reise gehen soll – weg von Belmont, weg von allem lieblichen Getändel, weg von allem, was ablenkt vom Kern der Geschichte um diesen elend finstren Deal zwischen zwei Händlern, die einander aus tiefstem Urabgrund der Seele hassen, weil sie unterschiedlich glauben. Um Shylock geht es: darum, wie er wird zu dem, was er schlussendlich ist. Und um das Pfund Fleisch geht es, das Antonio, der titelgebende Kaufmann von Venedig, dem Juden Shylock verschrieben hat – als Pfand für einen Kredit, den er als Akt verzweifelter Zuneigung dem geliebten, aber niemals wirklich erreichten Freund gegeben hat.

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Wolfgang Michael (stehend) ist Shylock
© Birgit Hupfeld

Weg auch von den schönen klugen Frauen führt der Weg der Frankfurter Shakespeare-Deutung des australischstämmigen Regisseurs Barrie Kosky, der demnächst Hausherr sein wird an der Komischen Oper in Berlin. Nur Jessica darf bleiben – weil sie die Tochter des Juden ist und einen Christen liebt; also Teil ist vom Geschäft.

Schärfstmöglicher Diskurs
Nichts weniger als eine wirklich fundamentale Deutung ist das, was Kosky und die Dramaturgin Susanna Goldberg unter dem vertrauten Titel an Material versammelt haben. Porzia, Nerissa, all die sonst immer ziemlich nervigen Hütchen-, besser: Kästchen-Spiele um Wahrheit aus Gold oder Silber oder Blei undsoweiterundsofort sind eliminiert, desgleichen alles Mondlicht, das in Belmont auf den Hügeln schläft, sowie alle kurz vorm happy Ende vertauschten Eheringe und sonstigen Liebes- und Treue-Beweise.

Und wir wollen mal so richtig ehrlich sein – nichts von all dem wird wirklich vermisst. Statt dessen wird das Frankfurter Publikum Zeuge des schärfstmöglichen Diskurses über Glaube und Kult als Basis für den Hass in den Religionen; Liebe und Hoffnung als Menschenwerk sind hier nicht wirklich zu haben.

Shylock als europäisches Prinzip
Das Kosky-Exerzitium beginnt mit der rituellen jüdischen Beschneidung – und endet mit dem ebenso erniedrigenden wie lächerlichen Versuch des im letzten Urteil zwangsbekehrten Juden Shylock, sich den kleinen Lappen Fleisch wieder anzunähen. Dazu wird das alttestamentarisch-christliche Glaubensbekenntnis zelebriert wie zur Beschneidung am Beginn das jüdische. Zu Beginn des zweiten Teils der Aufführung darf auch Martin Luther auftreten und die komprimierte Liturgie des eigenen Hasses auf weite Teile der vom Geld regierten Welt herunterbeten, vor allem und darüber hinaus aber sämtliche Vernichtungsphantasien gegenüber dem Judentum – der Reformator war ein wortgewaltiger Ahnherr der Hitler-Himmler-Bande und aller Herren des Holocaust.

Spätestens ab hier ist Koskys Inszenierung grundsätzlich damit beschäftigt, die Hass-Tiraden auf dem Rialto von Venedig in den Zusammenhang des europäischen Antisemistismus verschiedenster Jahrhunderte und Epochen zu stellen. Das Prinzip Shylock, sagt (und belegt) die Aufführung, ist vor allem eine Antwort, eine Reaktion auf das Mass an Erniedrigung, das christliches Herrenmenschentum der fremden Glaubensgemeinschaft immer und ewig entgegen gebracht hat. Allerdings (auch das zeigt sich im Gegenüber der Geisteswelten) trägt auch dieses Judentum schrecklich zwanghafte Züge – Beschneidung zu Beginn sowie Nadel-und-Faden-Werk zum Ende kommentiert Kosky mit Kafka. Den Bund der Beschnittenen findet er in der Fabel "Vor dem Gesetz" wieder, das letzte Leiden des Zwangsbekehrten im kurzen Schreckbild vom Geier, den dessen Opfer im Blut des eigenen Sterbens glücklich mit ersaufen sieht.

Die Behauptung der Cabaret-Diva
Unendlich viel wird gedacht an diesem prinzipiell unerhört klugen, vielleicht sogar leicht schlaumeiernden Abend. Doch nicht alle Lösungen für das Theater siedeln auf gleicher Höhe. Außer Luther wollte Kosky (der Opernregisseur!) mit Richard Wagner unbedingt noch einen weiteren bekennenden Antisemiten aus deutscher Hochkultur in Spiel bringen – und ließ darum einige Arien vom Frankfurter Contrast Quartett im Jazz-Ton bearbeiten sowie im Text jiddisch bearbeiten für die Sängerin Barbara Spitz. Das aber ist nun wirklich recht fürchterlich. Zum einen, weil Lady Spitz über die Behauptung der Cabaret-Diva nie und nimmer hinaus kommt, und weil zum zweiten mit dem Motto "Wagner meets Jazz" (das wissen musikalisch Eingeweihte seit den unfreiwillig komischen Wagner-Bearbeitungen von Stan Kenton in den 50er Jahren) kein Blumentopf zu gewinnen ist. Auch Friedrich Hollaenders Bizet- und Carmen-Bearbeitung im visionären Ton des Jahres 1931 ("An allem sind die Juden schuld") hat derlei unreflektierten Missbrauch eines Revue-Songs wieder mal nicht verdient. Das Ganze kommt überdies unsensibel laut und wie mit der Brechstange daher – ärgerlich.

Nicht alle Zutaten also halten das hohe gedankliche Niveau. Das Spiel hingegen schon. Zwar war das fundamental homosexuell durchtändelte Liebes- und Freundschaftsgebalze der jungen Männer vom Rialto bei Tilmann Köhler neulich in Dresden schon deutlicher zum Thema geworden; aber auch bei Kosky wird klar, warum dem alternden Verehrer Antonio hier kein Glück, sondern nur Traurigkeit und Schmerz beschieden sein kann. Und mit dem Shylock von Wolfgang Michael hat die Aufführung ein Zentrum von schier unheimlichen Konturen . Selten hat wohl je ein Shylock so viel gelacht, bevor ihm Tochter und Reichtum gestohlen werden; ein hämischer Alter, schwierig, grob und verbohrt, aber auf verquere Weise auch umgänglich.

Ein Ereignis für sich
Dieses Fleisch-Pfand zu Beginn war für ihn vielleicht wirklich nur ein dämlicher Scherz. Und erst die Verhältnisse machten ihn zum Schreck-Gespenst. Selbst im Finale gibt es noch Momente, wo die Figur zu zweifeln scheint am eigenen Fundamentalismus. Immer wieder im Licht isoliert auf Klaus Grünbergs Spiel-Scheibe, einer Art leuchtendem Gral vor synagogischer Wand im Hintergrund, ist dieser Shylock ein Ereignis für sich.

Koskys Konzept überzeugt mit ihm, aber darüber hinaus nicht mit allem Material in dieser verblüffenden und verstörenden Shakespeare-Betrachtung.

Der Kaufmann von Venedig
von William Shakespeare
Fassung von Barrie Kosky und Susanne Goldberg
Übersetzungen ins Jiddische von Michael Felsenbaum
Regie: Barrie Kosky, Bühne: Klaus Grünberg, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Contrast Quartett, Dramaturgie: Susanne Goldberg.
Mit: Michael Benthin, Michael Goldberg, Henrike Johanna Jörrissen, Nils Kahnwald, Wolfgang Michael, Christoph Pütthoff, Peter Schröder, Barbara Spitz, Viktor Tremmel und Statisten.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Alles gestrichen, wo gerade mal kein Jude verleumdet wird. "Dafür: Eine Beschneidung, die damit endet, dass Shylocks Vorhaut an die Tapete gepinnt wird. Der Penisfetzen fungiert hier quasi als das Gewehr, von dem Tschechow sagte, wenn es im ersten Akt an der Wand hinge, müsse es im dritten losgehen; in der letzten Szene lässt der Zwangschrist Shylock die Hose runter und näht sich den Hautfetzen wieder an. Minutenlang, bluttriefend. Mitleid kann man selbst dann nicht mit ihm haben", schreibt Jan Küveler in der Welt (17.1.2012) das Bühnengeschehen am Schauspiel Frankfurt, wo Kosky die Antisemitensau rausgelassen habe. "Das Publikum sitzt starr. Seit Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod" Mitte der 80er auf Betreiben der jüdischen Gemeinde, die sich darin verunglimpft sah, in letzter Sekunde abgesetzt wurde, hat Frankfurt dergleichen nicht erlebt." Als Wolfgang Michael mit dem Vorhautannähen fertig ist, klatscht man erleichtert fürs Ensemble. Buhs für Barrie Kosky, sogleich übertönt von Bravo-Rufen.

Wenn Barrie Kosky nach der Pause Martin Luther in Gestalt von Peter Schröder auftrete, dann sei das, meint Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (16.1.2012), "kein Theater. Er ist bestenfalls ein Beweis." Und zwar "der Beweis dafür, dass dieser miese Shylock nur die Antwort ist, auf den jahrhundertealten, miesen Antisemitismus der Christen." Das habe zwar "provokative Schärfe. Aber so, einfach aufgesagt, wenn auch nachdrücklich, ist es eine Lektion in langer Weile". Und so sei Koskys "Kaufmann" "enervierend, kein Spiel, keine Entwicklung, keine Variation, nur statische Bilder, und die auch noch gänzlich uninspiriert wie die einförmig schwarzen Anzüge (incl. weißem Hemd und schwarzer Krawatte), die später durch fratzenhafte Judenmasken auch nicht aufregender werden."

"Barrie Kosky, ein Australier jüdischen Glaubens, (...) der naturgemäß sonst immer Opern beschneidet und offenbar einen artigen jüdischen Selbsthass pflegt", mache "den Juden Shylock dreieinhalb Stunden lang fertig. Nach allen Regeln der gehobenen Unterhaltungsindustrie", schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (16.1.2012). Michael Goldberg werde "als Antonio immer diskreter, duldsamer, leiser und leidender; ein sanfter Heiland, der sich um der Liebe willen an jedes schwule Kreuz nageln lassen würde. Wolfgang Michael als Shylock wird dagegen immer böser, geifernder, krampfiger, menschen- und christenverachtender, armfuchtelnd und fingerstechend." So werde hier "aus Shakespeares großer Komödie (...) ein schwules antisemitisches Machwerk. In dümmlichst bonbonbunter Mise-en-scène." Und das Frankfurter Schauspiel insgesamt befinde sich "im Zustand verbrezelt-verjuxter Beliebigkeiten."

Barrie Kosky mache "aus Shakespeares Stück eine jüdisch-christliche Tragödie von archaischer Wucht", schreibt Michael Kluger in der Frankfurter Neuen Presse (16.1.2012). Das gelinge vor allem dank Wolfgang Michaels Shylock. "Was für ein Shylock: eine gewaltige, ja monumentale Figur von beinah biblischer Größe. Er hat das Patriarchalische und das Geduckte des Geschmähten und Verachteten. Er hat etwas Schmierig-Verlottertes und etwas Vornehmes, das von weit her kommt." Michaels Darstellung gehe einem nach "wie ein ungelöstes Welträtsel." Das Publikum sei "verstört, aufgewühlt, wie benommen, auch ein bisschen ratlos. Aber es ist gepackt und erschüttert: Das ist das Beste, was man über einen Theaterabend sagen kann."

Barrie Kosky entwickele in seiner Frankfurter Shakespeare-Inszenierung "einen Furor, der fast altmodisch wirkt, aber ungemein wichtig ist, radikal, schonungslos und garantiert nicht subtil", so ein begeisterter Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (26.1.2012). Bis zur Pause bleibe er in der Regie einigermaßen brav, danach sei es mit der "Shylock-Revue" vorbei. Kosky arbeitete "Jahrhunderte Judenfeindlichkeit in drei Stunden auf." Und stelle dazu mit dem "großartigen Wolfgang Michael" einen alttestamentarisch grollenden Shylock vor, "dessen Wut vor Gericht von der ganzen Summe der Misshandlungen an seinem Volk herrührt." Der müsse nicht freundlich sein. Nicht zu seinen potentiellen Mördern. "Über solch philosemitische Reflexe sind wir längst hinaus. Das zeigt Kosky. Vielleicht naiv. Aber voller Kraft."

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