Nicht Opfermentalität, sondern Opferideologie

von Esther Slevogt

Berlin, 17. Januar 2012. Das wollte der Publizist Paul Lendvai dann zunächst doch einmal klarstellen: Ungarn sei weder die Ukraine, wo man eine frühere Ministerpräsidentin in einem zweifelhaften Verfahren zu sieben Jahren Haft verurteilt habe. Ungarn sei auch nicht das halbkriminelle Weißrussland. Nicht mal mit dem autokratisch geführten Russland Wladimir Putins könne man dieses demokratisch verfasste mitteleuropäische Land vergleichen. Selbst die Verhältnisse im von Berlusconi komplett korrumpierten Italien mit seinen abhängigen Medien schienen Lendvai bedenklicher zu sein als in Ungarn, wo gerade umstrittene Pressegesetze massiv die Unabhängigkeit der Medien bedrohen. Und doch, so der in 1929 Budapest geborene und in Wien lebende Lendvai, sei Ungarn nicht das Land geworden, das man sich 1989 erhofft habe und drifte unter der Regierung des rechtskonservativen Victor Orban nun in eine bedrohliche Richtung ab.

Ungarn, wo die gegenwärtige Regierung gerade dabei ist, auf dem Weg von Gesetzgebung und Personalpolitik die demokratische Verfasstheit des Landes auszuhöhlen, Justiz- und Verfassungsorgane, Banken, Medien, Kunst- und Kulturszene unter ihre Kontrolle zu bringen, und Hass gegen Minderheiten und Antisemitismus immer unverhohlener zu Tage tritt, war das Thema der Januar-Ausgabe der Diskussionsreihe Streitraum, die von der Berliner Schaubühne in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für Politische Bildung einmal im Monat veranstaltet wird. "Antisemitismus in Ungarn – Was tun?" war die Veranstaltung überschrieben, und mit Paul Lendvai auf dem Podium saßen die Philosophin Agnes Heller, der Pianist András Schiff und der Theatermann und Allround-Intellektuelle Ivan Nagel, alle vier in Ungarn geboren. Doch nur Agnes Heller lebt noch dort. Die dann immer auch wieder die Ungarn gegen allzu pauschale Verurteilungen im Schutz nahm. Paul Lendvai lebt seit 1957 in Wien, András Schiff hat vor Jahren schon seinen Wohnsitz nach Florenz verlegt. Ivan Nagel verließ Ungarn bereits 1948 und wohnt inzwischen in Berlin.

Nationale Kränkungen

Von Agnes Heller und Paul Lendvai kamen im Laufe der Debatte die triftigsten Analysen der gegenwärtigen ungarischen Situation, die sie beide auf nationale Traumata des 20. Jahrhunderts zurückführten: vor allem das Trauma von 1920, als im Versailler Schloss Trianon die junge Republik Ungarn, nach mehr als zwei Jahrhunderten gerade erst von Österreich unabhängig geworden, im Zuge der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg ein Drittel seines Staatsgebiets abgeben musste und Millionen Ungarn erneut unter Fremdherrschaft gerieten. Vor den Habsburgern hatten die Osmanen über Teile Ungarns geherrscht. Ähnlich wie in Deutschland habe die grundsätzlich berechtigte Kritik an den Verträgen von Versailles in Ungarn die falschen politischen Kräfte befördert, so Lendvai.

Ein anderes Trauma sei das Jahr 1956 gewesen, als das Land während der Revolution gegen das kommunistische Regime von der Welt im Stich gelassen worden sei, die ja auch eine Revolution gegen die sowjetische Fremdherrschaft gewesen sei. Nun wähne sich das kurz vor dem Staatsbankrott stehende Land unter die Fremdherrschaft der Banken gefallen. All die unverarbeiteten nationalen Kränkungen hätten zu einer starken Opfermentalität der Ungarn geführt, was verhindere, sich mit dem Nationalismus kritisch auseinanderzusetzen. Der werde als Therapie betrachtet, wo er doch eigentlich ein Krankheitssymptom sei.

Ivan Nagel hatte weniger Verständnis: Es handele sich um keine Opfermentalität, sondern eine Opferideologie, in die sich wunderbar revanchistische Grundhaltungen verpacken ließe. Heraus komme unterm Strich, dass die Juden schon am Kommunismus schuld gewesen seien und nun anderweitig stereotype antisemitische Feindbilder und Verschwörungstheorien zu füllen hätten.

Fremde Herzen, fatale Entwicklung

Zur Zeit brächen viele ungarischen Wunden auf, sagte die Philosophin Agnes Heller. Und der Antisemitismus sei eine von ihnen. Agnes Heller erläuterte auch einen perfiden Begriff des ungarisch-nationalistischen Diskurses, den sie als "fremdherzig" übersetzte. Ein fremdes Herz werde jenen Menschen unterstellt, die aus den verschiedensten Gründen als nicht zugehörig betrachtet würden und dieser Logik zufolge auch nicht ungarisch fühlen könnten. So gälten eben auch Juden als "fremdherzig". Und Ivan Nagel ergänzte, dass, als Imre Kertesz 2002 den Literaturnobelpreis bekam, dies in Ungarn nicht als Auszeichnung für die Literatur des Landes begriffen wurde, da Kertesz Jude sei. Weshalb die meisten Medien den prominenten Preis und seinen Träger nur beiläufig erwähnt, manche beide gar als Affront gegen Ungarn aufgefasst und kommentiert hätten.

Der jüngste Podiumsteilnehmer András Schiff (als einziger nach dem 2. Weltkrieg geboren) war Anfang 2011 jenseits seines Musikerruhms bekannt geworden, weil er zu Beginn des ungarischen EU-Ratsvorsitzes in einem Brief an die Washington Post Ungarn auf Grund seiner nationalistischen und antisemitischen Tendenzen die politische Reife abgesprochen hatte, diese Position auszufüllen. Seitdem ist er das Opfer massiver Drohungen und kann sich im gegenwärtigen Klima nicht vorstellen, je wieder nach Ungarn zu fahren. Auch Konzerte wird er dort vorerst nicht geben. Seine Kritik sei dennoch aus einer "inneren Liebe" zu seinem Land erfolgt, so Schiff, da er sich mit den fatalen Entwicklungen nicht abfinden wolle. Die deutsche Presse konnte er gar nicht genug dafür loben, als erstes die rechtsradikalen, antisemitischen und antidemokratischen Entwicklungen in Ungarn aufgegriffen und differenziert geschildert zu haben. Erst danach seien die Amerikaner und Resteuropäer aufgewacht.

Als erstes die Medien retten

"Ja", sagt da Paul Lendvai etwas spöttisch, bloß müsse dann auch die konservative deutsche Regierung samt CDU-Kanzlerin Angela Merkel all diese Interviews, Berichte und Analysen lesen und beim nächsten Treffen mit dem ungarischen Regierungschef Orban vielleicht einmal deutliche Worte finden. Der IWF solle Ungarn den nächsten Kredit verweigern, warf Moderatorin Carolin Emcke als Sanktionsvorschlag in die Runde. Oder Europas Konservative müssten der rechtskonservativen Fidesz-Partei (Fiatal Demokraták Szövetség) von Premier Victor Orbán drohen, sie aus dem europäischen Verbund christlich-konservativen Parteien im Europarlament auszuschließen, schlug Ivan Nagel vor. Überhaupt die EU, befand András Schiff, das sei ein Club ohne hinreichende Hausordnung. Man bleibe im Club, egal wie man sich benähme. Paul Lendvai hielt grundsätzlich wenig davon, zu großen internationalen Druck auf Ungarn auszuüben. Das würde die Situation nur verschärfen, da Diktate von außen das Gefühl der Ungarn, Opfer zu sein, nur bekräftigen würde. Zu stärken gelte es jedoch die ungarische Zivilgesellschaft und die unabhängigen Medien im Land. Denn die EU könne eine funktionierende Zivilgesellschaft in Ungarn weder erzwingen noch ersetzen. Auch könne eine Wende in Ungarn nur aus dieser Zivilgesellschaft kommen. Diese zu stärken, dazu also sei das bürgerliche Europa aufgerufen.

Dies unterstrich auch Agnes Heller, die die gegenwärtige ungarische Republik mit einem falsch zugeknöpften Mantel verglich, den man nun eben noch einmal ganz aufknöpfen müsse, um ihn dann endlich richtig zuknöpfen zu können. Entsprechend positiv griff sie auch einen Vorschlag am Ende der Debatte aus dem Publikum auf, wo die Schaffung eines Spendenkontos angeregt wurde, um Gelder für die demokratische Opposition und unabhängige Medien zu sammeln. In Russland sei die Rettung der unabhängigen Medien versäumt worden. Den Fehler solle man in Ungarn nicht wiederholen. So müsse zum Beispiel versucht werden, die einzige oppositionelle Radiostation "Klubradio" zu retten, die Ende 2011 ihren Sendebetrieb einstellen musste. Moderatorin Carolin Emcke signalisierte, dass sie den Vorschlag der Einrichtung eines Spendenkontos als Auftrag betrachte, und mit der Bundeszentrale für Politische Bildung und der Schaubühne Möglichkeiten einer Umsetzung prüfen wolle.

 

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