Wir sind Hundert - Die Österreichische Erstaufführung des Stücks von dem Schweden Jonas Hassen Khemiri in Linz
Goldrahmenerinnerungen
von Reinhard Kriechbaum
Linz, 19. Januar 2012. Ein saftiges "Ich" wäre endlich mal gefragt, aber sie sagt: "Wir sind bereit". Und so kommt es schon am Beginn genau so, wie es kommen muss und wie es bisher immer gekommen ist: Die Frau wird nicht vom Dach springen, weil die Seelen, ach, in ihrer Brust sich zu Wort melden. Dort ringen nicht deren zwei, sondern gleich drei. Plus fünfzig Prozent gegenüber dem guten alten Goethe also. Eine Frau – und erst eine Frau der Postmoderne – ist etwas entschieden Komplexeres als der vergleichsweise simpel gestrickte Faust. Das weiß der 1978 geborene Jonas Hassen Khemiri.
"Wir sind Hundert" ist das Stück eines bekennenden Frauenverstehers.
Drei sympathische Damen also im verbalen und handfesten Gerangel ums unerreichbare "Ich". "Wir fangen von vorne an", beschließen die drei, "aber diesmal muss es perfekt werden." Wird es nicht, wir ahnen es sogleich. Aber das neu-alte Leben wird deutlich reflektierter, wenn gleich drei mit ihren jeweiligen Ansichten und partiellen Lebenszeit-Erfahrungen durcheinander quasseln. Da wird einem das heutige Frauenleben in seinem zehrenden Anspruch nur zu bewusst.
Drei Seelen in der Brust
"Wir sind Hundert" ist ein Monolog für drei. Im Detail gar nicht unwitzig zusammengebaut aus Versatzstücken des Zeitgeists. Barbara Nowotny ist "Drei" – sie ist politisch blindwütig engagiert wie eh und je. "Zwei" (Angela Šmigoc) hat ein rotes Blümchen im Haar und täte sich gleich mal einpassen in ein konventionelles Weibchen-Schema, wenn die anderen das bloß zuließen. Und dann wäre da noch "Eins" (Marion Reiser), die Dauernörglerin in der Gruppe, die an allem und jedem etwas auszusetzen hat, die immer alles anders machen würde.
Drei Lebensalter, drei Perspektiven? Nein, sie sind alle etwas über Dreißig. In dem Alter hat man schließlich die essenziellen Lebenserfahrungen hinter sich, mit Männern und Frauen, und man kann sich munter ans Deklinieren des Ego machen. Der Autor gehört auch in diese Altersklasse. Die drei jungen Schauspielerinnen in Linz unter der Regie von Katharina Schwarz gehen sympathisch herzhaft dran. Junges Publikum werden sie gewiss flugs auf ihre Seite ziehen.
Vom Wortduell zum Handgemenge
"Wir sind Hundert" könnte ein Renner in den Schauspielschulen sein. Ausreichend Gelegenheit für spontane Rollenspiele in rasant wechselnden Stimmungsbildern. Keine Seelenszenerie, die nicht augenblicklich gebrochen und unterlaufen würde. Der vermeintlich dankbare Theatertext birgt freilich Fußangeln. Das müsste alles wirklich mit brillanter Präzision kommen, sollte es darüber hinwegtäuschen, dass auch sehr viel Klischeehaftes transportiert wird. Jonas Hassen Khemiri ist Sohn einer Schwedin und eines Tunesiers. Sollte man sich von einem kulturellen Grenzgänger von Geburt an einen differenzierteren, kritischeren und besser fokussierten Blick auf heutiges Frau-Sein erwarten? Viele abgegriffene Bilder sind hier eingeflossen, und ihre Brechung in diesem Stück wahrzunehmen, brauchts vom Publikum schon viel guten Willen.
Florian Parbs hat einen ganz schlichten Raum gemacht im Eisenhand, der kleinsten Spielstätte des Linzer Landestheaters. Wände aus Fäden. Da sind Vollblut-, Neben- und Hyper-Frau rasch weg und eben so schnell wieder da zum Wortduell, zum Handgemenge und sogar zum Mord an der Jung-Gebliebenen. Aber keine Sorge. Seelen in der Brust lassen sich so schnell nicht killen, es werden agile und argumentationsgewandte Wiedergänger draus. Oder wenigstens Begleiterinnen, die in emotional sanfteren Momenten "Goldrahmenerinnerungen" heraufbeschwören.
Wir sind Hundert (ÖEA)
von Jonas Hassen Khemiri, aus dem Schwedischen von Jana Hallberg
Regie: Katharina Schwarz, Kostüme: Georg Lindorfer, Bühne: Florian Parbs, Dramaturgie: Elke Ranzinger.
Mit: Marion Reiser, Angela Šmigoc und Barbara Novotny.
www.landestheater-linz.at
Mehr von Jonas Hassen Khemiri: Die Deutschsprachige Erstaufführung seiner multiplen Persönlichkeitsstudie Wir sind Hundert gabs im April 2011 am Thalia in der Gaußstraße Hamburg. Sein Stück Invasion! wurde zum Beispiel von Egill Heidar Pálsson im Oktober 2008 in Mannheim inszeniert, von Jorinde Dröse an den Münchner Kammerspielen und von Neco Çelik am Berliner HAU.
Ein "gelungenes Puzzle-Spiel" über die "ganz normale Gespaltenheit am Beispiel einer Durchschnittsfrau" hat Silvia Nagl von den Oberösterreichischen Nachrichten (21.1.2012) an diesem Abend erlebt. Khemiris Stück wolle "nichts auslassen, was Intellektuellen, Grünbewegten, Umweltaktivisten, Gender-Bewussten, politisch Korrekten und an soziale Gerechtigkeit Glaubenden wichtig ist". Doch Regisseurin vermeide es "recht geschickt" ein "feministisches Manifest" zu inszenieren und gebe "dem Ganzen einen (selbst-)ironischen und humorvollen Draufblick aus weiblicher Sicht".
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