altPrivatsphäre gleich Null

von Martin Thomas Pesl

Wien, 28. Januar 2012. Es steht ganz genau drin bei Tennessee Williams, wie er sich das Setting vorstellt zu seiner "Endstation Sehnsucht": Eine Seite lang beschreibt er das erste Bild, seine Regieanweisungen betreffen kleinste Details, Requisiten, Bewegungen. Da ist das heruntergekommene Haus, dessen Untergeschoss wir einsehen, mit Wohnküche und einem Schlafzimmer, das nur durch einen Vorhang als zweiter Raum definiert ist. Ein ganzes Haus, ein ganzes Leben passt auf eine Bühne. Genau so hat Karl-Ernst Herrmann die Bude am Burgtheater auch hingestellt und eingerichtet, detailgenau, aber karg: eine babyrosa Tapete, die schon begonnen hat, sich abzulösen, Tisch, Bett, Herd, Ventilatoren und, hinter Milchglas halb einsehbar, ein kleines Bad.

Nur ist bei ihm das ganze Haus auch noch mächtig schief, windschief geradezu und somit eine veritable Abbildung der zwischenmenschlichen Verhältnisse, die hier herrschen. Stella hat Stanley Kowalski, den simplen Fabriksteilevertreter, geheiratet und erwartet sein Baby. Ihre Schwester Blanche hat das Familienlandgut und wegen einer Affäre mit einem Schüler auch ihren Posten als Lehrerin verloren und Trost bei fremden Männern gesucht. Nun ist sie pleite und nistet sich auf einem Klappbett in Kowalskis schäbiger Behausung ein. Privatsphäre gleich Null. Mit ihrem Schwager streitet sie nicht nur um Schnapsflasche und Badezimmernutzung, sondern auch, unausgesprochen, um die Gültigkeit eines Weltbilds.

endstsehnsucht1 ReinhardWerner 560 uSchräge Verhältnisse: Katharina Lorenz als Stella und Dörte Lyssewski als Blanche.
© Reinhard Werner

"Ich will keinen Realismus - ich will Zauber"

Larmoyanz wegen des verflossenen US-Südstaatenreichtums gegen die Geradlinigkeit der aussichtsreichen Arbeiterklasse – nicht gerade Thema des Tages im Wien von heute. Patina liegt auf diesem Klassiker, in dem etwa Blanche Stanleys Freund Mitch gegenüber die Fassade einer "angesehenen und anständigen" Frau bewahrt, "damit er mich will". Dieter Giesings Inszenierung lässt das so, wie es nun mal ist. Ebenfalls an der Burg schürfte der erfahrene Handwerker aus Schnitzlers Professor Bernhardi im April 2011 ungeahnte Schärfe und Modernität. Das gelang ihm womöglich deshalb so schön unprätentiös, weil er es eben nicht auf Brisanz anlegte. Auch jetzt verlässt Giesing nicht die Fertighaus-Box, die ihm sein Bühnenbildner gebaut hat, sondern arbeitet konzentriert an den Figurenzeichnungen. Worin er auch Erfolg hat, denn das überzeugende, situative Spiel überdeckt manchen Anachronismus.

endstationsehnsucht 280 reinhard werner uDörte Lyssewski als Blanche.
© Reinhard Werner
Jenes von Dörte Lyssewski zum Beispiel. Sie schöpft das dramatische Potenzial der Blanche voll aus, die da ruft: "Ich will keinen Realismus – ich will Zauber!", und allmählich dem Wahn verfällt. Ihr Kampf um die Glücksillusion bewegt, und trotz ausladenden und eitlen Spiels, das die Rolle ihr gestattet, bleibt sie glaubwürdig, bisweilen fast schon zurückhaltend. Als sie sagt, sie werde heute irgendwann noch ein Beruhigungsmittel brauchen, macht sie dabei einen geradezu vernünftigen Eindruck. Ihre Schwester Stella spielt Katharina Lorenz mit merkwürdiger Teilnahmslosigkeit: Wohl begrüßt sie die ankommende Blanche fröhlich und beweint sie, als sie am Ende vom Arzt weggebracht wird. Doch es scheint aus Pflichtbewusstsein oder Gewohnheit zu geschehen, etwa wenn sie ihrer Schwester, die zur Nervenberuhigung manisch heiß badet, eine kühle Cola an die Wanne bringt, weil sie sie früher schon immer bedient hat. In sich schlüssig, aber etwas schade, dieser emotionale Minimalismus: Er zeichnet Stella als gefühlsarm und ohne eigenen Willen.

"Es wird alles gut, wenn sie weg ist"

Stanley in der Gestalt des Nicholas Ofczarek macht es ihr aber auch schwer, von ihrem saufenden und gewalttätigen Mann ablassen zu wollen. Ofczarek gelingt es mit vollem Körpereinsatz, diesen Mann, den obendrein das Schicksal seiner Schwägerin sichtlich kalt lässt, na ja, vielleicht nicht sympathisch, aber doch als ehrlich bemitleidenswerten Menschen zu zeigen. So brutal und ordinär, wie Blanche findet, ist er gar nicht, nur egozentrisch und leicht lächerlich in seinen einen Schlag zu weit hinaufgekrempelten Hemdsärmeln. "Es wird alles gut, wenn sie weg ist und du das Baby hast", beschwichtigt er seine Frau zuversichtlichen Blickes. Später küsst er sie zärtlich, nachdem Blanche Richtung Klapsmühle abgeführt wurde. Der Kerl meint es nicht böse: Er glaubt das einfach wirklich, und wir glauben ihm. Dieses plastische Antwortszenario auf die Frage, wieso derlei Partnerschaften oft trotzdem anhalten, ist ein kleiner, feiner Gewinn dieses ruhigen, zeitweise sogar elegischen Abends.


Endstation Sehnsucht
von Tennessee Williams
Deutsch von Helmar Harald Fischer
Regie: Dieter Giesing, Mitarbeit: Johann Kresnik, Bühne: Karl-Ernst Herrmann, Kostüme: Fred Fenner, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus MissbachMit: Dörte Lyssewski, Katharina Lorenz, Nicholas Ofczarek, Dietmar König, Petra Morzé, Juergen Maurer, Marcus Kiepe, Rudolf Melichar, Dunja Sowinetz, Daniel Sträßer.

www.burgtheater.at


Tennessee Williams' Klassiker Endstation Sehnsucht sah nachtkritik.de zuletzt am Berliner Ensemble (Regie: Thomas Langhoff), an den Münchner Kammerspielen (Regie: Sebastian Nübling) und an der Berliner Schaubühne (Regie: Benedict Andrews).

 

Kritikenrundschau

"In allen elf Szenen soll das Schicksal der armen Blanche zum Leuchten gebracht werden – was diesem Starensemble mit seinem Solostar spielend gelingt", schwärmt Norbert Mayer in der Presse (30.1.2012). Es sei eine mustergültige Inszenierung gelungen, die sich auf das Wesentliche und die Hauptdarstellerin konzentriere. Hochgelobt werden die drei Schauspieler der Hauptfiguren, allen voran natürlich Dörte Lyssewski, der sich alle anderen unterordneten.

Gerald Heidegger schreibt auf der Seite des Österreichischen Rundfunks, ORF (29.1.2012): Dieter Giesing habe sich fürs "leichte Spiel" entschieden. Er habe "vier großartige Schauspieler gewähren" lassen und dachte "Elia Kazans Verfilmung des Klassikers ein paar ironischen Pointen zu". Trotzdem habdele es sich nicht um eine Wiederaufführung des Films. Dörte Lyssewski stakse als "entlaufene ABBA-'Dancing Queen' auf die Bühne". Nicholas Ofczarek lege den Stanley "eher gemütlich an". Katharina Lorenz gelinge der "permanente Parforceritt zwischen der Position als Ehefrau und Schwester" bravourös. Williams lande "mittels Broadway-Zuschnitts seiner Arbeit das brisante Material im Herzen der Gesellschaft". Zugleich sei sein Stück dort stark, wo es die Kunst der Schauspieler fordere: "Es geht um Andeutungen, Versionen von Geschichten und der heiklen Frage, wem mit welcher Darstellung von Geschichte zu trauen ist." Das Publikum feiere die "schauspielerische Gesamtleistung".

Ronald Pohl schreibt in der Wiener Tageszeitung Der Standard (30.1.2012): Lyssewski spiele Blanche mit dem geschäftigen Ernst einer "unvollständig Emanzipierten, indem sie die Figur von aller Hysterie reinigt". Nur leider koche auch nichts hoch. Dieter Giesing habe Williams' "größten Dramenwurf" auf mitteleuropäische "Betriebstemperatur heruntergekühlt". Zu bewundern gebe es "die Produkte eines 'Schauspielertheaters', das sich mit "wahnwitzigen oder auch nur riskanten Behauptungen" umso weniger aufhalte, je mehr es auf "die Gestaltungskraft seiner Mimen" setze. Doch fehle der "Wahnsinn", das "Spiel mit dem drohenden Kontrollverlust", der "Tanz auf den bloßliegenden Nerven", der "rauchige Whiskey-Geschmack der Verlogenheit", der die Sätze der Figuren imprägniert. Eine Inszenierung, mit der man "gut, vielleicht aber auch allzu gemütlich leben" könne.

In der Süddeutschen Zeitung (2.2.2012) ärgert sich Helmut Schödel: Die Bühne von Karl-Ernst Herrmann sei ein "vollkommen unverständlicher Missgriff". Von der Erotik des Stücks spüre man an diesem "höchst jungfräulichen Abend" "aber auch gar nichts". Auch die Schauspieler werden nicht geschont vom strengen Rezensenten: Als Blanche wirke Dörte Lyssewski in ihren ersten Auftritten "überraschend stark und hart", aber dann entgleite ihr die Rolle in einem "Virtuosität vorgaukelnden Singsang". "Diese unbeteiligte, indirekte Schauspielerei bezieht sich auf das Schmachtgesten-Repertoire der alten Stadttheaterästhetik", so Schödel. In Wien verwechsele man solche Verfehlungen schon traditionell mit großem Schauspielertheater. "Auch die Wiener Theaterkritik delektiert sich gerne am Aufgewärmten. Man muss nur die Theaterkritiken verfolgen, auch in diesem Fall, um zu sehen, dass Österreichs Metropole eine unnötige Tendenz zur Provinz pflegt." Dieter Giesing zeige an diesem Abend "Theater, wie es lange schon vorbei ist." Immerhin falle das an Matthias Hartmanns Burg jedem auf, "weil man dort mit so manchen Überraschungen zu rechnen hat und ein antikonzeptueller Weg beschritten wird, der zwischen Quoten- und Freidenkerei nach einer Zukunft sucht". Es sei diese berechnende Raffiniertheit, die das Haus spannend mache und solche Abende selber an den Pranger stelle.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.2.2012) schreibt Martin Lhotzky: Dörte Lyssewski mache in der Hauptrolle "auf leicht verhuschtes und etwas überwutzeltes Blondchen." Nicholas Ofczarek rüste seinen stattlichen Körper "mit wenig Nuancen" aus. Und Katharina Lorenz scheine mit dem Part der Stella überfordert. Aber für Lhotzky liegt's letzlich nicht an den Schauspielern, dass nicht so richtig was draus geworden ist: "Hätte man eine kleinere Bühne, etwa das Akademietheater gewählt, wäre vieles an diesem Abend überzeugender." Die Weite der Bühne lasse Blanches fast klaustrophobische Angst vor Stanley eher lächerlich als berührend wirken. "So scheitert eine redlich bemühte Regie an zu großem Raum und zu hohlem Drama."

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