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Die Geister, die wir riefen

von Martin Krumbholz

Essen, 3. Februar 2012. Ein Stück – ein Mythos. Die Figur "Graf Öderland" taucht im Werk Max Frischs mit den Tagebüchern 1946-49 auf, das Stück wird 1951 in Zürich uraufgeführt und floppt; ein weiterer Anlauf von Fritz Kortner, es herauszubringen, wird unterbunden; die endgültige Fassung stammt von 1961. Der Autor, weiß man, hat an diesem frühen Werk besonders gehangen – einem Werk, das vom jüngeren (naturgemäß forschen) Kollegen Dürrenmatt gnadenlos verrissen wurde, privat und öffentlich: es sei "sehr groß gedacht und sehr wenig realisiert", ein "Unding".

Tickende Zeitbomben
Tatsächlich, das zeigt sich jetzt in der mutigen Inszenierung von Konstanze Lauterbach in Essen, ist "Öderland" sperriger, irritierender als die späteren, erfolgreichen, allzu glatt aufgehenden Parabeln wie "Biedermann" oder "Andorra". Es beginnt schon mit der verwirrenden Anspielung auf eine "Legende", die es gar nicht gibt: Graf Öderland mit der Axt in der Hand. Bei Frisch ist es ein Staatsanwalt, der einen Mörder verurteilen soll, den er nur allzu gut zu verstehen glaubt: einen Mörder ohne erkennbares Motiv – einen Mörder aus Daseinsekel. Der Staatsanwalt bricht aus seiner bürgerlichen Existenz aus, geht in den Wald, wird unfreiwillig zum Kopf einer Rebellion und steht am Schluss vor der Frage, ob er sich einsperren lassen oder die Macht an sich reißen soll. In Frischs Augen ein unlösbares Dilemma; der Text versandet im zweiten Teil ein wenig in sich überbietenden skurrilen Einfällen, in deren Kontext die gewaltige Titelfigur mehr und mehr isoliert erscheint.

grafderland 1 560 thilo beu uDunkler Graf in heller Landschaft © Thilo Beu

Konstanze Lauterbach wollte den Nachweis erbringen, dass das Stück keineswegs unspielbar ist, und das ist ihr gelungen. Denn "Öderland" steht dramaturgisch in einer Linie, die sich vom Expressionismus zum absurden Drama spannt und wirkt aus heutiger Sicht wenn nicht gelungener, so doch interessanter und aufregender als der politisch korrekte Schulstoff der späteren Werke. Lauterbach lässt die Schauspieler expressiv agieren und arbeitet auf einer offenen Bühne wie aus Eis oder Marmor (Kathrin Frosch) mit deutlichen Zeichen. Bereits am Anfang ist der von Jan Pröhl beeindruckend gespielte Staatsanwalt durch eine lange, vom Schnürboden herabhängende Schnur, an der Fotografien des Mörders befestigt sind, metaphorisch mit diesem verbunden: Die Nabelschnur ist aber zugleich eine Zündschnur; es ist eine Frage der Zeit, bis die gefährlich enge symbiotische Verbindung des Anklägers mit dem Angeklagten zu einer Explosion führt. Winzige Äxte, die in Eisblöcken eingefroren sind, erzählen die gleiche Geschichte: Wir haben es mit Zeitbomben zu tun. Vor der Pause lässt die Regisseurin das ganze vierzehnköpfige Ensemble an der Rampe Goethes Ballade vom "Zauberlehrling" deklamieren: Die Geister, die ich rief, werd' ich nun nicht los. Ein effektvoller Einfall, der allerdings die Quintessenz des Stücks ein wenig zu sehr einengt auf die Idee der epidemischen Wirkung einer wagemutigen Tat – es somit zu "pädagogisch" nimmt.

Aus der Zeit gefallen
So ist es nicht ganz gemeint: Frisch gibt der anarchischen Rebellion des Staatsanwalts wenigstens zum Teil auch recht, auch wenn sie keineswegs zu einer Lösung seines Problems führt – gerade das ist das nachhaltig Beunruhigende. Die vielen Figuren um den Protagonisten herum sind entweder zu Funktionsträgern erstarrt oder zu Trollen mutiert wie die Köhler, die er im Wald trifft. Lediglich die sirenenhafte blonde junge Frau, die in gleich dreifacher Ausfertigung auftritt, hat Anteil am anarchischen Schwung der Hauptfigur, feuert diesen sogar an: Laura Kiehne spielt dieses Mädchen mal als naive Fee, mal als kühle Circe.

In seiner fremdartigen Anmutung ist dies ein erstaunlicher Abend, wie aus der Zeit gefallen und womöglich gerade deshalb up-to-date. Am Ende sind es keine Geister: Am Ende ist es dieser dunkle, trotz des Verhängnisses, in das er sich verstrickt hat, äußerst lebendige Graf Öderland, den man lange nicht mehr los wird.

 

Graf Öderland
Eine Moritat in zwölf Bildern von Max Frisch
Regie: Konstanze Lauterbach, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Karen Simon, Musik: Achim Gieseler, Dramaturgie: Carola Hannusch.
Mit: Jan Pröhl, Floriane Kleinpaß, Tom Gerber, Laura Kiehne, Jörg Malchow, Rezo Tschchikwischwili, Sven Seeburg, Cornelia Kempers, Johann David Talinski, Ines Krug, Jens Ochlast, Stefan Diekmann, Gerhard Hermann, Lisa Jopt.

www.schauspiel-essen.de

 

Kritikenrundschau

In großen, unverbrauchten Bildern bewege Konstanze Lauterbach das Stück zwischen Märchen und Zivilisationskritik, schreibt Andreas Rossmann in der FAZ Sonntagszeitung (5.2.2012). "Auf der Bühne von Kathrin Frosch, auf der marmorierte Eiswände und Großfotos eingesetzt werden, wird eine bedrückende Parabel über die Dialektik der Macht erzählt. So neu gesehen, gerät die 'Moritat' in eine irritierende Reibung mit der Wirklichkeit."

"Ein Bühnenwerk, um das derart gerungen wurde, das aber relativ selten zu sehen war, das wird leicht zu einem Theatermythos", schreibt Arnold Hohmann auf dem Portal Der Westen (6.2.2012). Konstanze Lauterbach zeige jedoch, "dass auch Mythen noch sehr viel Leben versprühen können". Dabei sei sie "vor allem an starken Bildern interessiert". Allerdings sei es auch "eine reife Schauspielerleistung", wie Jan Pröhl "seinen Staatsanwalt aus dem Minusbereich seiner Seele herausführt, den Bürokraten in sich jedoch nie ganz abschütteln kann". Eine "erstaunliche Stückauswahl" führe in Essen "zu einem erstaunlichen Abend. Er wäre noch besser, wenn die Regisseurin gelegentlich zurückhaltender in Sachen Deutung wäre."

"Graf Öderland" sei "ein Psychothriller und ein Traumspiel", sagt Stefan Keim auf Deutschlandradio Kultur (3.2.2012), und Konstanze Lauterbach stelle die 'Moritat in zwölf Bildern' in ihrer Doppelbödigkeit auf die Bühne". Leider kippe sie aber auch "angestaubte Regietheaterästhetik in diese Aufführung und nimmt ihr dabei einiges an Wirkung. Die für Konstanze Lauterbach typischen expressiv-übersteigerten Bewegungen wirken in vielen Szenen manieriert und lenken vom Kern der Sache ab." Jenseits dieser Mätzchen gelinge es der Regisseurin und dem Ensemble indes, "auf dem schmalen Grat zwischen Farce und Drama zu wandeln, ohne in eine Richtung abzustürzen".

 

 

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