altDie Suche nach der schnellen Feierabend-Katharsis

von Kai Krösche

Wien, 4. Februar 2012. "ein schwarzer Wagen / fährt bei Nacht / durch die Stadt, / nach Einbruch der Dunkelheit / fährt ein großer / schwarzer Wagen / durch die Straßen der Stadt, / und holt unsere Kinder." – Auch wer nicht das Programmheft zur Wiener Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs selbstinszeniertem neuem Stück "Das fliegende Kind" besitzt, wird wohl am Ende des anderthalbstündigen Abends diese Sätze wenigstens so ungefähr mitsprechen können. Denn Schimmelpfennig scheint viel an diesen Sätzen zu liegen, so viel, dass er sie gleich ein gefühltes Dutzend Male seinen verschiedenen Figuren leicht variiert in den Mund legt. Der Grund allerdings, diesen sehr kurzen Abend durch dauernde Wiederholungen fürchterlich zu zerdehnen, will sich nicht erschließen.

Der Glöckner und der Teilchenbeschleuniger

Das Stück selbst ist schnell erzählt: Sankt Martins-Tag in einer Großstadt, Kinder ziehen mit ihren Laternen umher, Ehepartner treffen sich beim Gottesdienst heimlich vor der Tür mit ihren Geliebten, während die anderen von einem Stelldichein mit südamerikanischen Wissenschaftlerinnen träumen; ein Glöckner beobachtet von seinem Turm aus das Treiben, drei Kanalarbeiter horchen unter der Erde auf das Geschehen über ihnen und sinnieren über den Teilchenbeschleuniger CERN; schließlich setzt sich ein Mann auf dem Weg zu einem Vortrag ebenjener südamerikanischen Wissenschaftlerin in seine große, schwarze neue Karre und am Ende, obwohl man das eigentlich auch schon am Anfang weiß, wurde ein Kind totgefahren, wahrscheinlich von dem Mann im schwarzen Auto. Kurz vorher war es noch dem Glöckner als Geist erschienen, als fliegendes Kind, um mit ihm über Fragen von Endlich- und Ewigkeit zu sprechen.

kind 1 560 reinhard werner uWenn der Kanalarbeiter erzählt: Johann Adam Oest, Peter Knaack, Falk Rockstroh, Barbara Petritsch, Christiane von Poelnitz. © Reinhard Werner Das klingt wie und ist auch eine typische Schimmelpfennig-Story. Übernatürliches, Absurdes, Magisches wird vermischt mit der Banalität alltäglicher Situationen auf der Suche nach, naja, irgendetwas Tierferliegendem, meist der Kehrseite eines wohlsituiert-bürgerlichen Lebens in der westlichen Welt. Untypisch aber ist jene, bei früheren Schimmelpfennig-Stücken allenfalls latente, stark moralisierende Komponente, die in "Das fliegende Kind" voll ins Rampenlicht tritt: Da erscheint die Großstadt als gefahrvoller Ort ausgehöhlter Werte, an dem Männer an St. Martin notdürftige Frauen ignorieren, während sie mit ihrem sündteuren Wagen einem Seitensprung hinterherfahren (den sie – Achtung, Bedeutung! – auf einem Vortrag zum südamerikanischen Regenwald zu treffen hoffen); in dem die Kinder aufs Verklärteste unschuldig erscheinen und einer ständigen abstrakten Bedrohung ausgesetzt sind – und in dem der Teilchenbeschleuniger in der Schweiz noch als düstere Maschine erscheint, wie sie die Boulevardpresse nicht realitätsferner zeichnen könnte.

Sprachgekünstel und Phrasendrescherei

Zugleich verpackt Schimmelpfennig seine krude Mischung aus Banalitäten und symbolisch aufgeladenen, von spießbürgerlicher Angst gezeichneten Unheilsszenarien in ein Sprachgekünstel, das glaubwürdige (aber durch das ständige Wiederholen eben gerade nicht an Bedeutung oder Tiefe gewinnende) Dialoge mit pseudopoetischer Märchensprache vermischt. Da hilft es auch nichts, daß das hochkarätige Ensemble sein Bestes versucht, dem Text eine tiefere Bedeutung zu verleihen: Die Schauspieler sind von der Regie dazu verdammt, 90 Minuten auf der Bühne hilflos vor sich hinzuspielen, ohne auch nur einen kurzen Augenblick das Interesse auf sich zu ziehen, geschweige denn den Betrachter zu berühren.

kind 2 560 reinhard werner uSankt-Martins-Tag in Wien: von links  Christiane von Poelnitz, Regina Fritsch, Barbara Petritsch, Johann Adam Oest, Peter Knaack, Falk Rockstroh. © Reinhard WernerBei so viel bedeutungsschwangerer Phrasendrescherei wirken auch die großen, die Schauspieler auf der Bühne gefangen haltenden schwarzen Wände von Johannes Schütz irritierend gehaltlos. Hätten sie einer anderen Inszenierung eines anderen Stücks vielleicht genau jenen aufs Wesentliche reduzierten Rahmen verschafft, dessen es für eine intensive Schauspielertheater-Erfahrung bedarf, so wirken sie in Schimmelpfennigs Inszenierung schlicht und ergreifend leer. Da helfen auch nicht die drei großen (Toten-)Glocken, die im besten Falle noch als Schimmelpfennig-Schütz'sches Selbstzitat verstanden werden können (man erinnert sich an den Gong auf der Bühne von "Der goldene Drache"), viel eher aber wie eine schön-leere Effekte produzierende Dopplung des im Stück vorkommenden Kirchen-Schauplatzes wirken.

Theater kann das Unbegreifliche mit den ihm eigenen Mitteln erahnbar machen, mit Gefühl und Abstraktion dort weitermachen, wo der Verstand an seine Grenzen stößt. "Das fliegende Kind" schafft jedoch in seiner oberflächlichen Schwafel-Poesie das exakte Gegenteil: Nämlich, dass das Ungeheuerliche, das maßlos Tragische zur Banalität verkommt, schlimmer noch: zum verkitschten Märchen für besser situierte Großstädter auf der Suche nach der schnellen Feierabend-Katharsis. Das ärgert bei einem Dramatiker, der es eigentlich viel besser kann – oder wenigstens einmal konnte.

 

Das fliegende Kind (UA)
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Roland Schimmelpfennig, Bühne: Johannes Schütz, Kostüm: Lane Schäfer, Johannes Schütz, Dramaturgie: Klaus Missbach, Licht: Felix Dreyer.
Mit: Christiane von Poelnitz, Regina Fritsch, Barbara Petritsch, Peter Knaack, Falk Rockstroh, Johann Adam Oest.

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Im Wiener Kurier (5.2.2012) schwärmt Peter Jarolin: Die Uraufführung von "Das fliegende Kind" gebe viele Rätsel auf, sei anstrengend und betörend zugleich, "darf als großer, geheimnisvoller Wurf gewertet werden". Aus einem simplen, tragischen Verkehrsunfall mache Schimmelpfennig ein hochgradig musikalisches, stellenweise auch unfassbar komisches Vexierspiel mit Ebenen, Zeiten, Zufällen und Befindlichkeiten. Er werfe Fragen auf, bleibe Antworten schuldig, mache das aber so konsequent, dass es aufgehe. Die sechs Schauspieler spielten im Laufe des Abends "vom Kleinkind bis zur Vogelstimme so ungefähr alles, was es gibt". Und das "mit einer Virtuosität, einer Intensität, wie sie ganz selten zu erleben ist." "Das Theater als perfekt getimtes Spiel mit dem Spiel – bei dieser Produktion wird dies zum Credo. Und wirkt noch lange, lange nach."

"Fußen große Dramen meist auf schwerwiegenden, sich argumentativ zuspitzenden Konflikten, so klafft in 'Das fliegende Kind' die große nichtige Banalität: Nichts als ein blöder Zufall führt zu diesem Unfalltod", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (6.2.2012). In seiner Inszenierung bediene der Autor-Regisseur sich kleiner musikalischer und geräuschhafter Manöver, um die "in manchem auch überkonstruiert wirkende" Episode in Schwingung zu versetzen. Außerdem bediene er sich filmischer Mittel und entgehe mit dieser Form der Spannung und Dynamik jedem falschen Pathos, während zugleich die Tragik vollkommen zuschlage. "Dieses den mehr oder weniger immer gleichen Prinzipien folgende Theatermodell Schimmelpfennigs (siehe auch 'Der goldene Drache') ist vielleicht die zeitgenössischste Form heutiger Dramatik: handlich, sinnlich, inhaltlich engagiert."

Für Die Presse (6.2.2012) beschreibt Norbert Mayer Schimmelpfennigs neues Stück als "Kompaktausgabe einer antiken Tragödie, die musikalisch angelegt ist, in Wiederholungen schwelgt und auch das Pathos nicht scheut". "Das Auto ist schwarz und groß, die Gedanken der Erwachsenen sind klein, verzagt, triebgesteuert. Dennoch entsteht manchmal etwas Poesie." Schimmelpfennig mixe Alltägliches mit Exotischem und Geheimnisvollem so, dass es Interesse wecke und sogar rühre, "selbst wenn die Substanz in diesem Fall ein wenig mager geraten scheint". "Zum Glück für die Aufführung" (über die Mayer sonst nicht viel schreibt) seien sechs "äußerst disziplinierte Schauspieler" am Werk, die so gut harmonieren, dass es niemals verwirrend, sondern immer bereichernd ist, wenn sie voneinander die Rollenspiele übernehmen. Das Stück werde also vom Ensemble "konsequent vorangetrieben", "sparsam in der Dramatik, zu Hause im Pathos und ganz im Ton eines bösen Märchens."

Der Text wiederhole Sätze, Parolen und Beschreibungen, sei "üppig bis dort hinaus", schreibt rr in den Oberösterreichischen Nachrichten (6.2.2012). "Das fliegende Kind" sei trotzdem "sicher nicht das beste Stück dieses viel gespielten deutschen Dramatikers". Es komme mit einem ziemlich moralisierenden Impetus "und der Erkenntnis, Lebenslügen funktionieren nicht ewig, vor allem dann nicht, wenn das Schicksal Zufall spielt", daher. "Wenn dieser Text nicht von einem so exzellenten Darsteller-Sextett umgesetzt wird", so die/der anonyme Rezensent/in, "schwant mir nichts Gutes."

Bei Schimmelpfennig überwiege das epische Moment bei weitem das dramatische, schreibt Ulrich Weinzierl in der Welt (6.2.2012). Das habe Vorzüge, berge jedoch auch Gefahren. "Soll ein vornehmlich erzähltes Drama seine Wirkung entfalten, liegt der Schwerpunkt der Gestaltung auf formalen Aspekten." Die neigten irgendwann dazu, sich zu verselbständigen und das Psychologische allzu sehr in den Hintergrund zu drängen. "So geschah es leider jetzt in Wien." "Das fliegende Kind" sei handwerklich perfekt und ungemein hübsch geraten, beschere ohne Zweifel streckenweise ästhetisches Vergnügen. "Doch wir hätten gerne auf das Danaergeschenk des Dekorativen verzichtet. Es zerstört von innen."

Wenig begeistert schreibt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.2.2012): Den Text trügen die zumeist Schimmelpfennnig-erfahrenen Schauspieler in verteilten Rollen vor und gäben "ihr ansehnlich Bestes, um den Abend vor einem Sturz in den Betroffenheitskitsch zu bewahren." Schimmelpfennigs Marotte, durch ständige Wiederholung des immerselben Sachverhaltes, ja wörtlichen Textes, auch noch dem letzten verschlafenen Zuhörer klarzumachen, dass trotz anfänglich spaßigen Einstieges – der Glöckner bildet sich ein, auf der Kirchturmbrüstung einen Leguan zu sehen – hier bestimmt keine Komödie gezeigt wird, geht nicht mehr auf."

Als "kleinteilige Todesfuge" beschreibt Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (8.2.2012) den Abend. Es sei zugleich "Horrorstück und schwarze Komödie, tragisch und furchtbar alltäglich, der Versuch, ein schwarzes Loch zu beschreiben, gerissen vom Tod." In seiner pointillistischen Minimaldramatik vermische Roland Schimmelpfennig "wundersam" Banales mit Rätselhaftem, "bis alles mit allem zusammenzuhängen scheint". Dieses vielstimmiges Wortkonzert macht aus Sicht der Kritikerin auf virtuose Weise aus seinem tragisch-banalen Stoff "ein feingespinstiges, dunkel poetisches, das Allzu(normal)menschliche genau unter die Lupe nehmendes Sprachkunststück." Auch die Inszenierung begeistert sie: die sechs fabelhaften, "in ihrer kindlichen Spiellust mitreißenden Schauspieler" ebenso, wie die immer wieder ins märchenhaft Absurde abdriftende Regie Schimmelpfennigs.

"Sechs Menschen auf der Bühne zeigen, wie ein Unglück geschieht," schreibt Peter Kümmel in der Zeit (9.2.2012), der das neue Stück von Roland Schimmelpfennig zu dessen stärksten zählt. Was in früheren Stücke auf den Kritker "bisweilen schematisch, seriell und kalt" wirkt, gerät aus seiner Sicht im vorliegenden Fall zum Glück: "Schimmelpfennig treibt seine Figuren weiter in die Auflösung, aber nun ist das sinnvol". Senn das Geschehen selbst sei so stark, "dass alle Lebenden nur Zuträger sein können: Zuträger des Todes. Alles kreist um den Moment, da man es hätte verhindern müssen und es nicht verhindert hat. Das Leid wird untersucht, als könne es durch Beharrlichkeit gestillt werden, stattdessen breitet es sich aus." Dass man der Märchenwahrheit dieses Abends in keinem Moment misstraue, spricht aus Kümmels Sicht auch sehr für das Ensemble des Wiener Akademietheaters.

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