altGott des Gemetzels im Klassenzimmer

von Wolfgang Behrens

Berlin, 4. Februar 2012. Die Erwartungsfreude ist förmlich mit Händen zu greifen. Während man noch damit beschäftigt ist, sich im dichten Gedränge des Foyers ein paar Volumenanteile Bewegungsfreiheit zu erkämpfen, kann man von allen Seiten Stimmen vernehmen, die sich zu ihren Premierenkarten beglückwünschen. Die Zuschauer scheinen sich schon im Vorhinein ganz sicher zu sein, dass sie hier genau am richtigen Ort sind. "Eine Kollegin hat gesagt: Das ist doch genau dein Stück! Da hab' ich mich gleich um Karten bemüht", sagt eine Dame. "Und ich gehe in zwei Wochen gleich noch mal rein", sagt eine andere in der ruhigen Gewissheit, dass sie der bevorstehende Abend nicht enttäuschen wird.

Dramatisches Potenzial Erziehung

"Genau dein Stück": Selten genug, dass man so etwas im Theater hört. Hier jedoch reicht die bloße Nennung des Untertitels, um die Menschen zu überzeugen, dass das Stück sie etwas angehen wird: "Komödie über einen Elternabend". Das dramatische Potential eines Elternabends muss man niemandem erklären, denn fast alle haben es bereits am eigenen Leib erfahren dürfen. Merkwürdig nur, dass die zeitgenössische Dramatik einen solchen Stoff so lange achtlos hat liegen lassen. Sind sich die Autoren für eine derart konkrete Thematik zu fein?

Einer, der sich nie zu fein war, ist Lutz Hübner. Wenn es irgendwo ein heißes gesellschaftliches Eisen gibt, dann packt er es an und in ein Stück hinein. Das kann auch mal gewaltig schief gehen (wenn es denn, wie etwa in "Bankenstück" oder "Gotteskrieger", einfach zu platt wird), meist aber werden daraus wirkungssichere und robuste Bühnentexte. So wie bei "Frau Müller muss weg". Vor zwei Jahren in Dresden uraufgeführt, wird das Stück seitdem von Bautzen bis Ingolstadt quer durchs Land von Bühne zu Bühne gereicht und ist nun auch in Berlin angekommen, im Erwachsenenspielplan des Kinder- und Jugendtheaters Grips.

fraumueller 280 david baltzer hKatja Hiller und Regine Seidler in "Frau Müller muss weg". © David Baltzer/ Bildbühne.de

Realschulempfehlung und andere Feindbilder

Was den Stoff diesmal so brisant macht, ist die Tatsache, dass Hübner an zwei Gebote aus dem modernen Eltern-Dekalog rührt: "Du sollst dein Kind aufs Gymnasium schicken" ist das eine, "Du sollst nicht an den Erziehungsmethoden deines Nächsten herumkritteln" das andere. Im Grunde wissen ja alle um die Lächerlichkeit dieser Imperative, aber wehe man ist selbst der Betroffene! Dann hört der Spaß auf. Und ein Satz, wie ihn die Grundschullehrerin Frau Müller in Hübners Stück sagt: "Es gibt Kinder, für deren Entwicklung es besser ist, auf einer Realschule glücklich zu sein, als unglücklich auf einem Gymnasium", mag in der Theorie Zustimmung finden, in der Praxis ist er ein No-Go.

Die Ausgangskonstellation von "Frau Müller muss weg" ist einfach und klar: Einige Eltern sehen die Gymnasialempfehlung ihrer Kinder gefährdet und bestellen nun die Klassenlehrerin zum Gespräch, um ihr mitzuteilen, dass sie die Klasse abgeben müsse. Denn wer anderes als die Lehrerin kann an den schwächelnden Leistungen der Kinder schuld sein? Natürlich kommt dann nach und nach raus, dass die Eltern selbst ein ganzes Schock Probleme mit sich herum- und auf dem Rücken ihrer Kinder austragen. Ganz abgesehen davon, dass sie alle fest davon ausgehen, das ideale Konzept für die optimale Entwicklung ihrer Kinder in der Tasche zu haben. Dass in der Folge der komödiantische Gott des Gemetzels durch diesen Elternabend im herbstprojektlich geschmückten Klassenzimmer tobt, dürfte kaum überraschen.

Kenntliche Typen, kleine Überzeichnungen

Das Grips Theater hat für die Inszenierung von "Frau Müller muss weg" den Filmregisseur Sönke Wortmann ("Der bewegte Mann", "Das Wunder von Bern") gewinnen können. Im Vorfeld konnte man vielfach lesen, was ihn vermeintlich besonders für diese Aufgabe qualifiziere: Sönke Wortmann hat selbst drei Kinder. Mag sein, dass das motivationsförderlich war. Eine vorzügliche Wahl ist Wortmann freilich deswegen, weil er als Regisseur die Kunst beherrscht, kenntliche Typen zu inszenieren, die gerade noch keine Karikaturen sind. Und weil er ansonsten vollkommen auf die Kraft der Vorlage vertraut.

Es sind die kleinen Überzeichnungen und die treffsicher aufgespießten Klischees, mit denen Wortmann und Hübner die Lach- und Wiedererkennungslust des Publikums anfachen. Wenn Regine Seidler als durch und durch strukturierte, mit fester Autorität agierende Frau Müller routiniert den Thermobecher aufs Lehrerpult knallt, hat sie die Wissenden im Publikum gleich auf ihrer Seite: Ja, so sehen die Thermobecher der Grundschullehrerinnen aus.

Liebevoll hergerichtet

Manchmal geht das wissende Gelächter auch in Szenenapplaus über: Dann scheinen immer die zu klatschen, die der Ansicht sind, dass eine der Figuren jetzt mal ganz zu Recht einen übergebraten bekommen hat. Wenn der so biederen wie überforderten Gutmenschen-Mutter (Alessa Kordeck) des so wunderbaren und hochbegabten Kindes Lukas ihr "Klassenkasper mit ADS" um die Ohren gehauen wird, dann bricht regelrecht schadenfroher Jubel aus. Der um die richtige Förderung seiner Tochter besorgte Hartz-IV-Vater (von René Schubert mit larmoyantem Ossi-Akzent ausgestattet) wiederum muss sich von der knallharten Karrierefrau (Katja Hiller) mit dem wohlstandsverwahrlosten Daddelnachwuchs sagen lassen: "Such dir einen Job und kauf dir einen Hund, aber lass das arme Kind in Ruhe." Auch dieser Satz wird von einem Teil der Zuschauer mit großer Zustimmung aufgenommen.

Und so findet hier jeder auf der Bühne jemanden, mit dem er sich ein bisschen identifizieren kann, vor allem aber findet auch jeder ein paar liebevoll hergerichtete Feindbilder bestätigt. Es ist halt genau dein Stück. Am Ende wurde ausgiebig gejohlt. Und in zwei Wochen gehen sicherlich einige gleich noch mal rein.


Frau Müller muss weg
Komödie über einen Elternabend
von Lutz Hübner, Mitarbeit Sarah Nemitz
Regie: Sönke Wortmann, Bühne und Kostüme: Thurid Peine, Dramaturgie: Kirstin Hess. Mit: Roland Wolf, Alessa Kordeck, Nina Reithmeier, Katja Hiller, RenéSchubert, Regine Seidler.

www.grips-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Frau Müller muss weg" sei "ein schlau gebautes Stück", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (6.2.2012). Und Sönke Wortmann inszeniere es "klasse. Ohne sich als Regisseur übermäßig sichtbar zu machen, und ohne den Grundernst des Themas zu überspielen, legt er einen schnörkellos spannenden und immer wieder sprühend amüsanten Elternabend in 80 Minuten hin." Lange habe man das Grips-Ensemble "nicht so gut gesehen. Die von Hübner nur leicht überzeichneten Typen sind erkennbar der Realität abgeschaut – entsprechend lustvoll-nuanciert legen die Spieler ihre Figuren an. Wer je einen Elternabend besucht hat, wird vom Schauder des Wiedererkennens ergriffen."

Lutz Hübner habe die Gespräche seines Stücks "dem Leben abgelauscht, geschickt verdichtet und pointiert", meint Cornelia Geissler in der Berliner Zeitung (6.2.2012). Die wenigen Zuschauer unter zwanzig könnten "der Handlung zwar folgen, doch die Lacher, Juchzer und der Szenenapplaus kommen von Leuten um die vierzig und älter". Sönke Wortmann schicke "die sechs Schauspieler von einem souveränen Auftritt zur Verzweiflung und zurück". Die Lehrerin aber, "verkörpert von Regine Seidler, wird bei Wortmann zur Lichtgestalt des Stücks. Der Regisseur liefert sie im Alle-gegen-Einen-Spiel an keinem Punkt wirklich aus. Und während Eltern an diesem Abend über sich selbst lachen müssen, dürften Lehrer sich wohlfühlen."

Völlig anders sieht das Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.2.2012). Eine Regie finde überhaupt nicht statt. "Als würden sie dauernd in Großaufnahme agieren müssen, redet stets nur ein einziger Darsteller, indes die anderen ruhig und reglos herumstehen, sich irgendwo anlehnen, auf Kinderstühlen hocken, wie um den jeweiligen Sprecher – nicht Spieler – keinesfalls zu stören. Aber Theater geht anders." Dass im Publikum trotzdem viel gelacht werde, sei einzig Lutz Hübner zu verdanken.

mehr nachtkritiken