altRaus aus der Kiste

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 16. Februar 2012. Mit versteinertem Gesicht steht Nora da und lässt uns ohne jede Seelenregung die erste Regieanweisung hören, die Beschreibung des "Puppenhauses", von dem wir nichts zu sehen bekommen, weil es bestenfalls in der Vorstellung der Protagonisten existiert (oder in der Performance, die diese Leute nach außen geben wollen). So schneidig, wie ihre Stimme klingt, ist sogleich klar: Nichts da mit heimeliger Vor-Heiligabend-Stimmung. Nora weiß natürlich schon im Voraus, was Thorwald Helmer sagen wird, wenn er jetzt gleich bei der Tür hereinkommt: Hat mein Vögelchen wieder…

Sie ist eine, die mitspielt, ihm nach dem Mund redet, indem sie einfällt in seine Stehsätze und Reizwörter. Das kostet viel emotionale Kraft. Ein überdimensionales Weihnachtspaket ist auf der Bühne, mit roter Riesenschleife. Allein dieses Ding hin und her zu schieben braucht's Energie. Und es werden solcher Pakete, echter Zuwendungs-Mogelpackungen, mehr.

Spiel des Nehmens und Gebens

Bei einem bitterbösen, die Seelen mordenden Spiel also macht Nora mit: Thorwald Helmer, der ans System angepasste Mensch, hat das Geld. Und sie braucht mehr Geld. Die neurotische Beziehung beider dazu dürfte gleich geartet, aber verschieden ausgeprägt sein. Mag ein anderer Liebhaber ein Bonbon zwischen die Lippen nehmen und es seiner Geliebten Mund an Mund reichen: Der Macho Thorwald tut dasselbe mit Geldscheinen, die Nora schnappt und dann gierig ins Dekolletee stopft. nora4 280 lupi spuma uEvi Kehrstephan als Nora © Lupi Spuma

Der deutsch-polnische Regisseur Wojtek Klemm erzählt uns keine Emanzipationsgeschichte. Er liest Ibsens Text in Richtung Neoliberalismus. Da wird nicht mit dem Herzen gefackelt, sondern gegeben und genommen auf klare Gegenrechnung. Liebe ist nicht das Thema, keiner erwartet sie, es ist ein sinnentleertes Wort. Simon Zagermann gibt den Thorwald Helmer als dauerbrünstigen Besserwisser, der sich seine Dominanz übers Vögelchen/Häschen/Täubchen/Eichhörnchen glücklicherweise leisten kann. Evi Kehrstephan, eine starre und verhärmte Nora, zeigt uns, was für eine unendliche Mühe auch nur einigermaßen freundliche Miene bei so bösem Spiel kostet.

Körperliche Versehrtheiten

Körpersprache ist ganz wichtig in Wojtek Klemms Theater, drum hat er sogar einen Choreographen (Maciej Strycharski) im Team. Die seelischen Unausgeglichenheiten schlagen sich bei allen in spastischen Bewegungen, in zwanghaften Gesten oder unkontrollierbaren Zuckungen nieder. Auch Stehsätze und kleine Dialogszenen werden oft wiederholt. Besonders arg sind die körperlichen Starrheiten und Krämpfe bei den Außenseitern: Claudius Körber spielt den Dauer-Gast und heimlichen Verehrer Noras Doktor Rank, Verena Lercher die Arbeit suchende Kristine Linde. Und dann erst Nils Krogstad, der Nora erpresst, weil sie die Unterschrift ihres Vaters gefälscht hat! Gerhard Liebmann führt uns einen  Zwangs-Neurotiker in Reinkultur vor.

Der Neoliberalismus frisst jene, die außerhalb des Systems stehen, genau so wie die eigenen Kinder. Der Regisseur hat eine großzügiger Strichfassung des Ibsen-Textes gemacht (das ist statthaft, das Stück kennt man ja und hat die Zusammenhänge im Kopf). Umso reicher die körpersprachlichen Subtexte. Und obendrein ist manches Zitatwerk eingeflochten, von den Thomas Manns "Buddenbrooks" bis zum "Kapital" von Karl Marx und gar bis zu Anders Behring Breiviks "Manifest 2083".

Klar, suggestiv, verspielt

Besonders eindrucksvoll, wenn Gerhard Liebmann als Krogstaad aus Heiner Müllers "Der Auftrag" rezitiert. Dieser Nils Krogstaad kommt zuerst als Schachtel mit Beinen auf die Bühne, und er wird dieser seiner Schachtel-Existenz im Lauf des Abends kaum entrinnen, wie überhaupt Konflikt-Dialoge gerne in den Mascherl-gezierten Riesenschachteln geführt werden. nora2 280 lupi spuma u  © Lupi Spuma

Der Ruf "Raus aus der Kiste!" kann so oder so, gut gemeint oder bedrohlich wirken. Die Schachtel steht schließlich fürs System, fürs Establishment, für Puppenhaus und Ehe, für Enge in jeder Hinsicht. Das ist so einfach und suggestiv wie das gesamte karg-klare szenische Konzept.

Unsäglich Noras Kleider: Irgendwie sieht sie immer aus wie eine brave Hausfrau aus Werbefilmen der sechziger Jahre, die eben mal den Staubsauger weggelegt hat, weil der Ehemann heimkommt. Die letzte Szene, das letzte Rollenspiel: Thorwald Helmer in Verkleidung, als ziemlich lächerlicher "Superman", dessen Kostümierung ein rosa Hasenschwänzchen vorne vollends ad absurdum führt. Und sie, die eben als vermeintlich folgsames Bunny getanzt hat, umschleicht jetzt ihren Mann, der seine Eloge von Verzeihen loslässt, sprungbereit wie ein Tiger. Ein letztes Mal müssen all die anderen in die Kiste, Nora hüpft auch hinein, tritt und stampft auf sie: Leicht wird sie es nicht haben, wenn sie erst mal gegangen sein wird.
 

Nora
von Henrik Ibsen, Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Wojtek Klemm, Bühne: Mascha Mazur, Kostüme: Julia Kornacka, Choreographie: Macije Prusak, Musik: Dominik Strycharski, Dramaturgie: Christian Mayer.
Mit: Simon Zagermann, Evi Kehrstephan, Claudius Körber, Verena Lercher, Gerhard Liebmann.

www.schauspielhaus-graz.com

 

Kritikenrundschau

Im Standard (18.2.2012) freut sich Colette M. Schmidt nicht nur über das "hübsche rote Dekolleté" Noras, sondern auch über die zweite Ebene, die Klemm mit viel Körperarbeit einziehe. "Da steht nicht Ibsens devote vergnügte Ehefrau, die ihrem Mann Spielzeug und Statussymbol statt Gefährtin ist", sodern von vornherein eine starke und aggresive Frau, die bald ausbrechen wird.

Wojtek Klemm dekonstruiere "lustvoll Ibsens Architektur eines großbürgerlichen Luftschlosses", schreibt Michael Tschida in der Kleinen Zeitung (18.2.2012). Er entbeine "das Textkorpus des großen norwegischen Dramatikers, ohne es blutleer zu machen, und fügt noch lässig Fremdes hinzu. Auch Powerpoint, Onanie-Witz, Biene-Maja-Kostüm. Für manche Zuseher bleibt mit den schnellen Schnitten des 40-Jährigen wohl zu wenig Ibsen übrig, aber doch sitzen sie genau." Klemm habe "für seine freche, aber nie respektlose Lesart zwei echte Trümpfe in der Hand: Zum einen komponiert er die Szenen (k)einer Ehe hochmusikalisch. Und zum anderen sorgt auch ein eigener Choreograph (Maciej Prusak) für einen teils komischen, teils bizarren Fluss in dieser Lebenssuite in Moll".

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