altAm Ende ein Schummelreiter

von Matthias Schmidt

Naumburg, 18. Februar 2012. Dass sie Geld für ein Theater ausgibt, macht die Stadt Naumburg / Saale überaus sympathisch. 13 Mitarbeiter hat das Haus insgesamt, das Ensemble besteht aus vier Schauspielern. Ein sehr kleines Theater, aber Naumburg ist ja auch nicht groß. Und klein ist besser als gar nicht, erst recht in einem Landkreis, in dem die NPD im Kreistag sitzt und mit Hüpfburgen und dem Bekenntnis zum Breitensport den Eindruck zu erwecken versucht, sie sei zu etwas Nutze.

Unter dem Label "Kleinstes Stadttheater Deutschlands" haben die Naumburger in den letzten Jahren ihr Angebot zunehmend von Figuren-, Kinder- und Jugendtheater erweitert auf ein volles Repertoire. In der laufenden Spielzeit versprich es mit dem Motto "Vorsicht Klassik!" "Sprengstoff von gestern für heute".

Der bauernschlaue Deichgraf

Theodor Storms "Schimmelreiter" wird immer mal wieder daraufhin abgeklopft, wie heutig er ist, und so geht auch das Theater Naumburg mit einer eigenen Fassung der Novelle ans Werk. Eine Uraufführung also. Martin Pfaff, hier Autor und Regisseur in einem, verzichtet auf die Rahmenhandlung, sondern lässt seine Schauspieler einen Prolog ins Publikum sprechen, in dem es sinngemäß heißt, dies sei Hauke Haiens Geschichte, und er käme immer wieder. Dann kommt er, und die Inszenierung setzt ganz auf erzählerisches, anschauliches Theater: so einfach und klar wie das Bühnenbild, ein sich mitten durch die Zuschauer windender, leicht ansteigender Steg, etabliert sie die Geschichte.

schimmelreiter 1 560 uKatja Preuss, Tobias Weishaupt und Holger Vandrich auf dem Naumburger Steg. © Torsten Biel

Hauke Haien wird als einer vorgestellt, der das Zeug zum Helden hat, weil er rechnen kann und denken und sich einen Dreck um die Konventionen schert. Vor allem um die deichbautechnischen. Tobias Weishaupt gibt ihn als von seiner Sache überzeugt, als bauernschlauen Hoffnungsträger, der quasi naturgegeben weiß, wie ein besserer Deich aussehen muss. Kein Sympath, aber wenigstens auch kein mit Pathos stilisierter Held.

Abgehakt

Schon hier aber werden die Grenzen der heftig gekürzten Fassung sichtbar. Sie erzählt nur so viel, wie für den Fortgang der Handlung nötig ist. Für die Schnörkel und Umwege, die den Storm-Text so interpretierbar und analysierbar und reizvoll machen, hat sie kaum Zeit. Geradlinig und straff marschiert sie weiter: Hauke wird Deichgraf, baut den neuen Deich, wird Vater. Und so weiter. Es macht zwar Spaß, dieser sparsamen, dichten Inszenierung zu folgen, und doch schleicht sich ein Unbehagen ein: dem Abend fehlt Bedeutung. Der Konflikt zwischen dem Erneuerer und den Verfechtern des Alten, des Mystischen wird ebenso banal gespielt wie beispielsweise der Deichbau. Aberglauben und Magie, das "Lebige", das in den Deich muss (was Hauke bei Storm verhindert, in Naumburg aber zulässt) die geheimnisvolle Schimmel-Geschichte, die Behinderung des Kindes – das alles kommt nur vor. Abgehakt. Eine Rolle spielt es nicht.

Hauke Haien ist der Mittelpunkt des Stückes, inhaltlich und formal. Für die anderen gilt mehr oder weniger "jeder spielt jeden". Obwohl das nicht immer glücklich ist, etwa wenn Katja Preuß zugleich Haukes Frau und seine Tochter ist, findet Martin Pfaff immer wieder originelle Lösungen für die auch durch Raum- und Ensemblegröße definierten Rollenwechsel. Mal sind die Spieler Erzähler in der dritten Person, dann wieder spielen sie dialogisch. Der Steg ist eine ideale Bühne, er wird zum Bild für Deich und Küste und zum Sinnbild für die mäandernden Mühen der Erneuerung.

Jetzt kommt die Flut

Als Hauke kurzzeitig seine instinkthaften Überzeugungen vergisst und seinen Gegnern glaubt, hätte die Inszenierung ihre Interpretation platzieren können. Allein, sie tut es nicht. Ein Sturm wird angesagt, das Licht geht aus, die vier Schauspieler rücken zusammen und sagen: wir sterben jetzt. Das ist schlimm für sie, aber noch schlimmer für die Inszenierung. Man musste fast annehmen, der Strom werde um 21 Uhr abgestellt und deshalb müsse man bis dahin fertig sein, so überraschend und enttäuschend kam dieses Ende.

Ohne sinnhaltigen Eingriff oder wenigstens eine Zuspitzung oder Andeutung endet, was als Uraufführung einen eigenen Zugriff auf den Stoff versprach. Deich kaputt, alle tot, fertig. Das Neue besteht darin, dass das Alte vereinfacht wird. Dass Hauke mit dem teuflischen Schimmel in die Fluten reitet, nachdem er Frau und Kind hat sterben sehen – gestrichen. Dass der von ihm gebaute neue Deich die Flut überstanden hat und nach ihm benannt ist – gestrichen. Das Ende - ein Schummelreiter. Oder war das die Moral von der Geschicht'? Wenn wir uns dem Neuen verweigern, gehen wir unter? Vorsicht, Klassik!

Kräftiger Beifall der Naumburger für ihr überzeugendes Ensemble.

 

Der Schimmelreiter
nach der Novelle von Theodor Storm. In einer Fassung von Martin Pfaff.
Regie: Martin Pfaff. Ausstattung: Rainer Holzapfel.
Mit: Kathrin Blüchert, Katja Preuß, Holger Vandrich, Tobias Weishaupt.

www.theater-naumburg.de

 
Kritikenrundschau

In der Mitteldeutschen Zeitung (20.2012) schreibt Roland Lüders über eine "gelungene Naumburger Premiere": Regisseur Martin Pfaff und Ausstatter Rainer Holzapfel experimentierten mit verschiedenen Stilmitteln, setzten auf einen "Mix aus Verfremdung und komödiantisch überzogener Darstellung". Hauptdarsteller Tobias Weishaupt bringe die Ambivalenz der Figur des Deichgrafen gut zur Geltung, "der den Menschen zwar helfen will, andererseits aber auch ein Leuteschinder und der größte Profiteur des Deichbaus ist". Die von Katja Preuß gespielte Elke Volkerts sei "die Lichtgestalt des Stückes, die durch ihre absolute Liebe Hauke die Umsetzung seiner hochfliegenden Pläne ermöglicht und so gleich einer Gestalt der antiken Tragödie schicksalhaft schuldlos schuldig wird".

mehr nachtkritiken