altDas Geld als Wille und Vorstellung

von Georg Kasch

Berlin, 24. Februar 2012. "So viel Geld – das ist grotesk", sagt Ljubow Andrejewna, als sie erfährt, dass und für welche Summe Lopachin ihr Gut gekauft hat. Ein Satz, der so nicht bei Anton Tschechow steht. Und auch nicht in der Übersetzung von Thomas Brasch, aber offensichtlich in dessen Bearbeitung des "Kirschgarten", in der alles etwas deutlicher, direkter gesagt wird als gewohnt. Man hat im Deutschen Theater auch ein bisschen den Eindruck, dass Ljubow Andrejewna, deren Gut (nebst berühmtem Kirschgarten) versteigert wird, um die Schulden zu tilgen, Griechenland ist und Lopachin, der neureiche Ex-Bauer, die EU oder Deutschland oder China, so genau geht das natürlich nicht auf, zum Glück.

Besitz und das Verhältnis zu ihm steckten ja schon immer in Tschechows letztem Stück, hier aber wird's zum beherrschenden Thema: Ljubow Andrejewna haut die Kohle heraus, als klebe das Blut ihres Sohnes dran, klammert aber umso fester am identitätsstiftenden Grundbesitz, Lopachin hat Geld längst zum Lebensinhalt erklärt und kriegt darüber das Leben nicht auf die Reihe, der Student Trofimow verdammt es als Quelle der Ablenkung, schnorrt sich aber durch bei jenen, die es haben, Warja braucht es, um zu heiraten oder wegzugehen und sieht natürlich keine Kopeke.

kirschgarten4 560 declair h Ein utopischer Moment? Christoph Franken, Felix Goeser, Nina Hoss. © Arno Declair

Während verbal also die Ökonomie sich in alle zwischenmenschlichen Beziehungen drängt und zumindest eine Erklärung dafür ist, warum es im "Kirschgarten" zwar ständig knistert, aber alle aneinander vorbeilieben und -sehnen, sieht man auf Katja Haß' großartiger Bühne normgestanzte Russlandromantik: Weiß ist ihr Landhaus, ein Stahlgerüst, in dem Metalltüren hängen, spitzenartig durchbrochen mit einem Muster, das an russische Folklore erinnert. Wenn von hinten das Licht durchscheint, strahlt es sakral durch die vielen kleinen Öffnungen. Ähnlich der Spagat in den ziemlich heutigen Kostümen von Anja Rabes: Stil ist hier keine Klassen-, sondern eine Einstellungs- und Geschmacksfrage.

Geister der Vergangenheit

Stephan Kimmig ist ja eigentlich ein Meister des Subtilen, des verhaltenen, tastenden Tons, der einen mit Fremdheit konfrontiert, aber so lange fest an die Hand nimmt, bis man vollkommen mitgeht bei seinen Tiefenbohrungen. Beim "Kirschgarten" dreht er laut auf: Kaum ist es hell, platzt die erste Kunstblutpatrone: da schießt Lopachin das Rot übers Gesicht nur bei der Erinnerung an ein Nasenbluten. Der Buchhalter Jepichodow knallt gegen einen Pfeiler und zermanscht die mitgeschleppten Tulpen, eine Kaffeetasse zerbirst. Als Ljubow Andrejewnas Familie eintrifft (sehr schön stehen sie da plötzlich hinter der Tür des in der Mitte verborgenen Raums, als wären sie immer schon dagewesen, aber zwischenzeitlich vergessen worden), fährt der Begrüßungstaumel als Zeitlupe in ihre Glieder. Eine Schonfrist nur, denn jetzt hetzt alles herum und wuselt mit einer Hypernervosität über die Bühne, die einen noch im Parkett ergreift: "Ich bin zuhause", sagt Nina Hoss' Gutsbesitzerin, rennt und zappelt aber, als müsste sie jeden Moment wieder los, während von Ferne eine spieluhrartige Musik tönt, als riefen die Geister der Vergangenheit.

Dieses Laute, Direkte lässt erst mal nur Umrisse zu, aber die zumeist fabelhafte Truppe der DT-Schauspieler baut in den nächsten knapp drei Stunden dann doch Charaktere auf, rau, angenehm unfertig und dabei enorm plastisch, wie angestoßen vom Leben. Einmal, da sitzt Felix Goesers Lopachin zwischen dem Geschwisterpaar: Kurz spielen sie Autofahren, eine Reminiszenz an die gemeinsame Kindheit, und dann lehnen sich Nina Hoss und der tapsige Christoph Franken zärtlich an den so selbstverständlich sicher thronenden Bauernsohn, nesteln an ihm herum – ein utopischer Moment. Bis Lopachin mit der Abholzung des Kirschgartens anfängt. Sofort sind die Gräben wieder offen, tief: Hier die, die sich über ihre Vergangenheit definieren (und nur deshalb den Besitz brauchen), dort der in die Zukunft hinarbeitende, für den Besitz Geld ist.

Unlösbarkeit der Konflikte

Goeser ist in seiner virilen Selbstverständlichkeit natürlich wahnsinnig präsent; wenn er lacht, dann blitzt auf seinen massiven Zahnreihen das blühende Leben, ein Bär, der lammfromm wird und kreidestimmig nur bei Ljubow Andrejewna. Nachvollziehbar, schließlich ist Nina Hoss auf anbetungswürdige Weise zerrissen zwischen emanzipierter Zeitgenossenschaft und Tschechow-Leid, Herrin und kleinem Mädchen, eine Spielerin mit Launen wie Frühlingswetter, die allein deshalb den Männern so auf die Haut rückt, weil sie nichts von ihnen will. Lachen und Weinen gehen oft in eins, und großartig ist, wenn sie bei "Gott erbarme dich" die Hände zum Himmel reckt und ihre Stimme vor ironischer Distanzierung und abgrundtiefer Verzweiflung gleichermaßen bebt.

Und doch wirkt das nur vor dem Tableau eines Ensembles, in der lauter spannungsreiche Charaktere die Unlösbarkeit der Konflikte herausspielen, bis in die Nebenrollen: Katrin Wichmanns Dunjascha platzt fast vor Lebenslust und -sehnsucht, Thomas Schumachers Jascha zelebriert eine berührbare Coolness und Helmut Mooshammers Firs hinter dicker Maske rührt einen stärker an als so mancher echte Greis in dieser Rolle.

Ja, dieser Abend hat seine Schwächen, merkwürdige Spannungslöcher nach der Pause etwa, wo auch die gelegentliche Überdrehtheit aufgesetzt wirkt. Dann wieder fasziniert der direkte, rohe Zugriff, dieses angenehme Schattieren zwischen prallem Leben und Melancholie, das unsentimental hohe Tempo. Dieser "Kirschgarten" ist ehrliche Arbeit – und von den jüngsten Berliner Versionen ganz sicher der spannendste.

 

Der Kirschgarten
von Anton Tschechow, in einer Bearbeitung von Thomas Brasch
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Michael Verhovec, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Nina Hoss, Natalia Belitski, Meike Droste, Christoph Franken, Felix Goeser, Elias Arens, Jürgen Huth, Angela Meyer, Harald Baumgartner, Katrin Wichmann, Helmut Mooshammer, Thomas Schumacher.

www.deutschestheater.de

 

Andere Kirschgärten inszenierten in Berlin Thomas Langhoff, dessen letzte Regiearbeit Tschechows Stück gewesen ist, und das Duo Lensing / Hein.


Kritikenrundschau

"Es geht wenig zusammen – oder wenigstens auf fruchtbare Art auseinander – bei diesem jüngsten Berliner 'Kirschgarten'", findet auch Christine Wahl auf Spiegel online (25.2.2012) und vermisst einen "klaren Zugriff" auf diesen hochaktuellen Krisenstoff. Nina Hoss mache "die Handlungsunfähigkeit ihrer Figur völlig unverkrampft und ohne zickige Allüren plausibel"; allerdings sei sie damit die "Ausnahme" im Figurenensemble. Denn "Stephan Kimmig, der eigentlich als Meister differenzierter Figurenzeichnungen gilt, scheint hier merkwürdigerweise seinen eigenen Mitteln zu misstrauen. Kaum beginnt sich mal ein nuancenreiches Spiel zwischen den Akteuren anzubahnen, bricht er die Szene mit harten Antirealismus-Maßnahmen." So liefen interessante Ansätze "schnell ins Leere, weil sie entweder plötzlich an irgend einen Slapstick verraten werden müssen oder aber jedes Ensemblemitglied sich derart in seine eigene Darstellungsweise rettet, dass schlichtweg die Anspielpartner dafür fehlen."

Ein "Spiel am Rand der Verzweiflung" hat Karin Fischer für den Deutschlandfunk (25.2.2012) gesehen. Dem kollektiven Gefühl des Bedrohtseins, der dauernden Explosionsgefahr, das Kimmig noch atmosphärisch verstärke, begegne jede Figur mit anderen Übersprungshandlungen, was dem Regisseur die Gelegenheit gebe, das Stück komödiantisch auszutarieren. So wenig zentriert die Inszenierung dabei wirke, weil sie keine Botschaft habe, sondern nur haltlose Menschen zeige, so deutlich stehe doch die Ranjewskaja im Mittelpunkt, Nina Hoss. "Sie ist eine unglückliche, ja fast gebrochene Frau, in deren Gesicht sich das Ganze Drama ihres Lebens abspielt und die wie keine andere den Druck, die Verwirrung, die Schuld - denn Schulden haben ja immer etwas mit Schuld zu tun - in kleinen Gesten ausagiert." Am Ende stehe sie mit ihrem Bruder vor dem Kirschgarten wie vor einem Grab. "So wird aus einem großen Tschechow-Stück ganz zum Schluss noch ein kleines von Beckett. Alle sind unglücklich."

"Kahlschlag" und "Klamauk", hat Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (26.2.2012) an diesem vergleichsweise kurzen Tschechow-Abend erlebt: "der ganze Tschechow als lieblose Miniatur". Es sei, als "ob all die wunderbaren, wundersamen Tschechow-Momente schnell-schnell abgearbeitet werden müssten". Und "so rennen sie, turnen und schreien, balgen und jagen sich"; "all die Hysterie und Überreiztheit lässt sich auf Knopfdruck ein- und ausschalten". Weder Nina Hoss vermag den Kritiker zu überzeugen, noch der Lopachin von Felix Goeser mit seiner "Emotionalität" im "schwer erträglichen Übermaß". Das Fazit fällt gerade im Vergleich mit den Jürgen-Gosch-Inszenierungen der letzten Jahr ernüchtert aus: "Zu wenig für ein großes Haus in der Hauptstadt." Es herrsche nunmehr "Tschechow-Rezession".

"Die Offenheit ist einer der Gründe für die ungebrochene Popularität des Stücks. Was man aber nicht tun sollte: Es maximal zu beschneiden, Schauspieler und das Publikum aber nur minimal fordern. Kimmig tut genau das", schreibt Volker Corsten in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (26.2.2012). Er reduziere das Stück auf zwei Stunden, "streicht fast alle Nebenhandlungen, nimmt den Figuren ihre Ticks". Fazit: Die Inszenierung komme blind und leblos daher, wie die Figuren, die sie zeigt.

"Genussfertige Qualitätsware von dem Regisseur Stephan Kimmig. Frech, hübsch, freundlich," schreibt Ulrich Seidler für die Dumont-Redaktionsgemeinschaft von FR und BLZ (27.2.2012). Man dürfe nur nicht an die anderen Tschechow-Inszenierungen im Deutschen Theater denken. Denn aus Seidlers Sicht trennen diesen 'Kirschgarten' Welten "von den dunkel-klaren Tschechow-Spielen", die der vor zweieinhalb Jahren gestorbene Jürgen Gosch hier inszeniert habe, "oder von dem röntgen-poetischen Krankenzimmer Nr. 6 von Dimiter Gotscheff. Solchem Vergleich ausgesetzt, sieht man die ästhetische Ratlosigkeit, die fehlende Dringlichkeit, die Harmlosigkeit des Spiels. Da schrumpft Kimmigs Wohlfühlabend doch sehr zusammen."

"Komisch ist es mitunter schon, was der Regisseur Stephan Kimmig im Deutschen Theater Berlin das Ensemble so treiben lässt, um bloß nicht melancholisch zu erscheinen", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.2.2012). Kimmig setze auf eine zügige, albern überdrehte Spielweise. "Die Aufführung weiß zwar nie, wohin mit ihrer Kraft, doch das mit Ekstase und Elan." Die Schauspieler gäben sich Mühe, "aber das reicht für Tschechows heitere Verlierer nicht aus", die indes ex negativo sichtbar würden: "Während dessen Figuren aus dem Paradies oder dem, was sie dafür halten, vertrieben werden, sind sie das hier schon längst und als könnten sie sich gar nicht mehr so genau an früher erinnern." Was die Inszenierung allerdings weit übers Mittelmaß hinaushebe, sei Nina Hoss als Ranjewskaja. In ihrem Spiel spiegele sich die Angst vor der neuen Zeit ebenso wie die Lust am Untergang, die Arroganz der Oberschichtenzicke wie die Kälte angesichts mancher unkultivierter Dummheit, die sie knallhart entlarvt. "Sie kämpft weder für noch gegen etwas, sondern repräsentiert verschwenderisch das sinnlose, herrlich ungreifbare Prinzip Hoffnung."

Stephan Kimmig habe Tschechows Ansage, "Der Kirschgarten" sei eine Komödie, dahin gehend ernst genommen, dass er seine Schauspieler wie im Boulevardtheater rein- und raus- und herumrennen lässt, schreibt Matthias Heine in der Welt (27.2.2012). "Kimmigs Inszenierungsziel ist es erkennbar, wieder einmal dem "Kirschgarten" diese scheinbare Tschechow-Melancholie auszutreiben, mit der das Stück gern zelebriert wird." Die nahezu vollständige Abwesenheit von erkennbaren Gefühlsbindungen in Kimmigs Inszenierung mache das Drama natürlich nicht interessanter. "Zwar langweilt man sich als Zuschauer keine Sekunde, dafür sind sowohl das Tempo als auch das Niveau zu hoch." Aber man schaue dem Treiben doch interessiert gleichgültig zu "wie dem Hin und Her von Aquariumsfischen".

Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (6.3.2012) glaubt es handele sich beim K., den er in der Version von Stephan Kimmig als auch in der von Luk Perceval bespricht, um das Stück der Stunde, weil es "ohne Moralgefuchtel" vom "Preis der Dekadenz" erzähle, von "einer Übergangszeit, deren Bewohner noch nicht so recht begreifen, wie ihnen geschieht". Stephan Kimmigs Inszenierung allerdings wirke "seltsam fahrig und ziellos". Je "penibler und umständlicher" Kimmig die Gefühlsverwicklungen seines Personals durchbuchstabiere, desto "mechanischer, oberflächlicher, uninspirierter wirkt seine Inszenierung". Selbst die "tolle Nina Hoss", komme den "emotionalen Tiefenschichten" ihrer Figur "kaum näher", genauso wenig wie Felix Goeser als "vor Virilität dampfender Lopachin" oder "die eigentlich immer wunderbare Meike Droste". Eine für "einen so sensiblen Regisseur wie Kimmig ziemlich enttäuschende, sehr edel leer laufende Veranstaltung".

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