altDer Traum der Eisenmänner

von Andreas Wicke

Marburg, 25. Februar 2012. Am Anfang steht der Lexikonartikel, die Bühnenfiguren versuchen die Handlung der Nibelungensage zwischen Edda, mittelalterlichem Heldenepos und Hebbel'schem Trauerspiel zu verorten und das Geflecht der Personen zu entwirren. Der Schluss steigert dann die theatralen Mittel der Inszenierung zum großen Showdown: Die Video-Projektionen erhöhen das Tempo und tauchen die Bühne in Flammen, die verzerrten E-Gitarren-Klänge werden aggressiver und übertönen die Worte der Schauspieler, Blut färbt Bühne und Kostüme, wenn eine der brutalsten und monströsesten Geschichten der Weltliteratur sich nach knapp zwei Stunden dem Ende zuneigt. Doch die Katastrophe ist von Anfang an absehbar, der Pakt, den Gunther und Siegfried zu Beginn schließen, um die Gunst Kriemhilds und Brunhilds zu erlangen, kann kein gutes Ende nehmen.

Märchenhafte Atmosphäre

Matthias Faltz, Regisseur und Intendant des Marburger Landestheaters, versetzt die stark gekürzten und auf die zentralen Personen zugespitzten drei Teile, aus denen Hebbels Trauerspiel "Die Nibelungen" besteht, in eine Traumwelt, ihm geht es weder um museale Historisierung noch um verzweifelte Aktualisierung. Das ist sicher keine schlechte Entscheidung, allerdings bleibt die Frage "Was gehen uns die Nibelungen an?", mit der Einar Schleef in der Ankündigung des Theaters zitiert wird, in dieser Inszenierung unbeantwortet.

Die Bühne wird im Laufe des Abends immer wieder umgebaut und wandert dabei langsam von rechts nach links. Immer neu werden die weißen Wandschirme, Postamente und Platten angeordnet, auf denen projizierte Video-Sequenzen – mal sind es Motive der Handlung, mal bewegte geometrische Formen – zu sehen sind. Aber auch die Assoziation eines Schachbrettes ist denkbar, auf dem die wechselnden Konstellationen der Burgunder dargestellt sind. Die unwirkliche, bisweilen märchenhafte Atmosphäre wird durch die geräuschhaften Gitarrenklänge, mit denen Christian Schiller die Aufführung live untermalt, und die weiß-beigen Kostüme der Schauspielerinnen und Schauspieler noch gesteigert.

nibelungen3 560 ramon haindl uChristine Reinhardt, Charles Toulouse, Stefan A. Piskorz und Oliver Schulz. © Ramon Haindl

In dieser Traumwelt hat auch der Mord nichts Brutales, weil er nicht mit einem Schwert, sondern mit einer Flasche Theaterblut begangen wird. Damit gerät die Inszenierung zu einem Abgesang auf die Welt der Helden; kühne Recken gibt es im 21. Jahrhundert nicht mehr, der Brustpanzer wird durch die Steppweste ersetzt. Zwar sind es ästhetisch schöne Bilder und atmosphärisch interessante Klänge, die Faltz auf der Bühne entstehen lässt, aber eine plausible Lesart des Stoffes liefert er nicht, auch die Psychologisierung und Individualisierung der Figuren im Geflecht dieses Traumes deutet sich lediglich an.

Angst vor Pathos

Doch nicht nur die Regie tut sich mit dem Stoff schwer, auch die Akteure auf der Bühne wirken merklich überfordert, vor allem die Sprache Hebbels – der Rhythmus der Blankverse und der archaisierende Ton des Dramas – klingt über weite Strecken wie aufgesagt, die Charaktere entwickeln sich nicht, die Figuren bleiben eindimensional. Oliver Schulz steht in der übergroßen Hülle des Drachentöters Siegfried unbeholfen auf der Bühne. Auch Stefan Piskorz als Gunther und Franziska Knetsch als Brunhild spielen kleinformatig; machtbesessene Könige und archaische Männerhasserinnen sehen anders aus. Im Rahmen der eher mäßigen Ensembleleistung gelingt Annette Müller als Kriemhild zumindest eine Entwicklung von der fragil-unsicheren Schwester zur konsequenten Rächerin. Und Charles Toulouse zeichnet seinen Hagen Tronje mit kriecherisch-intriganter Fiesheit.

Eine gesunde Angst vor dem Pathos des Stoffes ist sicher berechtigt, die musikalische Übersteigerung Richard Wagners und die ideologische Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten haben den Nibelungen-Mythos verdächtig gemacht. Bereits Friedrich Theodor Vischer hatte Hebbel vor den "Riesenweibern" und "Eisenmännern" gewarnt und Loriot domestiziert die Wagner'sche Variante zu bürgerlicher Niedlichkeit: "Die Täter im gewaltigsten Drama der Musikgeschichte sind eigentlich ganz nette Leute." Hier wie dort machen sich Bedenken vor der pathetischen Dimension des Stoffes breit. Aber wenn man Friedrich Hebbels "Die Nibelungen" inszeniert, muss man diesem Pathos begegnen, entweder indem man es übersteigert oder ironisiert, aktualisiert oder radikalisiert. Die Marburger Produktion schlägt sich auf keine Seite.


Die Nibelungen
von Friedrich Hebbel
Regie und Ausstattung: Matthias Faltz, Videodesign: Philipp Karau und Stephanie Kayß, Mitarbeit Bühne: Fred Bielefeld, Mitarbeit Kostüme: Eva Constanze Nau, Musik: Christian Schiller, Soundkonzept: Ito Grabosch, Dramaturgie: Alexander Leiffheidt
Mit: Annette Müller, Charles Toulouse, Christine Reinhardt, Franziska Knetsch, Johannes Hubert, Jürgen Keuchel, Mateusz Dopieralski, Oliver Schulz, Stefan Piskorz

www.theater-marburg.com


Kritikenrundschau

Im Hinterländer Anzeiger (26.2.2012) schreibt ein anonym bleibender, sehr begeisterter Rezensent in seinem Fazit zu diesem Theaterabend: "Faltz und den Seinen ist gelungen, Hebbels traditionsbeladenes Stück moderat zu modernisieren und so zu verdeutlichen, dass wirklich gute Geschichten noch so alt sein können." Im motivischen Kern bleibe die Inszenierung brandaktuell. Gleichzeitig sei der Regisseur damit natürlich auch gegen den unsäglichen ur-deutschen Nimbus des Nibelungenstoffes zu Felde gezogen, indem er schlicht und einfach die Menschen in den Blick genommen habe. "Das verdient Respekt, weil eine wirklich spannende Sage dadurch von nationalistischer Überinterpretation befreit wird."

"Eine entschlackte, von allem heroischen Brimborium befreite Version" der Hebbel'schen "Nibelungen" hat Uwe Badouin für die Oberhessische Presse (27.2.2012) erlebt. Der Rezensent würdigt ein "sehr variables, abstraktes Bühnenbild" sowie "eindrucksvolle Videosequenzen (...), die bisweilen an düstere Graphic Novels erinnern und optische Räume für das Spiel der mitreißenden Darsteller schaffen." Unter den Hauptfiguren werden Annette Müllers "grandios" entwickelte Kriemhild, Franziska Knetschs "großartig" angelegte Brunhild sowie Charles Toulouses Hagen von Tronje, die "modernste Figur dieser Inszenierung", hervorgehoben. Im Ganzen wohne man in Marburg einer "konsequenten, geradlinigen, spannenden und optisch eindrucksvollen Inszenierung" bei.

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