altAmerikanischer Alptraum

von Falk Schreiber

Hamburg, 28. Februar 2012. Das St.-Pauli-Theater ist ein Privattheater. Das heißt: Es gibt kaum Subventionen, der Etat muss allabendlich eingespielt werden. Man honoriert, dass das Theater das nicht ausschließlich mit Nummer-Sicher-Krachern versucht, sondern zum Beispiel auch mit Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden". Man akzeptiert, dass die Intendanz sich explizit gegen massive Regieeingriffe positioniert, weil sie anscheinend glaubt, das zahlende Publikum wolle ausschließlich "werktreues" Theater sehen. Und man stellt den bösen Gedanken zurück, dass das Publikum hier anscheinend konservativer geschätzt wird als es ist.

Regietheater-Großvater gegen Text-Kolonialisten

Wenn man das beherzigt, dann kann man sich auf Wilfried Minks' Inszenierung einlassen, dann ärgert man sich auch nicht mehr darüber, dass der Regisseur im Programmheft als Kronzeuge gegen das Regietheater auftritt: "Das Dilemma des Theaters ist doch, dass man nicht mehr an die Sprache glaubt", beschwert sich der 82-Jährige da. "Wir verhalten uns den Texten gegenüber wie Kolonialisten. Ich fahre ja auch nicht nach Afrika und suche im Eingeborenen das, was er mit mir gemein hat." Man schluckt die Wut hinunter: Minks, der Zadek-Bühnenbildner, der Miterfinder des "Bremer Stils", der Großvater des Regietheaters, wird hier für ein rückwärtsgewandtes Theaterverständnis in die Pflicht genommen. Schluck. Und man lässt sich ein.

Handlungsreisender3 MatthiasHorn 560 u In Vaters großem Arm: Burghart Klaußner als Willy Loman und Christian Sengewald als Biff
© Matthias Horn
Vielleicht ist es ja auch gar nicht falsch: mal einen Klassiker der Moderne nicht zwanghaft ins Jetzt zu prügeln, mal ein Theater auszuprobieren, das nichts wissen will von Postdramatik, nicht einmal etwas von Dramaturgie (für diese Produktion jedenfalls wird kein Dramaturg genannt). Und stattdessen darauf vertraut, dass Millers Text die Psychologie der Figuren schon ausreichend charakterisiert. Minks macht das zunächst ganz geschickt, er versteht, dass Miller wenig von reinem Abbildrealismus hielt, und so dringt die Regie tief ein in die Psyche des erfolglosen Vertreters Willy Loman (Burghart Klaußner) und bebildert dessen zunehmenden Realitätsverlust.

Sand im Spielgetriebe

Clever wechselt Minks zwischen Passagen, die sich mal in der Wirklichkeit, mal in Lomans Kopf abspielen, die Handlung springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, und wir, die wir konsequent Lomans Perspektive einnehmen, verlieren zunehmend selbst den Überblick. Das ist klug inszeniert, es ist aber auch ein billiger Ausweg: Wir sind Loman, aber wir verstehen nicht, was dessen amerikanischer Alptraum aus den 1940ern mit der Gegenwart des Jahres 2012 zu tun haben könnte – wenn man sich die Frage stellen möchte.

Zumal Minks' Konzept, die Psychologie seiner Figuren ernst zu nehmen, schnell an seine Grenzen stößt. Die Schauspieler zumindest der Hauptrollen überzeugen, solange sie alleine an ihrer Figur arbeiten können, kaum treten sie aber in Kontakt miteinander, knirscht es im Spiel gewaltig. Burghart Klaußner etwa spielt geschickt gegen seine TV- und Filmprominenz an, weiß Loman in stillen Szenen als zerrissenen Mann zu zeigen, der die Welt nicht mehr versteht. Kaum aber trifft er auf Margarita Broich als Linda Loman, wird er plötzlich grundlos agil. Einiges bleibt unstimmig an der Figurenpsychologie, und für eine Inszenierung, die hauptsächlich auf psychologische Einfühlung setzt, ist das tödlich. Im Ergebnis stimmt das Timing so wenig wie die Lautstärke dieser Inszenierung.

Einfach mit Monroe und Dauerschwips

Dazu kommen handwerkliche Ungenauigkeiten am Rande. Ein Luftschacht auf der Bühne mag ja eine gute Sache sein – dass der aber vor allem dazu dient, der auf Marilyn gestylten Miss Forsythe (Anja Boche) den Rock hochzupusten, ist billig. Dieser Gag sagt nichts über die Figuren aus, er passt auch nur grob in die Zeit Arthur Millers, womit Minks sogar seinen eigenen Anspruch der Texttreue verrät – für einen Lacher, der nicht einmal richtig zündet. Überhaupt, die Nebenrollen: Lomans Chef ist bei Martin Wolf das Abziehbild eines Karrieristen, seine Geliebte bei Anja Topf ein dauerbeschwipster Provinztrampel – man muss nicht viel interpretieren, um zu merken, dass es so einfach nun auch nicht ist.

Aber immerhin: Der Abend bessert sich gegen Ende, die Schauspieler kommen von Minute zu Minute besser ins Stück, die Beziehungen untereinander werden klarer. Es ist nicht ausgeschlossen, dass grobe Fehler im En-suite-Spielbetrieb abgeschliffen werden, die Inszenierung doch noch zu einer einleuchtenden Psychologisierung findet, die die Rollen auch etwas miteinander zu tun haben lässt. Dann blieben nur ein paar kleine Ärgernisse. Und die Frage: weswegen man glaubt, dass ein Publikum dieses Stück unbedingt so inszeniert zu sehen wünscht.

 

Tod eines Handlungsreisenden
von Arthur Miller, Deutsch von Volker Schlöndorff und Florian Hopf
Regie und Bühne: Wilfried Minks, Kostüme: Nini von Selzam, Licht: Birte Horst.
Mit: David Allers, Anja Boche, Margarita Broich, Florian Hacke, Niels Hansen, Burghart Klaußner, George Meyer-Goll, Christian Sengewald, Kai-Maren Taafel, Anja Topf, Martin Wolf.

www.st-pauli-theater.de

 

Kritikenrundschau

Auf der Webseite von Deutschlandradio Kultur (1.3.2012) schreibt Ulrich Fischer: "Als Vorhang empfängt das Publikum eine riesig vergrößerte Ein-Dollar-Note - verfremdet. Washington fasst sich an den Kopf - ein ebenso kritischer wie komischer Kommentar zu unserer Zeit." Burghart Klaußner stelle den inneren Widerspruch Willys zwischen behauptetem Selbstbewusstsein und seinem völligen Fehlen in Wirklichkeit auch "körpersprachlich" dar – "erst die straffe Haltung des Fordernden, dann das gebeugte Rückgrat". Auch wenn Willy versuche seinen Söhnen vorzumachen, wie sie auftreten sollten, sei "der Wechsel von Anspruch und Zusammenbruch Klaußners bevorzugtes Mittel" – "er ist stets präsent und übertreibt nie" - das unterscheide ihn vom übrigen Ensemble mit Ausnahme von Margarita Broich. Trotzdem: "Das St. Pauli Theater hat eine in sich geschlossene, überzeugende Inszenierung im Repertoire, heute, in Zeiten in denen viele unter prekären Arbeitsverhältnissen leiden(...), so aktuell wie bei der Uraufführung 1949."

Überschriftlich bekundet Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (1.3.2012): "Willy Loman, das sind wir alle". Die beiden Hauptdarsteller Burkhart Klaußner und Margarita Broich seien "grandios". Klaußners Loman glaube daran, dass Erfolg und Misserfolg davon abhängen, wie sehr er andere beeindrucke. "Die Übertreibung wird ihm zur zweiten Natur. Er glaubt, was er lügt." Er führe "uns" den "fremdbestimmten, ausgequetschten, eifrigen Selbstbetrüger" vor, der stur an seinem Lebensbild des "alle lieben mich" festhält, bis er "kapiert" habe, dass da niemand ist. "Nur seine Frau, die er vernachlässigt." Margarita Broich spiele die Linda als "selbstbewusste Frau, die wie eine Löwin dafür kämpft, dass Lomans Leben schön bleibt". Biff sei bei Christian Sengewald "ein Aufschneider wie sein Vater und ein noch viel größerer Verlierer". Eigentlich wirke er für die Rolle "zu jung, nicht männlich genug". David Allers spiele Happy als "recht modernen jungen Mann, der für nichts steht außer dafür, dass er keine Verantwortung übernehmen will".

Monika Nellissen schreibt auf Welt Online (1.3.2012): Der Vorhang bestehe aus einer Ein-Dollar-Note, die ein verfremdetes Porträt von George Washington zeige: "Er schaut nicht mit versonnenem Blick in die Ferne, er starrt mit vor Entsetzen weit aufgerissenem Mund nach vorn, die Hände hat er vor die Stirn geschlagen": "Ohne Geld bist du ein Nichts", ... "das war nicht nur Ende der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts" so, das "trifft ebenso heute zu. Aktueller kann ein Stück nicht sein." Die Konzentration sei "vollkommen auf das Wort ausgerichtet". In "kammermusikalischer Dichte" verfolge Minks "jede einzelne Stimme, setzt sie kontrapunktisch in ein Mit- und Gegeneinander, das in einer dramatischen, verstörenden Climax" ende. Christian Sengewald als Biff und David Allers als Happy seien erst gegen Ende "glaubwürdig", selbst Burghart Klaußner fände "nur langsam zum eigenen Glauben und damit zur Glaubwürdigkeit", die Margarita Broich, "als unermüdlich werkelndes, liebendes Familientier mit dem unumstößlichen Optimismus, alles werde gut, sofort erreichte". Am Ende sei das Spiel so "tragisch und wahrhaftig, dass es uns die Luft abschnürt."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.3.2012) schreibt Daniel Haas: In einem 50er Jahre Bühnenbild dürfe "Willy groß aufspielen", der Rest sei "Stichwortgeber", mühe sich ab an einem Text, "der lässig daherkommt, aber voller Fallen steckt". In denen sich Christian Sengewald als Biff und David Allers als Happy, offensichtlich heillos verfangen haben, nach Haas Ansicht, denn: "Es gibt vielleicht kein wahres Leben im falschen, aber jede Menge falscher Arten, wahren Kummer darzustellen." Also bleibe Burghart Klaußner als Willy, in der "Besetzungspolitik" des jüngeren deutschen Kinos die "Fachkraft für Erzieherfiguren". Er spiele den Mann, "dem die Eigenkorruption zur zweiten Natur geworden ist. Schälte man seine Monologe aus dem Stück heraus, hätte man die messerscharf konturierte Gestalt des Menschen im Zeichen des Marketings." Auf der "Klaviatur des Selbstbetrugs" schlage "dieser Loser" alle Töne an: "auftrumpfend, anklagend, jammernd, kuschend". Und weil er sich seine "grandiosen Lebenslügen" selbst nicht "restlos" glaube, müsse er immer wieder "zurückrudern ins Devote" – Klaußner zeige die "hysterische Dynamik der Selbstverkennung mit beklemmender Virtuosität".

Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (2.3.2012) fragt: Was heutzutage so befremdlich sei an "Inszenierungen, die auf jede zeitgenössische Assoziation verzichten, keine Stolpersteine und Irritationen einbauen"? Das habe vermutlich vor allem mit der "ungeschickten Demagogie jener Wutredner gegen das Regietheater" zu tun und ihrem "alten Denken in Feindschaften", die psychologisches Theater als anti-modern erscheinen ließen. Wenn Wilfried Minks, der als Miterfinder der neuen Regie-Freiheiten immer wieder experimentiert habe, den 'Handlungsreisenden' "einfühlsam" nacherzähle, sei das ein "persönlicher künstlerischer Schritt, der nichts von alterseitler Rechthaberei hat" und nichts von der üblichen Frauenverachtung der Alten. Während Klaußner mit großer innerer Logik alle Facetten eines unheilbaren Borderliners entwickele sei Margarita Broich als Linda "das weise Zentrum in dieser Inszenierung". Als einzige Figur mit "gesundem Realitätssinn" kläre sie die Männer "mit wenigen gefassten Sätzen über die Hintergründe ihrer Kampfeshaltung auf oder breitet einen Mantel des Schweigens über deren tief gekränktes Selbstempfinden, wenn es gilt, zu deeskalieren." Minks entwickele eine "altersweise Psychopathologie der Kleinfamilie in der Neid- und Konkurrenzgesellschaft", die "in sich stimmig und eindrücklich auftritt". Trotzdem stelle sich die Frage, ob man denselben Sinn nicht auch mit "zeitgenössischen Mitteln" hätte erreichen können, die im besten Fall die Chance böten, "mehrere Perspektiven auf einen Sachverhalt zu eröffnen". Minks "absolut stringente Interpretation des Unglücks" müsse sich die Frage gefallen lassen, ob die "rundum verständliche Darstellung eines so komplizierten Sachverhalts wie Familie nicht genau so eine Illusion ist wie Lomans Traum vom Erfolg".

Die das Drama vom Blatt spielende Inszenierung von "Altmeister" Wilfried Minks zeigt Ulrich Greiner in der Zeit (8.3.2012) vor allem, dass das Miller-Stück noch lebendig ist. Allerdings nimmt Minks das Stück aus Sicht dieses Kritikers nicht immer ernst genug. Der träumerische Wechsel unterschiedlicher Zeiten und Realitäten, der sich in Arthur Millers Stück für Greiner "übergangslos vollzieht", sieht er in Minks' Inszenierung oft ruckeln, "und das Reich der Sehnsucht, in dem Willys Fantasien schwelgen, bleibt auf der allzu kleinen Bühne kümmerlich." Burghart Klaußner allerdings spiele den Handelsvertreter Willy meisterhaft. "Er ist himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt und beides fast gleichzeitig. Manisch wechselt er zwischen den Stimmungen, Selbstwidersprüche fallen ihm nicht auf." Klaußners Willy sei ein grandioser Narziss und Margarita Broich ihm ein starkes Gegenüber.

Kommentare  
Tod eines Handlungsreisenden, HH: Geschmackssache
"Dann blieben nur ein paar kleine Ärgernisse. Und die Frage: weswegen man glaubt, dass ein Publikum dieses Stück unbedingt so inszeniert zu sehen wünscht." So eine Frage kann man auch stellen im Bezug auf Castorf und co. Es ist halt Geschmacksache. Vielleicht sollte man die Schauspieler fragen. Dann könnte man auch feststellen, was für eine Inszenierung sie lieber hatten.
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