Kein Garten, kein Haus – kein Rein, kein Raus

von Rudolf Mast

Hamburg, 3. März 2012. Zu den Theaterstücken, die unabhängig von ihrem Alter zu fast allen Zeiten gespielt werden, gehört "Der Kirschgarten". Tschechows letztes Stück behandelt den Zusammenfall von ökonomischer Krise und sozialem Niedergang, und weil dieses Verhältnis derzeit besonders virulent ist, hat der "Der Kirschgarten" an deutschen Bühnen Hochkonjunktur. Doch wie vieles, was wie die Faust aufs Auge zu passen scheint, drohen die Inszenierungen langweilig zu werden, weil sie Bekanntes mit anderen Mitteln wiederholen. Dass es auch einen anderen aktuellen Zugang zu dem Stück gibt, ist in Luk Percevals Inszenierung zu erleben, die am Samstag Premiere hatte.

Zeitverrückung

Dabei beginnt der Abend statt in der Gegenwart mit einer doppelten Erinnerung an die Vergangenheit. Die erste ist musikalischer Natur: Wenn die zehn Schauspieler die nur matt erleuchtete Bühne betreten, spielt die Hammondorgel im Hintergrund ein französisches Chanson aus den 1970er Jahren. Doch zum Tanz stellt sich nur ein Paar auf, und die Bewegungen, die es vollführt, bleiben minimal.

Der zweite Erinnerung stellt sich ein, wenn das Licht, das eine eigene Rezension verdient hätte, angeht. Es stammt aus 50 bis 60, im gesamten Bühnenhaus verteilten kugelrunden Lampen unterschiedlicher Größe, die den Raum, in dem sie hängen, zugleich bilden und beleuchten. Es ist eines dieser faszinierenden Bühnenbilder von Katrin Brack, die der Inszenierung äußerlich bleiben, ihr gleichzeitig dienen, indem sie ihr eine eigene, anders nicht herstellbare sinnliche Ebene hinzufügen.

kirschgarten1 armin smailovic hWenn also das Licht angeht, nehmen die Darsteller Klappstühle zur Hand und setzen sich an die Grenze von Haupt- und Vorbühne. Und dann passiert erst einmal nichts. Damit knüpft Perceval an seine Inszenierungen von "Onkel Wanja" (2003) und Kinder der Sonne (2010) an, Stücke, die mit der Entstehungszeit auch die Thematik des "Kirschgartens" teilen, der deshalb auch inszenatorisch ähnlich angelegt ist. Und dass nichts passiert, stimmt natürlich nicht. Denn während neun Darsteller dasitzen und schweigen, läuft Firs hinter ihnen auf und ab und zählt von 100 rückwärts.

Gesellschaftsminiatur

Das dauert einige Minuten – kostbare Zeit, in der sich eine Atmosphäre herstellt und die es dem Publikum erlaubt, sich mit der Personage vertraut zu machen: Zehn Menschen, die sich irgendwie ähnlich sehen und doch denkbar unterschiedlich sind, die jeder für sich und zusammen doch die Miniatur einer Gesellschaft sind. Es ist dieses Verhältnis von Individuum und Masse, von Einzelnem und Gruppe, von Beziehungen und Querverbindungen, denen sich der Abend widmet. Das alles ist im Stück angelegt – nur dass dafür kein Garten, kein Haus, keine Rückkehr aus Paris, kein Abgang und kein Auftritt nötig ist. Nicht einmal der gesamte Text wird dafür gebraucht. Also hat Perceval die Übersetzung von Thomas Brasch umgestellt und so stark eingestrichen, dass der Abend nur 100 Minuten dauert.

kirschgarten3 armin smailovic hFotos Armin AmailovicDass er so schnell vorbei ist, ist kein Widerspruch zur beschriebenen Langsamkeit, weil das Spiel zwischendurch Fahrt aufnimmt und die Figuren in unterschiedlichsten Konstellationen zusammentreffen lässt. Das reicht vom kaum wahrnehmbaren Händedruck zwischen Jascha (Matthias Leja) und Dunjascha (Oana Solomon), einigen lauten Streitereien bis zum innigen Kuss zwischen Ranjewskaja (Barbara Nüsse) und dem ewigen Studenten Trofimow (Sebastian Rudolph). Und Firs (Alexander Simon) fungiert auch nicht als greiser Diener, sondern eher als junger Conferencier.

Angekündigter Tod

Nicht alles ist an diesem Abend also so, wie es im Buche steht – und schon gar nicht so, wie es die aktuelle Krise angeblich erfordert. Denn allen voran Ranjewskaja verweigert sich dem "Fortschritt", wie er dem Macher Lopachin (Tilo Werner) vorschwebt, beharrlich. Dieses Beharrungsvermögen ist der Inszenierung aber nicht Anlass zur Kritik, sondern sie entdeckt darin eine soziale Qualität. Das zeigt sich eindrucksvoll am Ende, an dem zwar der Verkauf des Gutes, aber nicht die Abholzung des Kirschgartens steht. Statt der Äxte erklingt das Chanson des Anfangs, und wieder ist es nur ein Paar, das sich zum Tanz aufstellt. Ihr schwungvoller Walzer wird jäh unterbrochen, als Ranjewskaja in Firs Armen zusammenbricht.

Ob es ihr Tod ist, ist im Halbdunkel nicht eindeutig zu erkennen. Wenn, dann kam er angekündigt: Vier Mal hat Ranjewskaja an diesem Abend von dem Stein um ihren Hals gesprochen, der sie ins Verderben zieht. Und vier Mal hat sie gesagt, dass man sie, wenn der Kirschgarten verkauft wird, gleich mitverkaufen könne. Wenn es also der Tod war, dann kam er angekündigt, und wenn er es war, dann kam er denkbar würdig.

 

Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Regie: Luk Perceval, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Anja Sohre, Musik: Lutz Krajenski, Ted Stoffer (Choreografie), Lichtdesign Paulus Vogt.
Mit: Matthias Leja, Barbara Nüsse, Sebastian Rudolph, Cathérine Seifert, Alexander Simon, Oana Solomon, Wolf-Dietrich Sprenger, Rafael Stachowiak, Oda Thormeyer, Tilo Werner.

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Werner Theurich schreibt auf Spiegel Online (4.3.2012): "Luk Perceval machte wenig Experimente und vieles richtig." Der "wohlfeilen Volte zu Finanzkrise und Wirtschaftskriegen" enthalte er sich und treffe "dadurch in den Kern des unaufgeregten Totentanzes". Der "Raps für Biodiesel", den Lopachin anpflanzen will, sei "beinahe die einzige Aktualisierung". Perceval reihe "die Ranjewskaja und ihr Sozialpersonal hübsch zeitlos und übersichtlich" zur "Therapiesitzung" auf. "Stuhl an Stuhl, wir sprechen uns aus." "Leicht entrückt", weil "sanft dement" schleiche die Gutsherrin "durch ihre Erinnerungen, mischt hellsichtige Momente mit Träumen, Wiederholungen und Zärtlichkeiten". Wie "Barbara Nüsse diese Frau mit zerbrechender Kraft, Intensität und Genauigkeit spielt, das ist ein Mikrokosmos für sich". Und es sei der "einfühlsamen Personenregie" zu danken, dass diese "inneren Vorgänge auch in klare Bewegungen umgesetzt" würden. Es werde viel getanzt, Samba-Bossa-Cha-Cha-Perlen, auch "ein Hauch von den Choreografie-Ideen Pina Bauschs" wehe über der Szenerie. Businessman Lopachin, "aggressiv und komisch" von Tilo Werner gespielt - ganz der "moderne Erfolgsmensch", immer wieder durchs Mobiltelefon unterbrochen. Die Bühne von Kathrin Brack führe "ein Eigenleben", ständig, beinahe unmerklich bewegten sich die Lampen. "Der verlangsamte Pulsschlag der Gesellschaft spiegelt sich darin wider, ebenso in sanfter Symbolik die über dem Geschehen schwebenden Kirschen."

Stefan Grund beschreibt in der Welt (5.3.2012) Luk Percevals "streng konstruierte Inszenierung", die nur von einigen "gelungenen Ausdruckstanzszenen frei nach Pina Bausch als einziger Abwechslung" durchbrochen würde, um zu dem ernüchternden Schluss zu kommen: "So weit, so unpoetisch. Der Rest ist politisch gemeint und damit noch schwächer." Tilo Werner als Lopachin bleibe "mehr Karikatur als Charakter. (...) Seine Idee, die Kirschbäume abzuholzen, um ein Rapsfeld zwecks Biodieselgewinnung anzulegen, verdeutlicht die Schwächen der Inszenierung exemplarisch. Sommerhäuser wie bei Tschechow wären auch heute plausibler. Die Rapsidee ist eine Schnapsidee."

Einen "kosmischen Raum" habe Katrin Brack "für Luk Percevals Spiel über die Liebe und den Tod" geschaffen, meint Klaus Witzeling im Hamburger Abendblatt (5.3.2012). Darin inszenierten Perceval und der Choreograf Ted Stoffer "in gewisser Weise" auch "einen Totentanz, der in seiner szenischen Form mit den Stühlen ebenso gut von Pina Bausch stammen" könnte. "Position und Haltungen des auf zehn Schauspieler reduzierten Ensembles, ihre Blicke und Gesten erzählen in den ersten Minuten mehr über die Beziehungen der Figuren als der in langen Pausen tröpfelnde Text." Die Form des Tanztheaters sei ungewöhnlich, "dennoch schlüssig aufgehend. In ihr spiegelt sich, in darstellerisch präzise ausgefeilter Zeichnung der Charaktere, der Tanz der gegenwärtigen Gesellschaft am Abgrund und der Kreislauf der Natur, die das Leben gibt und wieder zerstört."

Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (6.3.2012) glaubt, es handele sich beim K., den er in der Version von Stephan Kimmig als auch in der von Luk Perceval bespricht, um das Stück der Stunde, weil es "ohne Moralgefuchtel" vom "Preis der Dekadenz" erzähle, von "einer Übergangszeit, deren Bewohner noch nicht so recht begreifen, wie ihnen geschieht". Percevals "wunderbar konzentrierte Version", ziehe "ihre Poesie aus einer trockenen Lakonie", "gänzlich unlarmoyant, ausgenüchtert und in der Figurenzeichnung von schönster, zugespitzten Genauigkeit". Zwischen den Tänzen zu Beginn und am Schluss säßen die Figuren "wie Übriggebliebene auf Bürostühlen" an der Rampe, "schweigen minutenlang, so dass sich die Zeit zerdehnt, und kauen in Wiederholungsschleifen noch einmal die alten Geschichten durch". Dabei entstünden "schöne, komisch minimalistische Choreografien zwischen Stillstand und kurz aufflackernden Sehnsuchtsausbrüchen". In Barbara Nüsses "alt gewordenen Mädchengesicht" gingen "Selbstgenuss, Stolz auf das gelebte Leben und leise Resignation darüber, dass die Luxusjahre jetzt wohl vorbei sind", eine "berührende Verbindung" ein.

Kommentare  
Kirschgarten, Hamburg: Rampensteh- oder Stuhltheater
Modernismen zeichnen nur den krampfhaften Versuch sich eine neue Sicht- und Schreibweise aufzuzwigen. Biodiesel im Kirschgarten, was muß man mehr sagen. Und wer die Hammondorgel erfunden hat, der gehört erschossen. Das Rampensteh oder Stuhltheater ist eine massive Verkürzung der theatralen Möglichkeiten, weil Nähe-Distanz, Raumgefüge und Phanasiewelten durch ein Bühnenbild nicht ausgenutzt werden. Zugegeben, die Lampenwelt war nicht schlecht, habe ähnliches schon vor 10 Jahren in der Kunsthalle gesehen, wenn auch mit einem anderen conzeptart Ansatz. Klar, es bleibt kein Stein auf dem Anderen und kein Text bleibt ungekürzt durch die Modernismen-Schnitzel-Verkürzung-Maschine. Mal klappt es zum Vorteil des Stückes, oftmals nicht, wie auch hier.
Kirschgarten, HH: eher Kirschgartenentzug
Für meine Begriffe eher der Versuch eines aktuellen Kirschgartens durch "Kirschgartenentzug", der allerdings so verkopft (welch eine Armada da im Programmheft zusammenkommt, das behalte "man" im Hinterkopf, und auch, ob dem Abend davon ernsthaft etwas abzuspüren war !), so verkrampft, so denkbar unsinnlich daherkommt, daß er wohl dem Grundvorhaben eher zum Spotte dient. Der Aufguß aus allerlei "Kirschgärten", alles davon wurde schon irgendwo "gepfiffen", soll uns (wohl nur diejenigen, die schon einmal einen "Kirschgarten" genossen haben; was ein "Unbefangener" davon haben könnte: ein Rätsel -und sicher nicht der beste Ansatz, das Verständnis unterschiedlicher Generationen füreinander auch nur im Geringsten zu stärken) wohl
im nachhinein reich belohnen und als "Superkonzentrat" uns mit unserem Hintern
versöhnen in etwa: eigentlich ein ziemlich reaktionärer Ansatz einerseits, andererseits immer auch Ansatz zu einer veritablen Gehirnwäsche: Von wegen- nicht erzwestlerisch !! Tschechow, wie oft betonte er das "Arztsein", wie buchstäblich strebsam war er. Und hier nun soll der "Osten" eine einzige Einladung zum Leben als Hospiz sein, und das sollen wir als Test nehmen, ob wir nicht schon resigniert haben.
Nein, nicht mal wirklich ärgern kann man sich über diesen Abend..
Kirschgarten, Hamburg: aufgesetzt
Ulrike Cordes (dpa) sah einen betont untheatralischen, etwas zähen Abend; Werner Theurich (auf Spiegel-online) dagegen ist voll des Lobes, obgleich die Formel "Perceval habe wenig riskiert und vieles richtig gemacht" dem sich ziemlich avantgardistisch gerierenden Unternehmen nicht unbedingt schmecken muß. Es scheint, dieser Abend wurde sehr unterschiedlich wahrgenommen: im zweiten Oberrang waren Stimmung und "Beifall" jedenfalls nicht gar so gelöst; die Frage war zu vernehmen, wie diese "Patienten" auf der Bühne in etwa jene "Ruhe" verkörpert haben sollen, welche gemäß Programmheft hier ganz zentral sein soll. "Würdevoller Widerstand"
gegen eine Karikatur von Lopachin ? "Würdevoller Widerstand" von Alzheimerkranken und nabelschauenden Egomanen ?? Da mag Frau Nüsse noch so viele Facetten so einer "Alzheimerfigur" treffen - das behandelte Thema schien mir woanders zu liegen, und da die Figuren sehr häufig fahrig und ziemlich willkürlich, mal karikierend, mal nicht, fast durchgängig agierten, abgesehen von der einen "Choreographie der Beine" (sie gelang ähnlich wie die Tanzszene in der "Möwe" des Nachbarhauses !), war nicht viel von der neuen Autobahnraststätte zu sehen in alledem. Frau Cordes spricht von "aufgesetzt": genau, das allermeiste war aufgesetzt an diesem Abend..
Kirschgarten, HH: dröge Essenz
Wenn ich ein Tschechow-Stück sehen möchte,möchte ich auch die spezifische Sprache hören! Die geht bei der Essenz-Inszenierung von Perceval aber völlig verloren.
Ich fand die Inszenierung drög und stellenweise schrecklich langatmig.
Ich wollte nach 3 Jahren mal wieder einen Versuch mit dem Thaliatheater machen. Diese Inszenierung bringt mich nicht zurück!
Kirschgarten, HH: Geduld statt Schnatterwiese
Ein Tschechow-Stück,was soll das für eine spezifische Sprache haben? Geschrieben ist es in der russischen.Übersetzt von verschiedenen Menschen.Und die Sprache? Die Körpersprache vielleicht.Tschechow in der auf dem Theater oft erschienenen Art: Leinenanzüge,Liegestühle,dargestellte Langeweile etc. Woher nimmt Herr Klaus B. sonst sein Wissen darüber,was spezifische Tschechowsprache bedeutet ?Ich denke ,den bisherigen Kommentatoren von 1-4 geht etwas ab,was den meisten Zuschauern der Medien heute abgeht,nämlich Geduld zu
haben,sich einzulassen auf das sogenannte dröge,langatmige.Wenns heute nicht zugeht wie auf der Schnatterwiese,ist es nix.Ungeduld,pausenloses Getue und Gequatsche sind die Zeichen der Zeit.Stünde es sonst so schlecht um uns?
Kirschgarten, HH: Tanzsaal-Altersklassen-Anbiederung
@ 5

Ne, glaube ich nicht, daß ich so furchtbar ungeduldig bin, und woher Sie das in meinem Falle nehmen, weiß ich auch nicht, bin aber immerhin geduldig genug, mir das andeutungsweise oder weitergehend erläutern zu lassen, wie Sie darauf kommen.
Komme ja gerade aus Leipzig. Wer für einen "Kirschgarten" wie vor zwei Jahren oder
einen "Zauberberg" wie vor etwa zwei Wochen da nicht so um und bei 5 Stunden mitbringt, der wird da nichts mitnehmen: habe ich jedoch. Auch war ich seinerzeit beim Wochenende zur "Interpassivität" (die ja auch im Programmheft herangezogen wird) mit dem bezeichnenden Titel "Wir sind niemals aktiv gewesen" und habe da geduldig den Vorträgen zu einer ungeheuren Spannweite von "Interpassivitäts-Links" sozusagen gelauscht. Ua. spannende Sachen: zB. von Internet-Aktivisten, die allerlei Seiten hacken, um zu verhindern, daß Daten in eine große Big-Brother-Touringmaschine fließen und uns (!) bis ins Letzte ausleuchtbar werden lassen.
Vielleicht haben die ja auch etwas mit dem nachtkritik de.-Hacking zu tun: gegen das ach so furchtbare Getue und Gehabe und die Spielwiese dort etcpp., um ein naheliegendes Beispiel zu nennen. Mit einer solchen "Position" könnte man sich (mindestens auf der Bühne) ja auseinandersetzen: Ach, hätten die 10 oder 9 nur ein wenig mehr davon gehabt ! Was ich aber sah, war ein ziemlich langweiliger und im Grunde konventioneller Tschechow, der sich mit den Tanzelementen ziemlich bemüht, ein wenig avantgardistisch zu wirken: aber , auch Nietzsche wird ja zitiert (wie fast auch überall), von "tänzerischer Philosophie" war das meilenweit entfernt, hinzu kommen schwache Aktualisierungen wie "Rapsfelder" und meineserachtens eine gewisse "Tanzsaal-Altersklassen-Anbiederung" qua Bühnenbild und 70er-Jahre-Bezug. Würde wenigstens damit gespielt: aber, auch hier ziemlich wenig. Würde "man" als Signum der Zeit erkennen, daß es überall geschwätzig und dem Getue und Gehabe zugetan zugeht, nur immer dann, wenn jemand einmal aufmuckt, wenn ihn jemand mal wieder schneidet, wegdrängelt, zu bevormunden sucht, plötzlich es heißt "Ruhig, Brauner, mehr Ruhe, mehr Gelassenheit", ja, dann gäbe es auch ne Chance für Spannungsbögen und eine moderne Ausfaltung "tschechowscher Zeitgenossen", wohl gar für eine Veranstaltung, die mich mehr mit meinem "Hintern" zu versöhnen "droht" als mir "lieb" ist (vielleicht ja aus den Automatismen, die das Programmheft anspricht), aber es dürfte ein Kunststück sein, Spiel- und Gegenspiel hier überhaupt konstruktiv in Beispielen auf unsere Zeit abzubilden (der Abend ist outer space !), stattdessen belehrt man mich mit platten Logizismen der Sorte "Destruktion ist Konstruktion", wie sagt Wittgenstein so schön: "Wenn die Sprache feiert".
Vielleicht sollte Nr.4 sich wirklich freuen, daß "Tschechows Sprache" nicht ganz mit von der Partie so einer (Selbst-) Feier sein kann, die ein wenig auch das Loblied auf die Faulheit anstimmt und möglicherweise muß, denn irgendwie sah "man" da einen ziemlich faulen Kompromiß: nicht umsonst die Theurich-Formel "Wenig riskiert und vieles richtig gemacht"..
Kirschgarten, Hamburg: ein Totentanz
Welch angenehme Idee: Hier versucht mal nicht einer, den Kirschgarten als ultimativen Kommentar zur Wirtschafts-, Finanz- und globalen Sinnkrise zu lesen. Luk Perceval gelingt - unterstützt durch das wunderbar offene Bühnenbild von Kathrin Brack - ein bewusst nicht zwanghaft aktualisierter (auch wenn Perceval die Ferienhäuser durch Rapsfelder ersetzt), ein luftgetrockneter Kirschgarten, eine Art Kirschgarten-Post-Mortem, ein Totentanz nicht sterben wollender Geister. Lopachin ist hier nicht der positive Gegenentwurf zur morbiden Gutsbesitzergesellschaft, aber eben auch nicht der böser alles verschlingende Kapitalist. Hier ist kein Fortschritt, hier ist immer nur Durchwursteln, nur: warum auch nicht?

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2012/12/11/ich-war-die-ganze-zeit-hier/
Kirschgarten, Hamburg: Fußnägel rollten sich in Zeitlupe hoch
@ Prospero
Warum in aller Welt sehen Sie sich gerade den totlangweiligen Kirchgarten von Perceval an, wenn Sie schon mal nach Hamburg fahren. Da gibt es doch wahrlich Interessanteres zu sehen. Und in letzter Zeit wurden doch nun wirklich ganze Kirschwälder abgeholzt. Auch wenn das nicht mal 2 Stunden dauert, mir haben sich da die Fußnägel in Zeitlupe hochgerollt. Tschechow als lakonisch, larmoyanter Totentanz. Gähn! Dann lieber 4 1/2 oder sogar 6 Stunden Platonow. Kleiner Tipp: Versuchen Sie es wieder Ende April in Hamburg. Da ist es erstens wärmer und grüner, und zweitens versucht sich Perceval dann an den Brüdern Karamasow. Mal sehen, ob er Frank Castorf die Dostojewski-Krone streitig machen kann.
Kirschgarten, Hamburg: sanfter Exorzismus
Keine Angst, Stefan, ich hab schon noch mehr gesehen in Hamburg, aber eines nach dem Anderen :-) Gelangweilt habe ich mich nicht, und irgendwie war dieses Kirschgarten-Post-Mortem vielleiche auch eine Art sanfter Exorzismus nach all den anstrengenden Kirschgärten der Marken Hein/Lensing, Langhoff oder Kimmig. Aber nach drei Tagen nassen Füßen im Hamburger Schneematsch setze ich den April mal auf die Liste.
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