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Zu zerstört

von Juliane Streich

Leipzig, 3. März 2012. Der Anfang ist das Ende. Die gestörten Verhältnisse sind schon da, müssen nicht jetzt, können später erklärt werden. Robert Borgmanns Inszenierung von Ibsens "Gespenster" beginnt mit dem zweiten und dritten Akt, der erste folgt später. Wir sind mittendrin:

Ein Gespenst geht um. Pastor Manders zerreißt freidenkerischen Schriften und schmeißt die Möbel aus dem Fenster. Der angetrunkene Tischler Engstrand sammelt den zerbrochenen Tisch ein. Man könne auch auf drei Beinen stehen. Bald ist hier eh nichts mehr in Ordnung, der Schein trügt nicht mehr. Der tote Hausherr war ein Tunichtgut, die Witwe versucht seine Schuld durch die finanzielle Unterstützung eines Asyls loszuwerden, dem Pastor werden langsam die Augen geöffnet. Eine sich gerade anbahnende Liebschaft zwischen Haushaltsmädchen und dem heimgekehrten Sohn darf sich um Himmels-, um Mutterswillen nicht entfalten, sie sind schließlich beide, ohne es zu ahnen, Geschwister.

gespenster r.arnoldcentraltheater 560 u"Gespenster" im Wohnzimmer © R. Arnold / CentraltheaterEs gibt kein richtiges Leben im falschen, erklärt Adorno im Programmheft. Das wird in Ibsens Stück von 1881 (und damit etwa 60 Jahre vor Adorno) deutlich und zieht sich auch durch Borgmanns Inszenierung, die nah am Original bleibt – von der Reihenfolge mal abgesehen. Auf der Hinterbühne des Centraltheaters ist ein von Wasser umgebenes Wintergartenwohnzimmer aus Holz der Spielplatz, auf dem sich die fünf Charaktere austoben. In (entstehungs-)zeitgerechten Kostümen schreien sie sich an, bekunden Liebe, ziehen ihre Körper durch den Dreck.

Die Schwierigkeiten des Lebens
Tischler Engstrand (großartig gespielt von Hagen Oechel) ist der erste Lacher. In breitem Berlinerisch bequatscht er den Pastor (Thomas Lawinky) so überzeugend, dass er dabei den angeklebten Bart verliert, aus seiner Rolle fällt, souverän darüber Witze macht und von Helene Alving als "Knallcharge" bezeichnet wird. Sonst geht alles seinen Gang, wenn auch nicht den humpelnden des Tischlers. Ernsthafter die Rolle des Osvald (Marek Harloff). Ein Maler, der zur Mutter (Janine Kreß) heimkehrt, weil ihn Depressionen oder ein Kopfschmerz im Hinterkopf plagen, die ihn nicht mehr arbeiten lassen. Rauchend sinniert er über seine Gene und die Schönheit von Regine (Lina Pöppel). Die wäre bereit sich ihm hinzugeben, was sie deutlich macht, indem sie auf allen Vieren ihre weiße Unterbuxe zeigend durch den Raum krabbelt. Sonst lässt sie süffisant lächelnd die Schwierigkeiten des Lebens im hochgeschlossenen Kleid von sich abperlen. Erst als ihr klar wird, dass die Verbindung zu Osvald dank der Halbbruderschaft keine Zukunft hat, schreit sie die Hausherrin an: "Wo ist mein Scheißbaum?" Die schreit zurück. Hat keine Lust mehr auf Verdrängen und das Hinnehmen des Schlechten im Menschen, will ihre verbliebene Liebe ihrem Sohn schenken. Doch der wiederum will sterben, begräbt sie dafür im Blumenbeet, aus dem sie aufersteht, um ihn weiter zu bemuttern. Pause.

Ganz zeitlos
Das Publikum zieht um in den großen Saal, sieht das Bühnenbild nun von hinten und damit mit weiterem Abstand. Der dem Geschehen vorhergegangene Dialog zwischen Helene Alving und dem Pastor und die gemeinsame Teerunde werden hinter einem Gitter abgehalten genauso wie Regines Angebot an den Pastor, es sich doch zwischen ihren Beinen bequem zu machen. Musikalisch wird das Treiben auf der Bühne vom Second Life Orchestra untermalt, zwei Musikerinnen am Piano und Schlagzeug, die in Geistergestalt mit hochtoupierten Haaren und geschminkten Fratzen leicht düstere, doch zugleich mitreißende Musik spielen. Sichtbar sitzen sie in der Ecke der Bühne, oder waten durchs Wasser – immer wieder die gleichen Töne auf der Oboe flötend.

Das fast dreistündige Stück zeigt die Selbstzerstörung einer Familie in Ibsens Gesellschaftsdrama auf unterhaltsame, aber nicht alberne Weise. Zu zerstört sind die Figuren, zu zerstört ihre Hoffnungen. Alle haben verborgene Geheimnisse und Obsessionen, die sie zwar bisweilen leicht parodiert darstellen, dadurch aber deren Zerstörungskraft für das alltägliche Zusammenleben umso deutlicher aufzeigen. Der Konflikt zwischen Sein und Schein, zwischen dem, was gesellschaftliche und moralische Vorstellungen vorgeben und der gleichzeitigen Flucht davor wird hier ganz zeitlos dargestellt, ohne ihn mit den größtenteils Originaldialogen und einem realitätsnahen Bühnenbild in die heutige Zeit zu übertragen. Dass das Stück da endet, wo das Drama eigentlich erst beginnt, zeigt: Es ist noch lange nicht vorbei.

Gespenster
von Henrik Ibsen, übersetzt von Heiner Gimmler
Regie: Robert Borgmann, Bühne: Susanne Münzner, Kostüme: Janina Brinkmann, Musik: Friederike Bernhardt, Andreas Schwaiger, Dramaturgie: Anja Nioduschewski.
Mit: Marek Harloff, Janine Kreß, Thomas Lawinky, Hagen Oechel, Linda Pöppel.

www.centraltheater-leipzig.de


Kritikenrundschau

Der Wechsel von der Hinterbühne in den Saal an diesem zweigeteilten Abend mutet Peter Korfmacher von der Leipziger Volkszeitung (5.3.2012) zunächst "plakativ bis billig" an. Dem ersten Teil, der viele Kalauer und Gewitzel als "Ausweis dramaturgischen Leerlaufs" biete, folge dabei ein zweiter, der mit einem "gepflegten Kammerspiel-Ton" aufwarte. Dieser Ton wechsele, wenn man sich nach draußen wende, ins "exaltierte Gebrüll". Was jedoch plausibel wirkt: "Denn draußen warten die Dämonen, lauern die Gespenster vertanen Lebens auf den Fundamenten der Lüge." Es sei eine "Stärke dieser Inszenierung" die Dämonen, "die in der Seele wohnen" zu zeigen. Allerdings stellt sich dem Kritiker die Frage: "Hätte es bei sorgsamer Zeichnung der Figuren nicht auch eine Perspektive getan? Die Ibsens? Der ja so groß ist, weil er den ganzen Menschen auf die Bühne stellt und nicht einen Schattenriss?"

Borgmann habe an diesem Abend "mehr die Instrumente seiner Ästhetik vorgeführt, als sie so anzuwenden, dass am Ende eine wirklich überzeugende Ibsen-Beschwörung daraus geworden wäre", schreibt Joachim Lange in der Mitteldeutschen Zeitung (7.3.2012). Dabei probiere der Regisseur im "längeren Hinterbühnen-Teil des Abends" in einer "norwegisch verdunkelten Tschechow-Atmosphäre" die "Gespenster der unterdrückten Emotionen von der Kette zu lassen", was unter Musikeinsatz und "motorischen Eruptionen" bisweilen auf Kosten der "Hörbarkeit" gehe. Bei Ibsen aber "wäre der verständlich gesprochene Text ungemein hilfreich." Der zweite Teil "aus dem Zuschauerraum" biete dann "eine distanzierte Draufsicht aufs Stück, die mit Mikroports voll verständlich und mit dem Text im Bunde" sei.

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