altLebensfreude ist nur ein Wort

von Martin Pesl

Wien, 9. März 2012. Staub ist der Anfang, er liegt überall. Aus Ibsens "geräumigem Gartenzimmer", das alle drei Akte seines Dramas "Gespenster" beherbergt, ist bei David Bösch und Ausstatter Patrick Bannwart das Zimmer eines Toten geworden, an den man sich nicht so gerne erinnert, dessen Zeug man aber auch nicht einfach wegwerfen wollte. Dass Regine (Liliane Armuat) sich überhaupt Mühe gibt, hier zu kehren, wirkt etwas lächerlich. So schiebt sie denn auch den halbherzig angehäuften Dreck resignierend unter eines der weißen Laken, die nebst Spinnweben all die alten Möbel verdecken. Ein gigantisches Porträt an der Wand, mit grusligen großen Augen, die einen zu verfolgen scheinen, und eine kleine Büste im Vordergrund zeigen an, wer hier einst hauste: der Kammerherr Alving, wie es heißt, ein Mann voller Lebensfreude.

gespenster3 280q reinhard werner uDie Witwe Alving (Kirsten Dene) und ihr Gespenst
© Reinhard Werner

Krankheiten der Gegenwart

Die Lebensfreude, ein viel besprochenes Thema im Hause Alving. Witwe Helene (Kirsten Dene) nutzt es als Rechtfertigung gegenüber Pastor Manders (Martin Schwab), der ihr vorwirft, dass sie sich einst ihm um den Hals warf, um ihrem Manne zu entkommen, anstatt ihn pflichtschuldig zu erdulden. Die Lebensfreude beschreibt auch ihr Sohn Osvald (Markus Meyer) als zentrales Thema seiner Malerei. Nur noch Regines Liebe könne sie ihm wiedergeben. Daraus wird freilich nichts, als klar wird: Sie ist seine Halbschwester, Produkt der alvingschen Lebensfreude. Bei den Figuren in dieser Kleinstadt ist die Lebensfreude aber durchwegs nur ein Wort, ein hektisch herangezogenes theoretisches Endziel, von dem alle denkbar weit entfernt sind.

Und David Bösch wäre nicht der Emo unter den Regisseuren, bekäme man das bei ihm nicht sehr deutlich zu spüren. Dazu ein kleiner Zeitsprung zum Beginn des dritten Aktes. Als endlich alle alles wissen über die Krankheiten der Gegenwart und die Verfehlungen der Vergangenheit, brennt obendrein das Kinderheim ab, das zu Alvings Ehren eigentlich feierlich eröffnet werden sollte. Da leistet sich Bösch eine große Katharsis, einen Moment der allgemeinen Befreiung. Er lässt es runterregnen, das beängstigende Bild des Übervaters fällt und Künstler Osvald, der wegen einer Erbkrankheit nicht mehr malen kann und bald ein Pflegefall sein wird, darf in einem letzten Performance-Akt auch die Büste des von ihm zu Unrecht idealisierten Erzeugers zertrümmern.

Kleine Gesten, großes Pathos

Ja, das ist dick aufgetragen (und dazu auch noch passend Father and Son in der Version von Ronan Keating!). In den kleinen Gesten, die das große Pathos begleiten, lenkt Bösch aber mit genau der Prise Ironie ein, die dem Skeptiker die Brücke zum großen Gefühl baut, dieses aber nicht negiert. So ist gleich, nachdem Osvald sich am Höhepunkt der Katharsis das Pyjamaoberteil vom Leib gerissen hat, Zeit für die Medikamente.

gespenster1 560 reinhard werner uRegine (Liliane Amuat) macht rein © Reinhard Werner

Dieser verzweifelte Allgemeinaufschrei dient auch dem Publikum als Erleichterung. Bis zu diesem Punkt nämlich hatte es inmitten der gedämpften Ästhetik alter Schwarzweiß-Horrorfilme (also: Gespenster-Filme) überraschend starres Konversationstheater auszusitzen. Dass in den ersten beiden Akten abgesehen vom stummen Spiel, über das Osvald und Regine sich einander annähern, und den amüsanten Auftritten des volltrunkenen Tischlers Engstrand (Johannes Krisch), lähmende Leerläufe entstehen, liegt daran, dass das Gros des gestrafften Textes die rigiden Moralvorstellungen des Pastors den fortschrittlicheren der Frau Alving gegenüberstellt. Martin Schwab und Kirsten Dene, eine der ältestgedienten Traumpaarungen des Burgtheaters, wirken in diesen Gesprächen mal ein bisschen zu müde, dann wieder eine Spur zu virtuos in ihren gewohnten Manierismen, um den Staub, der sich auch auf Ibsens Themen ein bisschen abgelagert hat, davonzublasen.

Tragödie der Bürger

Doch lieber wieder in den dritten Akt. Der hat Fahrt, und ganz am Ende lässt Bösch erahnen, warum das antike Publikum bei Tragödien einst in Wehklagen ausbrach. Der von Markus Meyer souverän zwischen kluger Selbstreflexion und unaufhaltsamer Geisteskrankheit eingeordnete Osvald rollt in Vorbereitung seines baldigen Zustands "wie ein Wickelkind" auf einem Dreirad herein und erklärt seiner Mami, warum sie ihn töten soll, wenn es zu schlimm wird. Anders als in Ibsens Original nimmt Osvald das Morphium schließlich selbst und stirbt dahin, während Mutter und Sohn sich Dias alter Zeichnungen von Osvald ansehen, also buchstäblich sein Leben vorüberzieht. Der Projektor ist bald ebenso leer wie die Pillendose, knattert aber gelassen weiter, und Frau Alving bleibt nur noch, still in sich hinein zu schluchzen. Ein schmerzhaft schöner Abschluss.

 

Gespenster
von Henrik Ibsen
Deutsch von Angelika Gundlach
Regie: David Bösch, Bühne und Kostüme: Patrick Bannwart, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Florian Hirsch
Mit: Kirsten Dene, Markus Meyer, Martin Schwab, Johannes Krisch, Liliane Amuat.

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Von einem "Triumph" berichtet Ronald Pohl im Standard (12.3.2012). Böschs "messerscharf gedachte Inszenierung" entwickle ihr "Erkenntnisinteresse" an der Hamlet-Frage: "Wie kann man, wie soll man im Schatten übermächtiger Altvorderer überleben?" Wobei Bösch in der Figur des Sohnes Osvald zeige, dass in dieser Frage Kunst "auch keine Lösung" sei. Bösch entfalte "mit meisterlicher Hand ein Zersetzungsgeschehen, das zur Verdunkelung führt", und erzähle mit seinen durchweg als herausragend eingestuften Schauspielern "von der Geburt des Geschäftssinnes aus dem Geist der Niedertracht".

Eine "Sternstunde" hat auch Barbara Petsch von der Presse (12.3.2012) erlebt. Dieser  Ibsen sei wie einen "Horrorfilm" inszeniert. "Bösch mied die gravitätische Diskretion, die in den 'Gespenstern' waltet, er entfernte die Schalen, was übrig bleibt, ist zum Weinen, dennoch grandios". In dieser Inszenierung werde die "Rebellion gegen die Konventionen, der heiße Atem einer unterdrückten Moderne, der die Sprengkraft dieses Stückes ausmacht," durch Regie und grandiose Schauspieler "wieder belebt". Von "Heiterkeit" ist zudem die Rede, die sich einstelle "infolge der ungeheuerlichen Figuren und ihrer Lügen". Bösch verstehe sich nicht nur "wunderbar auf verzweifelte Liebesszenen", sondern lenke in allem "das Ensemble mit einer bestrickenden Flut kleiner, stimmiger Einfälle".

Etwas reservierter lobt Sophia Felbermair für den ORF (10.3.2012): "Bösch hat mit seiner Inszenierung fraglos eine sehr solide Arbeit abgeliefert, mit der er stilistisch an vorhergehende Projekte anschließt. Doch vor allem den schauspielerischen Leistungen des gesamten Ensembles – allen voran der gewohnt souveränen Dene – ist es zu verdanken, dass das Stück am Premierenabend mit langem Applaus gefeiert wurde." Im Zentrum des Abends liegt für die Kritikerin eine "zeitlos" relevante Thematik: "die fehlende Lebensfreude, der Wunsch nach unbeschwertem Glück und das Scheitern an eigener und fremdverschuldeter Verzweiflung".

Von einem "Fest" für die Schauspieler berichtet auch Günter Kaindlstorfer in der Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (11.3.2012). Bösch habe dabei das Ibsen-Stück "von allen Zeitbedingtheiten gereinigt und konzentriert sich vollständig auf die Eltern-Kind-Problematik, die ja auch heute noch, wie jeder Familientherapeut weiß, für Tragödien größerer oder kleinerer Provenienz gut ist." Dabei gelinge dem Regisseur eine "intensive, atmosphärisch dichte Inszenierung, die bei aller Spukhaftigkeit auch vor plakativen Elementen nicht zurückschreckt". So werde etwa zu Cat Stevens' "generationsübergreifender Schnulze" "Father and Son" vom syphiliskranken Osvald "mit einem Vorschlaghammer" die "Büste des Vaters" zertrümmert.

Unter der etwas irreführenden Überschrift "Heuchelei dringt aus allen Ritzen" würdigt Paul Jandl für die Welt (12.3.2012), wie sich Regisseur David Bösch und Ausstatter Patrick Bannwart "Ibsens Dramaturgie der Dämmerung" aneignen. "Mit Bravour" versuche Bösch, "zwischen Lautem und Leisem, zwischen Komik und Trauer zu balancieren". Das heißt: "Die ödipalen Verstrickungen, die Feigheit und die Heuchelei können aus den Ritzen zwischen den Wörtern dringen, sie verraten sich in einem großen Kammerspiel der Gesten, aber es wird auch brachial mit dem Hammer gearbeitet." Besonders "das Dream-Team des Abends" Kirsten Dene und Martin Schwab mache in seinem "Kampf um moralische Deutungshoheit" diese Inszenierung "zum Ereignis".

In der Schauspielerführung oder Schauspielerbefreiung macht auch Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.3.2012) die eigentliche inszenatorische Leistung an diesem Abend aus: Dass "der noch ziemlich junge Regisseur David Bösch die beiden großen Alten in die zarte Schlacht um die wild-peinlichen verbogenen Gefühle derart schickt, dass er den großen alten Schauspielern traut, ist ein schönes Beispiel dafür, dass die Kunst durchdringender Menschendarstellung keine Sache alter Moden ist, sondern: eines alten Schatzes." Die "großen Alten", die hier angesprochen sind, sind Kirsten Dene und Martin Schwab. Sie zeigen "das rührendste, verzweifeltste, komischste Liebesnichtgespann, das seit langem auf deutschen Bühnen zu sehen war."

"Diese 'Gespenster'-Inszenierung ist ein großer Wurf," schreibt Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (13.3.2012), auf den diese Inszenierung wie eine "Ibsen-Austreibung" wirkt. In Böschs Inszenierung nämlich wird Ibsen Schödels Eindruck zufolge selbst zum Gespenst: "Sein tragisches Weltbild, seine Familiengrüfte, diese Zeit der Vernunftehen, die Vatermonster und die Muttersöhne." Das alles gelte Bösch aus heutiger Sicht als Teil des Schauerdramas, "dessen Schuldpathos und Verhängnisgläubigkeit er ein Stück weit entgeistert, ohne den Text zu beschädigen." Und gerade auf diesem Weg uns Heutigen Ibsen ein Stück näher bringe. Die Finsternis der Bühne unterstütze die sanfte Ironie der Aufführung, die dem Kritiker insgesamt einen Regisseur gezeigt hat, "der sehr musikalisch inszeniert, aber auch auf die Pauke hauen kann. Ein junger Mann, der mehr als nur sich selbst versteht, ein Methodiker mit einer definierenden Kraft."

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Gespenster, Wien: Hinweis zur Musik
Gespielt wird die Originalversion von "Father and Son"; Cat Stevens
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