Zerstörerische Debatte

von Simon van den Berg

März 2012. Die vergangenen Monate waren sehr seltsam. Im Juni hatte sich die gesamte niederländische Kunstwelt zusammengeschlossen und gegen die Sparbeschlüsse protestiert. Aber genauso schnell verebbten die Proteste auch wieder; fortan blieben alle verdächtig ruhig, um nicht zu sagen: apathisch. Man konnte förmlich dabei zuschauen, wie die niederländische Konsenskultur wieder mal Schwerstarbeit leistete.

Künstler wie Johan Simons oder Jonas Staal warnen schon seit längerem: Den Niederlanden fehlt ein Mechanismus, seine Konflikte auszutragen. Der starke Drang, sich in der Mitte zu einigen, Streitigkeiten unter den Tisch zu kehren und lieber schnell eine Lösung zu präsentieren, macht anfällig für moralische Kompromisse. Selbst die Kunst, die sich in anderen Ländern oft ganz selbstverständlich als Arena für soziale Konflikte versteht, ist nicht immun dagegen. "Niemand spricht", sagte jüngst der Theatermacher Jan Joris Lamers, der für seine Innovationen im Avantgarde-Theater allseits geschätzt wird, "und das ist, als würde man sich selbst außer Kraft setzen."

branden cleovanvelzen01Böses linkes Hobby! Du bist zu teuer!
Szenenfoto aus Alize Zandwijks Inzenierung von "Verbrennungen" am Ro Theater Rotterdam
© Leo van Velzen /Ro Theatre
So haben sich, nachdem sich der erste Ärger gelegt hat, alle Künstler und Institutionen still an die neuen Förderanträge gesetzt. Bewerbungsfrist für die großen Institutionen war der 1. Februar 2012, kleinere Gruppen mussten ihre Anträge bis 1. März einreichen. Obwohl über einigen wenigen Plänen immer noch der Mantel der Verschwiegenheit liegt, ist nun doch im Großen und Ganzen bekannt, wie es weitergehen wird.

Vier-Jahres-Plan

Für den Kontext ist es gut zu wissen, dass die niederländische Kulturförderung in Vier-Jahres-Intervallen organisiert ist. Alle vier Jahre erarbeiten die Regierung, die großen Kulturfonds und die Städte einen "Kunstenplan", in dem der Großteil der Förderung festgelegt wird. 

Als die neue rechtkonservative Regierung im vergangenen September beschloss, die Kultur-Ausgaben zu reduzieren, war der Kunstenplan 2009-2012 gerade zu Hälfte abgelaufen. Bis Ende 2012 ist die Finanzierung gesichert und die neue Sparpolitik wird erst ab 2013 wirksam. Es folgten eine Reihe weiterer kleiner Beschlüsse, darunter die Anhebung der Umsatzsteuer auf Theaterkarten, und Maßnahmen, die auch den Kunstenplan 2013-16 betreffen.

Nach dem Vorbild des Kunstenplan-Zyklus vergeben auch die Städte ihre Mittel. Sie versuchen mit eigenen Plänen Akzente zu setzen, aber der Fahrplan bleibt derselbe, und seit Juni haben auch die Städte Sparmaßnahmen angekündigt, von denen die Kultur nicht verschont bleibt. Amsterdam und Den Haag haben das Kulturbudget um acht Prozent gekürzt, Rotterdam um sieben Prozent. Auch wenn diese Einschnitte nicht so gravierend wie die landesweiten waren und viele Städte sich zu ihrer Kulturszene bekennen, sind viele Institutionen gleich doppelt von den Mittelkürzungen betroffen. 

Gleichzeitig haben das Kulturministerium und die Kulturfonds neue Kriterien und Vereinbarungen für die Subventionsvergabe formuliert, die aufgrund des gesunkenen Gesamtbudgets neue Prioritäten setzen: Es zählt nicht mehr nur die künstlerische Qualität, es sollen jetzt auch die unternehmerische Einstellung und die Zuschauerauslastung als Kriterien einfließen.

Das alles ist nicht neu, aber die Kritik am alten Begutachtungssystem hat das bisherige Konzept in ein schlechtes Licht gerückt. Politiker empfinden die Qualität von Kunst anscheinend mehr denn je als eine Blackbox: unmessbar und daher unhaltbar und nicht mehr relevant.

In dieser Situation haben die Theater- und Tanzgruppen in den vergangenen Monaten ihre Förderanträge erarbeiten müssen. Der Druck, Kompromisse zu schließen, ist groß. Öffentliche Unterstützung fehlt. Der neue Pragmatismus mag in einigen Fällen auch zu interessanten Ideen geführt haben, aber dort, wo viel zu verlieren ist, hat sich auch blanker Pragmatismus breit gemacht.

Creative Thinking

Das Konzept der Produktionshäuser (jene niederländischen Institutionen, in denen junge Künstler relativ frei ihre Arbeit weiterentwickeln können) wurde vom Ministerium als unnötig erachtet und die nationale Förderung wird 2013 komplett eingestellt. Allerdings hält man die Produktionshäuser auf lokaler Ebene für so wichtig, dass einige Städte und Theater zur Zeit nach Möglichkeiten suchen, um die Häuser am Laufen zu halten. Manchmal kommen verblüffende Kooperationen dabei heraus: In Groningen plant das Produktionshaus Grand Theatre eine Fusion mit dem Avantgarde Theaterfestival Noorderzon und kleinere Gruppen versuchen dort weitreichende Zusammenarbeit und Kooperationen einzufädeln. In Rotterdam wird das recht große Ro Theater mit dem kleineren Schauspiel-Kollektiv Wunderbaum (die hauptsächlich in Black-Box-Theatern und Locations spielen) und dem lokalen Produktionshaus fusionieren.

Die meisten der angekündigten Projekte haben sich erstaunlich schnell an das angelsächsiche Modell der Spendenaktionen, Freundeskreise, Crowdfunding und Sponsorshop gehängt. Künstlerisch interessanter wirken die Pläne für so genannte "Co-Creationen". Die meisten großen Gruppen und Festivals haben innovative und teils wirklich spannende Pläne vorgelegt, um mit Institutionen aus dem Gesundheitswesen, der Bildung, dem Umweltschutz oder des Sozialwesen zu kooperieren. Das folgt dem Trend jüngerer Künstler, aus dem Kunst-Asyl auszubrechen und nach sinnvollen Verbindungen in die Wirklichkeit zu suchen.

Es ist natürlich die pure Ironie, dass der Druck, der durch die Kürzungen entstanden ist, anscheinend eine Menge Kreativität freisetzt. Die wurde bereits von Politikern des rechten Lagers missbraucht, um die Regierungspolitik als Erfolg zu verkaufen.

Auch neue Pläne kosten Geld

Die Wahrheit ist, dass auch all diese neuen Pläne und Ideen finanzielle Unterstützung benötigen. Erst im Sommer wird man wirklich mehr wissen. Dann wird das Kunstenplan-Komitee entscheiden, wie die gesunkenen Mittel verteilt werden, und erst dann kann man abschätzen, welches Ausmaß die Zerstörung hat und welche Gruppen überhaupt überleben können.

Die niederländische Kunstwelt ist allerdings bereits jetzt angeschlagen von der zerstörierischen Debatte um den Nutzen der Kunstförderung im vergangenen Sommer. Die Theater- und Museums-Besuchszahlen sind gesunken. Die Bedeutung der Kunst wird geringschätzt. Kaum jemand scheint sich im Moment für ihre Funktionsweisen zu interessieren. Und deswegen ist es jetzt, nach dem die Anträge geschreiben sind, höchste Zeit, dass die Künstler wieder das Wort ergreifen.

Aus dem Englischen übersetzt von Simone Kaempf

Der niederländische Theaterkritiker Simon van den Berg, 1975 geboren, gründete nach dem Studium in Amsterdam und Berlin die Theaterwebsite Moose. Er schreibt für die in Amsterdam ansässige Tageszeitung "Het Parool" und die Theaterfachzeitschrift "TM" und gehört zur Redaktion des Theater-Feuilletons www.theaterkrant.nl, das seit Anfang diesen Jahres online ist.

 

Wie alles im Sommer 2011 anfing? Zu Simon van den Bergs Theaterbrief Niederlande 1 geht es hier.