alt

If you can dream it...

von Christian Rakow

Berlin, 27. März 2012. "Wollt Ihr die Wahrheit hören?", feuert uns Frank Okoh, ein stämmiger Mann in Latzhose, an. "Aber klar doch." – "Wollt Ihr sie wirklich hören?" – Und der Zuschauerchor jubelt aus voller Brust: "Yessssss!" – Also: "Es gibt nur zwei Typen Autos: Mercedes und die anderen." – Hallelujah, möchte man ausrufen. Er lebt, der Glaube an die deutsche Wertarbeit. Er verströmt sich wie die frische Frühlingsabendluft in einem Auto-Container auf dem Hof des Berliner Hebbel-Theaters (HAU1).

Frank Okoh, der beruflich Gebrauchtwagen in die nigerianische Metropole Lagos importiert, ist einer von elf "Lagos Business Angels", die Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll für ihr gleichnamiges neues Rechercheprojekt (nach einer Idee von Dorothee Wenner) gecastet haben. An je eigenen Stationen im und am gesamten Theatergebäude empfangen diese tüchtigen Geschäftsleute die gut fünfzehnköpfigen Zuschauergruppen. Pro Route schafft eine Gruppe an diesem zweistündigen, größtenteils englischsprachigen Abend sieben Experten.

Gegenszenario
Da präsentiert uns Oluwafemi Ladipo schüchtern tänzelnd einige der edlen Lederschuhe, die er mit fünf Mitarbeitern in seiner Schuhwerkstatt anfertigt (auf 200 Paare bringen sie es im Monat) und preist das enge Band von "Personality and Profession". Der Kirchengründer Victor Eriabie predigt uns enthusiastisch von Mut, Stärke und Unternehmergeist: "Ich sehe einen Riesen in dir!" Bei der wonnigen Personalvermittlerin Biyi Tunji-Olugbodi werden unsere verborgenen Berufspotenziale herausgekitzelt. Und im ersten Rang des Theatersaals erzählt der charismatische, ruhige Jude Fejokwu, wie er als Analyst die Bilanzen einer großen Investment-Bank kritisch durchleuchtete, was ihm prompt eine Entlassung einbrachte. Trotzdem würde er uns empfehlen, in nigerianische Aktien zu investieren, weil die Preise hier stabil seien und es als Ehrensache gelte, Dividenden zu zahlen. Am besten nimmt man gleich seine Visitenkarte mit.

Lagos1 560 MuTphotoBarbaraBraun u"Lagos Business Angel" Frank Okoh © MuTphoto / Barbara BraunKurzum, Rimini Protokoll haben wie stets eine Reihe von tollen Charakterköpfen versammelt, denen man gern länger als die je knapp zehn Minuten gelauscht hätte (nach der Veranstaltung ist freilich Zeit für weitere Gespräche). Aber das künstlerische Gesamtbild dieser bilateralen, latent ironischen Info-Messe fällt doch arg blass aus. Im wild entschlossenen Bemühen, endlich mal nicht das Szenario eines krisenhaften Afrika mit Armut, Korruption, Ressourcenausschlachtung, ethnischen und religiösen Konflikten zu zeigen, driften die drei großen Dokumentartheatermacher in eine fröhliche, vollkommen anschlussfähige, weil komplett kontextfrei gehaltene Menschenschau ab. Wir erleben Völkerverständigung auf Erbsengröße.

Pionierliberalismus
Nirgends richtet sich eine Frage an die strukturellen Zusammenhänge des Wirtschaftsraums, wie sie etwa Hans-Werner Kroesinger in seinen Dokumentarabenden zu entwickeln vermag. Die Wattebausch-Regie von Rimini Protokoll feiert den kleinbürgerlichen Blick für die unmittelbare Handlungssphäre, wobei die hier allerorten waltende Mischung aus Tatendrang, Geschäftssinn und religiöser Festigkeit haargenau dem Pionierliberalismus eines Adam Smith entspricht, der die frühkapitalistischen Gründerzeiten in Europa prägte.

Lagos2 560 MuTphotoBarbaraBraun uUnd jetzt alle! © MuTphoto / Barbara BraunMan will ja gar nicht, dass auf den sozialen Verwerfungen herumgeritten wird, die ein Wirtschaftswachstum in institutionell unterentwickelten Ländern nach sich zieht und denen Nigeria etwa mit der Entdeckung des Erdöls seit den 1950er Jahren ausgesetzt war. Aber wenn der deutsche Netzwerker Uwe Hassenkamp an seiner Station eher en passant die Schmiergelder erwähnt, die Firmen an Wirtschaftsprüfer zahlen müssen, um Geschäftsbeziehungen aufzubauen, dann fällt die Weichzeichnung dieses Theaterunternehmens schon unangenehm auf.

"Betrüger gibt es überall"
Und wenn die Nürnberger Fabrikantin und Antikorruptionsaktivistin in Lagos Frieda Springer-Beck ihr Arbeitsfeld allein über ihren privaten Fall aufrollt, bei dem sie einem Trickbetrüger aufsaß, was sogleich mit der Binse "Betrüger gibt es überall" garniert wird, dann wird die Auslassung der allgemeineren Zusammenhänge zum echten Ärgernis. Wohlgemerkt liegt das Problem nicht bei dieser charmant erzählenden "Expertin des Alltags", sondern bei den Machern von Rimini Protokoll, die hier nicht tiefer nachfragen mochten.

Zum Finale geht's in den großen Saal des HAU, auf die Bühne, wo alle beteiligten "Lagos Business Angels" Aufbaulieder singen und ihre Geschäftscredos auf einem Unternehmer-Catwalk zum Besten geben ("I am born to fly", "If you can dream it, it is possible" etc.). Auch der stets mitschwingende Kontrast zum pessimistischen, wirtschaftskritischen Standort Deutschland wird noch einmal augenzwinkernd betont. Mit einem Gebet erhoffen die Kapitäne des Kleingewerbes "Wohlstand und Aufschwung für Deutschland". Und ja, denkt man, in solch einer überdrehten, schelmischen Gute-Laune-Guter-Profit-Show hätte sich vielleicht eine überzeugende theatrale Verdichtung ergeben. Aber "hätte" heißt auch: war nicht.

Lagos Business Angels
von Rimini Protokoll
nach einer Idee von Dorothee Wenner
Regie, Buch: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel (Rimini Protokoll), Bühnenbild: Silke Bauer, Recherche / Dramaturgie: Martin Baierlein, Musikalische Leitung / Komposition: Barbara Morgenstern, Recherche / Koordination Lagos: Steph Ogundele.
Mit Geschäftsleuten aus Nigeria und Europa: Oludolapo Ajayi, Victor Eriabie, Jude Fejokwu, Silke Hagen-Jurkowitsch, Uwe Hassenkamp, Enwele Ifeanyi (Video), Oluwafemi Ladipo, Frank Okoh, Olabiyi Olugbodi, Kester Peters, Frieda Springer-Beck.

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

Glanz und Elend der Methode Rimini Protokoll liegen für Andreas Fanizadeh in der taz (29.3.2012) eng beieinander. "Natürlich will man gegen einen Kulturaustausch zwischen Nigeria und Deutschland keine Einwände erheben. Doch warum muss es so realitymäßig mit sich selbst spielenden Akteuren auf die Bühne gebracht werden? Soll das authentisch sein, oder ist es schon folkloristisch, quasi die andere Medaille des Blackfacing?" fragt er. Auch findet er die Frontalbesprechung durch die Laiendarsteller teilweise ermüdend und wartet schließlich "immer dringlicher auf den pausenfüllenden Klammersong 'I Wanne Be A Millionaire'. "Ärgerlich findet er auch, dass die Laiendarsteller als Ensemble am Ende auf der Bühne "noch zu Bischofszitaten die Musicalclowns geben, und Rimini dabei ein bisschen Kapitalismuskritik versprühen". Die sei aber, so Fanizadeh, so harmlos ist, dass sie von jedem Goethe-Institut der Erde unbedingt gefördert werden müsse.

Der Abend verschaffe "durchweg faszinierende Begegnungen mit emsigen Networkern, die einem ihre Visitenkarte in die Hand drücken und gerne in Kontakt bleiben wollen," so Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (29.3.2012). Ihre Ausführungen blieben zwar oft undurchsichtig. Das aber sei Teil des Konzepts. "Genau wie der Verzicht darauf, die Biografien in einen Kontext zu stellen. Rimini Protokoll halten keine Volkshochschulkurse ab. Und sie wollen auch kein Afrikabild vermitteln." Die Performance werfe den Zuschauer ins Gewühl eines unübersichtlichen Marktes, auf dem man den Schaumschläger nicht vom seriösen Partner unterscheiden könne und jeder Verkäufer seiner selbst sei. "Klar bleibt die europäische Sicht auf das Land klischeeverdunkelt." Interessant aber findet Wildermann die Perspektivverschiebung, die sich für ihn ergibt. "Wo man hierzulande gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche wettern würde, begegnet man dem findigen Businessstreben der Nigerianer weit unkritischer."

Von "Schmunzel-Theater" spricht Hartmut Krug in der Sendung "Kultur Heute" beim Deutschlandradio (28.3.2012). Dieser Abend führte ihm vor allem "die wohl größte Fähigkeit der Theatergruppe Rimini Protokoll" vor Augen, nämlich beim Casting theaterwirksame Experten des Alltags zu finden. Fasziniert vom wirtschaftlichen Boom in Nigeria, habe sich Rimini Protokoll nur mit dessen erfolgreichen Protagonisten beschäftigt. Doch erführe man "nichts über ethnische Konflikte und Armut, nichts über Wohnungsnot und religiöse Konflikte, nichts über die gesellschaftlich verheerenden Folgen der Erdölförderung und über Korruption." An diesem Abend werde das Hohelied des liberalen Kapitalismus gesungen. "Wenn sich alle zum Schluss noch einmal auf dem Laufsteg präsentieren und sich (Achtung: Ironie) goldener Flitter auf sie ergießt, erklingen all die Macherslogans noch einmal, - und ein Geistlicher tönt mit seiner Motivationspredigt vom Band dazu. Also: Wenn du es glaubst, schaffst du es auch. Oder: Wir sind geboren, zu fliegen." Am Ende sehnt Krug sich "nach einem der theatralisch zwar spröden, aber strukturell analytischen Abende des Dokumentarregisseurs Hans-Werner Kroesinger."

Eigentlich, so Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (29.3.2012) , machten ja "die Kleinunternehmer" aus Lagos nichts anderes als das, "was im Theater auf verschiedene Weise immer passiert, nur nie so direkt, so gehetzt": sie versuchten die Zuschauer für "Beteiligungen an ihren Vorhaben, Träumen, Kalkulationen" zu gewinnen. "Lagos Business Angels" sei eine Art "Speed-Dating mit der kleinen, großen Geschäftswelt von Lagos". Welche dieser Geschäftsideen allerdings Hand und Fuß haben, sei kaum zu sagen. Oft verstehe man "durch das sehr spezielle afrikanische Englisch" "sowieso kein Wort". Am Ende zähle nur die "Performance", darin sei jede Geschäftsidee immer ganz Theater. "Erhellende Überblendungen" dieser "gespannten Verwandtschaft" aber liefere "Lagos Business Angles" nicht. Was die Rimini-Spiele sonst auszeichne, "ihre Detailgenauigkeit, in der sich Parallelwelten durchleuchten und konterkarieren", bleibe aus.

mehr nachtkritiken