altFritschiadisches Ballett

von Matthias Weigel

Berlin, 28. März 2012. Für eines der 232 handsignierten Exemplare aus den Siebzigern muss man inzwischen schon mehrere Hundert Euro auf den Tisch legen. Wer dennoch eines ergattert, kann zufällig eine der 176 Seiten aufschlagen und das erste zu lesende Wort wird sein: "Murmel". Denn es ist auch das einzige Wort, das im gleichnamigen Theaterstück des Dada-, Aktions- und Objektkünstlers Dieter Roth (1930–1998) immer und immer wieder zu lesen ist – für die Proben konnte man sich die Buchform wohl sparen.

Nachdem sich der spätberufene Regisseur Herbert Fritsch bereits diversen Schwänken widmete, nimmt er sich an seiner alten Heimat Volksbühne nun also den Überschwank vor: Neunzig Minuten lang "Murmel Murmel". Einerseits perfekt: Er muss sich nicht mehr lange damit aufhalten, eine Geschichte zu erzählen, sondern kann pausenlos in die spielerischen Slapstick-Vollen gehen. Aber andererseits riskant: Ohne Gerüst, ohne Netz, schafft das eine Fritischiade ohne Halsbruch?

murmel1 560 thomasaurin uIm Überschwank in den Abgrund © Thomas Aurin

Muamehl, Mumähl, Muomill

Nun, so ganz ohne Kleister muss sie dann doch nicht auskommen. Zwei Elemente halten die Gaudi der verrückten Elf zusammen, die Dauerbeschallung von Ingo Günther an Marimbaphon, Keyboard und Computer sowie die vom Meister selbst erdachte Psycho-Retro-Bühne. Auf mehreren Ebenen hintereinander sind bunte, bewegliche Bühnenwände aufgestellt und aufgehängt, die den Raum tunnelartig zusammenschnurren lassen können, LSD-Perspektivverschiebungen hervorzaubern.

Und dann wird also losgemurmelt, mal posierend, mal stolpernd, mal singend, jedenfalls immer mit fritschesker Maulsperren-Mimik und Knallkopf-Komik. Mal im Chor, mal im Kanon, mal solo klingt "Murmel, Murmel" – von Ingo Günther in meditativen Takt gebracht – irgendwann nach "Mobbel, Wabbel, Wubbul" (Stakkato-Variante), oder wie bei Anne Ratte-Polle im Legato mehr nach einem "Muamehl, Mumähl, Muomill".

murmel 280c thomasaurin h© Thomas AurinFritschs exaltierter Schauspielstil wirkt bewährt als Antidepressivum, allerdings im exakten Sinne: Jegliche Spitzen und Schwankungen werden abgeschnitten. Sprich: zwar gibt es keine Ausreißer nach unten (weshalb Fritsch auch mit schwächeren Ensembles von kleineren Häusern so erfolgreich sein kann), allerdings auch keine nach oben – selbst Stars wie Wolfram Koch können halt nur mithampeln. Für Slapstick darf man sich bei Fritsch nicht zu schade sein, und sei es gegen imaginäre Glasscheiben zu laufen oder ein Mikrofon zu "verschlucken".

Eigentherapie durch Gruppentherapie

Dabei ist gerade bei diesem Stück der Haudrauf-Slapstick dem Humor nicht zuträglich. Man hätte sich viel öfter auf die Grundkonstellation verlassen können: Elf erwachsene Leute stolzieren in farbigen Ganzkörperanzügen und weißen Tutus über die Bühne und sagen fortwährend das Wort "Murmel". Allein dies, höchst ernsthaft und pedantisch durchgeführt! Die wenig fokussierte Dauerbespaßungs-Breitseite aber schießt des öfteren ins Leere.

Jenseits von handwerklichen Einwänden kann man aber auch fragen, wo Fritschiade um Fritschiade eigentlich hinführen. Denn mit all dem will uns Herbert Fritsch ja nichts erzählen. Er hat nichts zu sagen. Fritsch ist der Mittel-Regisseur schlechthin, ein Theater-Macher, geboren und aufgewachsen im Betrieb, und so kreisen auch seine Erzeugnisse nur um den Prozess des Erzeugens selbst. Unter seinen Schauspielern schwingt immer die soziale Nestwärme mit, alle dürfen auf der Bühne gleichberechtigt einfach mal nur Rampensau sein. Ganz "entfesselt" bräuchten die Schauspieler bei Fritsch nur "spielen": Eigentherapie durch Gruppentherapie.

Daraus wird, nüchtern besehen, doch nur mäßig unterhaltsames Betriebs-Theater. Die Hipster-Antwort auf die unsägliche Forderung, "im Theater auch einfach mal nur Spaß haben zu dürfen": Nur dank Fritsch muss man sich endlich nicht mehr dafür schämen. Drinnen gluckst die Fritsch-Glucke. Draußen, weit weg, tobt die Welt.

 

Murmel Murmel
Deutsche Erstaufführung
von Dieter Roth
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme Victoria Behr, Musik: Ingo Günther, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Florian Anderer, Matthias Buss, Werner Eng, Jonas Hien, Simon Jensen, Wolfram Koch, Annika Meier, Anne Ratte-Polle, Bastian Reiber, Stefan Staudinger, Axel Wandtke und Ingo Günter (am Marimbaphon).

www.volksbuehne.de

 

Alles über Herbert Fritsch auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Andrea Gerk schreibt auf der Webseite von Deutschlandradio (28.3.2012): Die elf "hervorragend aufgelegten Schauspieler" verkörperten "ganz unterschiedliche, sehr prägnante Typen", die ein wenig an "die alten Marthaler-Figuren" erinnerten, "leicht verrückte Durchschnittsmenschen, voller Ticks und Tricks". Was sie aus dem Wort Murmel herausholten, reiche vom "monotonen Aufsagen" bis zum "chorischen Gesang". Es werde in allen Facetten gesungen: Mal wirke der Abend wie "eine minimalistische Oper", mal wie "große Show aus Las Vegas".

Eberhard Spreng schreibt auf der Webseite des Deutschlandfunks (29.3.2012): Der Regisseur sei "endlich in der Freiheit angekommen", das Publikum erlebt "quasi pures Fritsch-Theater". Zu erleben seien "mit präzisen Gesten skizzierte Karikaturen", die sich zu einer "kleinen Gesellschaft" zusammenfänden und zu "einander ablösenden Gruppenbildern". Das Zauberwort Murmel Murmel werde zur "Geheimlosung", mit der sich die Akteure untereinander und mit dem Zuschauer verständigen könnten. Irgendwann aber sei die Murmel-Murmel-Gesellschaft an die Grenzen gestoßen und habe sich "einfarbige Stretchkostüme" übergezogen und die Gesichter hinter Masken verborgen, bis sie auch diese abnähmen, den Zuschauern zu bedeuten, auch hinter den Masken seien nur Menschen, und abträten. Auch wenn er, wie hier, eine Todesmetapher inszeniere, bleibe Fritsch mit seinem Theater auf dem gesicherten Terrain von Spaß und Ironie.

"Triumph in der Volksbühne" titelt Ulrich Seidler in der Frankfurter Rundschau/Berliner Zeitung (30.3.2012). Dass das Ein-Wort-Stück über anderthalb Stunden kein bisschen langweilig werde, "sondern im Gegenteil den Lebensmut auffrischt, den Kopf erhellt, das Herz rührt, glücklich und wohlgelaunt macht, ist ein waschechtes Theaterwunder", eine "Wohltat der Leere, an der allerdings sehr hart und sehr genau gearbeitet wurde". Murmel werde gesungen, geflötet, gebrüllt, ausgespuckt, runtergeschluckt, skandiert, rezitiert, buchstabiert, getanzt, angesagt, zwischengerufen von einem Murmel-Mann mit Tourette-Syndrom. Seidlers einzige Sorge ist, wie man "den Nichtdabeigewesenen verständlich machen soll, dass sie etwas Entscheidendes verpassen, wenn sie sich diesen Abend, an dem wirklich nichts anderes als 'Murmel' gesagt wird, entgehen lassen".

In der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel schreibt Christine Wahl (30.3.2012): Man könne Herbert Fritsch gewiss keine mangelnde Konsequenz vorwerfen. Schon die "grandiose Inszenierung" der "(S)panischen Fliege" habe sich von "so lästigen künstlerischen Bremsklötzen wie Sinn, Bedeutung oder gar Tiefgang erfolgreich emanzipiert". Dieter Roths "Murmel" nun, entbinde Fritsch und seine Akteure endgültig von "jedweder Sinnverpflichtung". Nach dem ersten Drittel müsse "man selbstkritisch konstatieren", bis dahin "eine sehr eingeschränkte Vorstellung vom semantischen Murmel-Potenzial" gehabt zu haben. Im Grunde müsse man sich das Ganze vorstellen, "als träfen Charlie Chaplin und Marcel Marceau auf einen psychedelisch entschleunigten Tarantino-Style". Allerdings werde "der Overkill" lustiger, aber "absolut bösartigkeitsfreier pantomimischer Pointen" irgendwann auch zum "Ermüdungsbeschleuniger". Bleibe die Frage, was wohl jetzt als nächstes kommen möge.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.3.2012) schreibt Irene Bazinger: Die Aufführung habe "nichts zu sagen", das aber "mit großartiger Virtuosität." Sie wolle nichts mitteilen, das gelinge ihr "phantasievoll, irrwitzig und hinreißend schwungvoll". Blendend schöpften die "fabelhaft harmonierenden Darsteller" aus dem einzigen Wort "Murmel" einen "überwältigend polymorphen Kontinent an Farben, Atmosphären, Klängen, an Ausdeutungen, Andeutungen, Bedeutungen". Ein "dynamischer Bilderbogen der Leere", nur "aus Posen und Gesten, Energien und Verläufen, dramatischen Konstellationen und hochdramatischen Entäußerungen". Diese Form sei "wirklich sensationell-verrückt".

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