altEs ist Deutschland hier

von Christian Baron

Jena, 29. März 2012. Viele Theater in Deutschland scheuen die direkte Verbindung der Hochkultur mit der Soziokultur. Zu Unrecht, denn was dabei im besten Sinne Produktives herauskommen kann, zeigt nun das Theaterhaus Jena in dem von Claudia Grehn federführend entwickelten Rechercheprojekt "My heart will go on", das in Kooperation mit der Flüchtlingshilfeorganisation "The Voice" amüsant und fesselnd zugleich die Schicksale einzelner in Thüringen (noch) geduldeter Flüchtlinge zu einer stimmigen Story zusammenführt.

Das Auffanglager ist der Rahmen

Dabei offenbaren sich binnen neunzig Minuten all die nicht einmal mehr nur latent rassistisch-entwürdigenden Praktiken der Asylpolitik, wie sie hierzulande seit vielen Jahren betrieben werden. Abgeschottet von der Öffentlichkeit sind Flüchtlinge in umzäunte Dorfbaracken gesperrt, wo sie zu mehreren auf fünfzehn Quadratmetern hausen, keinerlei Freiheitsrechte genießen (kein Recht auf Erwerbsarbeit oder Bildung, keine Reisefreiheit, keine Konsumfreiheit) und jederzeit mit der Abschiebung rechnen müssen. heart 18 560 joachim dette uEigenheimträume in "My heart will go on" © Joachim Dette

Eingerahmt in die episodenhafte Geschichte einer heterogenen Flüchtlings-Gruppe innerhalb eines Auffanglagers und ihrer alltäglichen Leiden in einem Land, in dem sie nicht willkommen sind, erzählt etwa Esther Jacobs Enahoro, die aus Furcht vor der Beschneidung ihrer Tochter aus Nigeria geflohen ist, wie wenig sich die Behörden für ihren Lebensweg interessieren und stattdessen auch hier eine Reihe Repressalien erfährt. Von seiner permanenten Angst vor der Abschiebung spricht dagegen der Palästinenser Hamza Barkat. Es sind solche Schicksale, die mangels Lobby überwiegend unbeleuchtet bleiben. Dank des Jenaer Ensembles aus Laien und Profis ändert sich dies an diesem Abend zumindest temporär – und das erfreulicherweise, ohne den bei einem solchen Projekt durchaus zahlreich lauernden Tücken anheim zu fallen.

Spielerische Harmonie

Mit einer wohldosierten Melange aus Klamauk und Ernsthaftigkeit entgeht die Gruppe zunächst der Gefahr, moralinsaure Betroffenheitslyrik zu dramatisieren. Dem Hausmeister des Auffanglagers, einem in breitem Thüringer Dialekt parlierenden Schwarzen, entfahren beispielsweise auf die Bitten der Insassen immer wieder in ihrer sozialen Kälte pointierte Entgegnungen ("Wäsche waschen? Wir sind doch kein Hotel hier!", "Wozu braucht ihr denn eine Tür für die Dusche?"), die sogar bis zu Westerwelle-Zitaten gereichen ("Red mal deutsch! Es ist Deutschland hier!"). heart 16 280 joachim dette u © Joachim Dette

Die Rollen der Staatsmacht füllen vor allem Sebastian Thiers und Yves Wüthrich aus. Insbesondere Letzterer spielt hier groß auf, indem er versiert zwischen Typen wie einem gestriegelten, phrasendreschenden sowie brav in jede Kamera lächelnden Innenminister und einem aggressiven Triebtäter changiert. Überhaupt ist diese bunte Truppe von großer spielerischer Harmonie geprägt. Womit ein weiterer solcherlei Projekten innewohnender Stolperstein gekonnt gemeistert wird, denn es dürfte gewiss nicht leicht sein, aus der zusammengewürfelten Gruppe eine Einheit zu formen.

Selbsterhalt des Systems

Eindeutig zu viel des Guten sind dagegen die immer wieder wie kleine Nadelstiche gesetzten Nazi-Vergleiche wie etwa die Kostümierung Yves Wüthrichs mit einem militärgrünen, an eine Wehrmachtsuniform erinnernden Mantel. Wenn das Stück durch seine eigene Erzählung die zentrale Botschaft vermittelt und sich dadurch selbst trägt – und das tut es zweifellos – dann sind solche Aktionen nichts als peinliche Provokationsversuche, welche die gesellschaftspolitisch so bedeutsame Dimension des Werkes unnötig angreifbar machen.

Warum wurden die sicher auch vorhandenen inneren Konflikte der Ordnungshüter überhaupt nicht thematisiert und stattdessen Polizisten, Lagerärzte und Wärter unisono als vom puren Bösen besessene Ausgeburten des Diabolischen präsentiert? Steht nicht gerade durch solch flach gezeichnete Charaktere die Wirksamkeit der nach dem donnernden Schlussapplaus durch Regisseur Moritz Schönecker so emphatisch vorgetragene Anklage gegen den im Kapitalismus systemimmanenten Rassismus ("Wenn dieses System so sein muss, um sich zu erhalten, dann ist es einfach nur scheiße!") in Frage?

Über die Showtreppe abgeschoben

Ausgesprochen ironisch ist hingegen das Bühnenbild gehalten. Da werden abzuschiebende Flüchtlinge über eine funkelnde Showtreppe hinausgeleitet, versiffte Matratzen als Mittel physischer Konfliktlösung zweckentfremdet oder ein Kasten mithilfe weniger Handgriffe vom idyllischen Heim in ein düsteres Gefängnis verwandelt. Statt plattem Kitsch wird hier mit subtilem Witz gearbeitet, was dem Gesamtbild der Inszenierung den Anschein der Sentimentalität nimmt und ihm jene Realitätsnähe verleiht, die die Tatsachenberichte der Betroffenen ebenso vermitteln wie die epischen Interludien, in denen Hassan Siami nüchtern die rechtlich miserable Situation der Flüchtlinge referiert.

Dem Anspruch, reale Verhältnisse auf der Theaterbühne darzustellen, ohne sich den hier beständig vorhandenen Fallen der undifferenzierten Übertreibung verdächtig zu machen, wird das Team um Grehn und Schönecker mit diesem Projekt also allemal gerecht. Sicher, hier und da blitzen Unklarheiten und Pauschalisierungen auf, aber absolute Perfektion kann und darf diese Art der Kunst ohnehin nicht anstreben. Eben ganz wie im richtigen Leben.

My heart will go on
Rechercheprojekt in Zusammenarbeit mit Flüchtlingen und The Voice
von Claudia Grehn
Regie: Moritz Schönecker, Bühne/Kostüme: Veronika Bleffert, Benjamin Schönecker, Dramaturgie: Simon Meienreis, Jonas Zipf, Musik: Filip Hiemann, Mehrdad Ahmadiyan.
Mit: Bella Asonganyi, Hamza Barakat, Miloud L. Cherif, Sarah L. Cherif, Leyla Darzi Kholardi, Esther Jacobs Enahoro, Ella Gaiser, Ghassem Hayati, Tina Keserovic, Thomas Ndindah, Maiwan Nori, Hassan Siami, Sebastian Thiers, Yves Wüthrich.

www.theaterhaus-jena.de

 

Mehr lesen: mit Goethes Faust hat Moritz Schönecker den Saisonauftakt unter der neuen künstlerischen Leitung am Theaterhaus Jena bestritten. Von Claudia Grehn besprachen wir ihre Stückentwicklung (in Zusammenarbeit mit Darja Stocker) Reicht es nicht zu sagen ich will leben im Juni 2011 in Weimar und Ernte, das im Dezember 2010 am Maxim Gorki Theater Berlin uraufgeführt wurde.

 

Kritikenrundschau

"Das Vorhaben, politische Realität auf die Theaterbühne zu bringen, ist Grehn und dem Team um Schönecker gelungen", resümiert Stefanie Bühlchen in der Thüringischen Landeszeitung (30.3.2012). Die Erlebnisse der Flüchtlinge in die Welt des Hollywood-Glamours zu holen, sei ein geschickter Schachzug des Regisseurs gewesen: "Einerseits entgeht er so der Gefahr eines reinen Betroffenheitsstückes. Die Flüchtlingswelt in die der Spielshow zu transformieren, erhöht zum anderen die Absurdität der erlebten Realität."

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