Wer ist William Brink?

von Dirk Pilz

Berlin, 17. November 2007. Sie nennen mich William Brink. "Schön, dass Sie hier sind, William." Hier, das ist das "Dorine Chaikin Institute". Der erste Eindruck: eine schäbig wirkende Krankenstation, die geschlossene Abteilung einer Irrenanstalt. Ein Dutzend Betten, Tische, Schränke, allerlei Gerätschaften. Eine Krankenschwester kommt, es gibt Kaffee und Kekse. "Sie müssen keine Angst haben."

Ich erhalte ein Papier, das die "Pflichten" verzeichnet. "Es ist Ihre Pflicht, mit den Ärzten, Krankenschwestern und anderen Mitarbeitern zu kooperieren und den Anweisungen zu folgen, die Ihnen gegeben werden." Kein Alkohol, keine Drogen, keine Medikamente. Bei Zuwiderhandlung werden die "Sicherheitskräfte" benachrichtigt.

Ein schwerer Fall von Amnesie 

Die Sicherheitskraft ist ein streng gescheitelter Bursche, der die Schallplatte "The World of Montovani" auflegt. Der Rest: weiße, irrlichternde Gestalten. Schwestern, Ärzte, Patienten. Manche starren mich an, andere lächeln entrückt. Lu-Ann Rosenberg stellt sich mir vor, meine persönliche Krankenschwester. Lu-Ann sagt, sie sei immer für mich da, egal was passiert. "Merken Sie sich meinen Namen!" Ich muss ihn wiederholen: Lu-Ann Rosenberg. "Alles gut?" Alles gut bislang.

Die erste Visite findet bei Chefärztin Dorine Chaikin statt. Sie raucht und forscht in meinen Augen: "Sie machen keine Fortschritte, William." Amnesie sei eine schwierige Krankheit, zudem noch die Sache mit der Persönlichkeitsspaltung. Wie ich geschlafen habe, will sie wissen. "Und wo sind Ihre Zigaretten?" Sie verstaut sie in der Schublade. "Wir kümmern uns um Sie."

Lu-Ann nimmt mich am Arm, zeigt mir mein Bett und gibt mir die Krankenkleidung. Löchrige, schlabberige Sachen. "Warum waren Sie gestern in Frauenunterwäsche in Ihrem Geschäft?" Ich protestiere vorsichtig: ich habe kein Geschäft, ich gehe nicht in Frauensachen umher. Lu-Ann lächelt. "Ich bin immer da."

In der Gemeinschaft mit Verrückten 

Die Ärztin setzt sich besorgt zu mir ans Bett. Mit meiner Mutter habe sie gesprochen. "William, können Sie sich an Ihr Geschäft erinnern?" – "Ja, ich weiß, ich war in Frauensachen da." Sie blättert in den Akten. "Und warum sagen Sie, Sie seien Michel?" – "Ich bin nicht Michel." - "Nein?" – "Ich bin William Brink." Die Behandlung schlägt an. Ich bin William, einer mit Gedächtnisverlust. Und wer ist Michel?

Coco, eine andere Patientin, liegt drei Betten weiter; manchmal lugt sie herüber. Alle schauen hier immerfort. Blicken mich an, schreiben etwas auf, lächeln. Am Tisch sitzen zwei und spitzen Bleistifte. Ein Fernseher läuft, in der Ecke werden Kartoffeln geschält. Manche sprechen englisch, andere deutsch. Ich muss an Thomas Bernhards "Wittgensteins Neffe" denken, an die "Gemeinschaft der Verrückten" und an die Verrücktheit als "Existenzquelle".

Eine Frau springt zu mir aufs Bett und flüstert: "Pass auf, die Ärzte sind wie Steine. Sie entwickeln sich nicht." Ich soll ihr einen Namen und eine dazugehörige Farbe geben; ich nenne sie die hellgrüne Paula. "Du sagst schöne Sachen." Wir sind jetzt Komplizen. In welchem Spiel? Ich sehe an die Decke und erschrecke. So schnell geht es und ich gehöre einfach dazu? Zu den Kranken, Verrückten und Verführten?

Ich und meine Gefühle 

"Objekt-Assoziation!" ruft die Ärztin. Wir Patienten müssen uns um einen Tisch hocken, und Frau Doktor beobachtet, welche Gegenstände wir nehmen. Ein Spielzeugauto, einen Plüschaffen. Sie lobt und fragt nach. Wir dürfen rauchen und Kaffee bestellen. Nett hier, fast kuschelig. Lu-Ann bringt mich zur Toilette, schimpft, weil ich heimlich mein privates T-Shirt anbehalten habe. "Das muss doch nicht sein, oder?" Auf der Toilette überlege ich kurz, einfach zu gehen. Niemand würde mich hindern.

Es folgt: Gymnastik. Coco ist dabei, Paula, Lu-Ann. Arme dehnen, im Kreis laufen. Es wird der einzige Moment bleiben, der irgendwie peinlich ist. Jetzt weiß ich wieder, dass ich eine Veranstaltung des Nordwind-Festivals in Berlin besuche und mich in einer Irrenhaus-Installation der dänischen Performance-Gruppe Signa befinde, die kürzlich mit "Die Erscheinungen der Martha Rubin" in Köln die Besucher elektrisierte (hier zu lesen), weiß, dass das "Dorine Chaikin Institute" eine raffinierte und bis ins Detail ausgetüftelte Theaterveranstaltung ist, die mich zur Figur, zum Schauspieler macht. Ich und meine Gefühle, die anderen und ich. Darum geht es. Komisch, dass hier sonst nie das unangenehme Gefühl des Mitmachtheaters auftaucht, nichts übergriffig wirkt, obwohl mich dauernd jemand anfasst, ich immer beobachtet, umsorgt, ausgeforscht werde.

War es schön? 

"Erinnern Sie sich an Ihre erste Liebe?" Lu-Ann sitzt auf meiner Bettkante. "Die Augenfarbe? Das Gefühl?" Ich antworte, ohne zu wissen, ob ich lüge oder einfach mitspiele. "War es schön?" War es, natürlich. "Sie machen Fortschritte!" William Brink hört es gern. Fortschritte! Zwei Stunden auf Station, und schon ein Heilungseffekt.

Am Ende massiert Lu-Ann mir den Nacken, Coco bekommt Gruppentherapie. Die Ärztin kündigt die kommende Behandlungsstufe an: Babysprache-Gefühls-Übungen, beim nächsten Stationsaufenthalt dann. Während ich mich umziehe, fällt mir auf, dass sich auf meiner Krankenhauskleidung ein Aufdruck desjenigen Hospitals befindet, in dem Lars von Triers Fernsehserie "Geister" spielt. Ich verabschiede mich von der hellgrünen Paula und der Chefärztin, trete auf die Pappelallee vorm Ballhaus Ost und schaue auf die Passanten.

Wer ist William Brink? Ich weiß nur, dass er mich in Zukunft begleiten wird.

 

The Dorine Chaikin Institute
von Signa
Concept: Signa Sørensen, Set Design: Thomas Bo Nilsson, Signa Sørensen, Nana Francisca Schottländer, Media: Arthur Köstler.

www.signa.dk
www.nordwind-festival.de  

 

Kritikenrundschau 

In der taz (20.11.2007) schreibt Simone Kaempf: "Wenn man so ernsthaft mit dem Namen Zula Maria angesprochen wird, nimmt man ihn tatsächlich bald an. Wer einmal in Installationen des dänischen Künstlerduos Signa (Signa Sørensen und Arthur Köstler) steckt, der will nicht mehr raus, gerade weil Realität und Fiktion irritierend durcheinander geraten. In der ersten Behandlung sitzen die zu Patienten erklärten Besucher um einen Tisch und müssen Gegenstände zu Gruppen sortieren. Die beiden Ärzte beobachten, loben und machen sich Notizen. "Wir assoziieren die Objekte genau wie letztes Mal", ich nicke und erfinde schon Geschichten, warum die Spielzeugpuppe zum Mitpatienten passt. Wahrheit und Einbildung verschieben sich bereits, die Behandlung schlägt an. Bei der gemeinsamen Gymnastik schaue ich schon mitleidig auf die Neueinlieferung, die auf dem Krankenbett sitzt und nicht mitmachen will."

Sandra Luzina (Der Tagesspiegel, 21.11.2007) hat eine "gigantische Simulation" erlebt: "Die Grenzen zwischen Realität und Inszenierung sollen immer mehr verschwimmen; der Zuschauer soll sich in der Fiktion verstricken, die er zugleich mitgestaltet. Was nur bedingt funktioniert." Denn "eine beklemmende soziale Erfahrung war dies nicht – aber ich hatte ja auch Glück, die Gruppentherapie blieb mir erspart", schreibt die Kritikerin erleichtert. Überhaupt hat ihr die gesamte Sache nicht behagt: "Nach all den Tests bin ich ein wenig mitgenommen. Die Diagnose erfolgt dann überraschend schnell und erscheint mir doch auf skandalöse Weise leichtfertig. Überhaupt: Die Pfleger-Performer agieren zwar ziemlich undurchsichtig, doch gibt es Momente des Zögerns, die die perfekte Krankenhaus-Illusion zerstören." Der Text endet dann aber doch mit einer Warnung: "Bitte beachten: In diese Anstalt begibt man sich freiwillig – und hier wird keiner als geheilt entlassen."

Kommentare  
Signa, The Dorine Chaikin Institute: Schöne Kritik
Schöne Kritik. Endlich mal jemand, der sich mitnehmen lässt statt dieser üblich gewordenen Rezension als Sicherheitsprotokoll vom Aufsichtspersonal. Ein Erfahrungsbericht, der Lust macht zu sehen.
The Dorine Chaikin Institute: hingehen!
War gerade da, acht Stunden. Die fürsorglichsten Krankenschwestern Berlins, totale Regression, toll. Und bislang haben die nicht mal so viele Patienten, wie sie gern hätten (und verdient haben) - hingehen!
In dankbarer Erinnerung an Lou-Ann:
Mario Perov
Signa: unbedingt hingehen!
An alle Berliner: UNBEDINGT zu Signa ins „Dorine Chaikin Institut“ gehen! So eine Erfahrung darf man sich auf keinen Fall entgehen lassen. DAS neue Theater! Radikaler kann man die Trennung von Bühne und Zuschauerraum, von Fiktion und Realität nicht aufheben. Das Mitspielen ein Leichtes. Die Verführung ein Schock. Dieses Theater macht etwas mit dir. Hingehen hingehen hingehen!
Signa: Futter fürs Hirn
Im Dorine Chaikin Institut ist zu erleben, dass eine real simulierte Realität allemal interessanter als eine virtuelle Realität im Netz ist. Das Personal des Instituts fiel nicht einen Moment aus der Rolle, obwohl es sich zu einem Teil meiner vierstündigen Behandlungszeit exklusiv nur um mich kümmern musste/durfte. Leider konnte mein Gedächtnisverlust nicht rückgängig gemacht werden - doch die Erlebnisse dieser vier Stunden haben dem Hirn soviel neues Futter zugeführt, dass ich meine frühere Biographie gern in der Vergessenheit halte.
Übrigens habe ich die viel gerühmte Lou-Ann nicht kennengelernt, aber Schwester Rubio mit dem Clownsgesicht war bestimmt ein würdiger Ersatz.
Wer keine Berührungsängste (im Wortsinne) hat, der sollte reservieren. Schon am 1. Dezember ist der Spaß vorbei.
Dorine Chaikin Institute: leicht pornografisch
ich kann die begeisterung der anderen nicht teilen.
die installation war ein leicht pornografisches psychospielchen.
krankenschwestern in rosaroten strupmfhosen, die einen mit schlecht riechender creme einmassiert haben, aber hinter dem rücken gelästert haben. die üblichen schauspieler, die sich darin gefallen, irre oder apathisch zu spielen. und alles in allem grenzüberschreitend im negativen sinne.
dazu kommt, dass die krankenhaus-situation nicht besonders originell und schon gar nicht innovativ ist.
die chefin des ganzen ... frau dorine chaikin übrigens äußerst unsympatisch.
naja: aber die austattung war cool. das wenigstens
Signa-Projekt: Grenze zur Realität verschwimmt wirklich
Es war unglaublich großartig. Erst dachte ich, es ist alles nur ein großer Spaß, aber nach einigen Stunden im Institut ist irgendwann nicht mehr so klar, wo sich die Grenze zwischen Realität und Fiktion befindet. Die beeindruckendste Theaterarbeit, die ich in den letzten Jahren gesehen habe.
zum Signa-Projekt: Fiktion wird nur gemeinsam real
geheilt? nein, dass wurde ich nicht. Aber auch nicht mir selbst überlassen. Ich wurde zu einem Stammgast, dessen Ärztin höchste Ansprüche an sich selbst stellte, ihn zu heilen. Wir hatten uns schon einmal - Amnesie: Ich kann mich nicht erinnern - geküsst, im Park der Klinik. Mit der selben Ärztin habe ich herausgefunden, das meine Schmerzgrenze nicht meine Aussenhaut ist, sondern überall dort, wo die Fäden einer Beziehungen meinen Körper durchziehen- Aggression konnte bei mir ausgelöst werden, als die Ärzte sich für verantwortungslos an gemeinsamen Handeln erklärten; in der kleinen Abstellkammer auf der rechten Seite des Flurs - für Isolationsarrest, Individualtherapie - bekam ich eine ganz besondere Aggressionsbehandlung.
Am Stuhl festgeschnallt, wurde ich mit Zungenwurst, Kochschinken und Trauben beworfen. Mir wurden mit einer Fliegenpatsche Schläge zugesetzt, das löste bei mir Lachen und hysterisches Lachen - das therapeutische Ziel verfehlt; als die Ärzte wollten, dass ich den Raum aufräume, wurde Wut zu Aggression.
Dazu Dr. Laval: Das Ergebnis rechtferigt die Behandlung.
und ich zitiere, weil nicht der Ärzte Befunde interessierten, sondern was aus mir herausgeholt wurde, bzw. was ich mir erlaubt habe zu finden.
Ich Danke allen, die daran teilgenommen haben.
Fiktion wird nur gemeinsam real.

Ich habe mitgemacht, weil ich zu jeder Zeit frei war, an dem Th
zum Signa-Projekt: unbedingt aufs Theatertreffen!
Ein derart großartiges und beeindruckendes Projekt gehört unbedingt zum Theatertreffen eingeladen!
Signa-Projekt: großartig
ich finde es grossartig welch kontroverse reaktionen das projekt hervorruft, zumindest scheint es viele zu beschäftigen.
Signa: Sensibilität und Einfallsreichtum fehlen
hier wurde nicht kontovers diskutiert. ich kann an keinr stelle lesen, was für neue erkenntnisse dieses theterstück gebracht hat.
ich selbst habe miterlebt, wie intimgrenzen überschritten wurden, es wurde an keiner stelle gefragt wozu?
es sind clichés bedient worden, sie wurden an keiner stelle hinterfragt.
dass ich in gewisse machtstrukturen einbezogen werde, heißt doch noch nicht dass ich etwas neues über sie erfahre.
an diesem stück haben mir zwei sehr wichtige dinge für theater eindeutig gefehlt:
sensibilität
und einfallsreichtum
Signa: Besuch wirkt weiter
nun gut dann gibt es eben kontroverse ansichten darüber und es scheint zumindest dass dein Besuch dort weiterwirkt wie oft kann dies theater heute schon von sich behaupten.
Signa: "Peschel" verirrt sich
Ich habe auch nichts gegen kontroverse Diskussionen, im Gegenteil: Im Augenblick hab ich das Gefühl, ich könnte es mit dem ganzen Imperium aufnehmen.
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