Alles im Fluss

von Willibald Spatz

München, 17. November 2007. Wenn ein Festival in einer Stadt ist, dann versucht es dort Platz einzunehmen – möglichst so viel, dass keiner dran vorbeikommt, egal, wohin er gerade geht. München ist eine relativ große Stadt. Hier läuft seit Donnerstag das alle zwei Jahre stattfindende "Spielart"-Festival, das für sich in Anspruch nimmt, praktisch die einzige Gelegenheit zu sein, bei der man in München mal viel Theater von anderswo zu sehen bekommt. Und das stimmt auch, denn zu keiner anderen Zeit sind derart viele internationale Gastspiele in der bayrischen Hauptstadt zu sehen.

Und weil der Festivalschwerpunkt auf dem Theater aus der Ferne liegt, ist man immer auch bemüht, im Programm von "Spielart" die einheimische Szene ein bisschen mit auszustellen – nach dem Motto: Auch hier hat man etwas zu zeigen, uns könnte man auch mal einladen.

Clowns als neue Performer

Vor dem Haus der Kunst treiben Clowns ihre Späße. Diese Clowns sind in ihren echten Leben Studenten der Theaterwissenschaft, die sich zu der Performance-Gruppe OKA zusammengeschlossen und als solche schon eine Allan Kaprow-Ausstellung im Haus der Kunst mit Re-Enactments von Happenings begleitet haben. Jetzt sind sie also Clowns und ein Beitrag aus München.

Sie schmeißen mit Torten aufeinander, verkleiden sich als goldene Stühle und lenken die Aufmerksamkeit aufs Haus der Kunst. Stehenzubleiben und ihnen länger zuzusehen, verhindert das ungemütliche kalte Novemberwetter. Drinnen gibt es "Deconstruction 07", eine Installation des Belgiers Jan Lauwers und seiner "Needcompany". Sie ist ein bisschen versteckt an unprominenter Stelle: im Terrassensaal, den man nur findet, wenn man unauffälligen Wegweisern folgt.

Minimalistisch, sphärisch, psychodelisch

Hier drängt sich dem Besucher kein Festival auf. Auch wenn man den Saal betritt, überrollt einen kein großes Spektakel: In der Mitte steht ein etwa zehn Meter langer Holzaufbau mit Fernsehern, die nach außen schauen. In der Mitte des Aufbaus wiederum befindet sich eine Band. Jan Lauwers selbst ist auch dabei: an der Gitarre. Die Musik erinnert ein bisschen an die der Band "Can": minimalistisch, sphärisch, ein wenig psychedelisch. Der Laptop ist im Einsatz, Klänge werden verfremdet und mit Effekten belegt. Irgendwo spricht jemand einen Text darüber, den man in Bruchstücken verstehen kann.

Von "Love" ist die Rede und "Don't go away". Dann plötzlich wird im Soundteppich ein richtiger Song erkennbar, und zwar ein bizarrer, schöner. Der Mann am Klavier singt ihn, zum Refrain steigen von überallher Stimmen mit ein. Männer und Frauen liegen und stehen auf dem Holzgestell. Nach wenigen Momenten Gänsehaut beim Zuhörer verschwindet das Lied, die Band kehrt zu ihrem improvisationshaften Soundteppich zurück, und man beginnt, selbst im Raum umherzugehen.

Liebende hinter Plexiglas

In einem der Fernseher laufen Ausschnitte aus "Affection", einem Stück, mit dem Jan Lauwers 2003 bei "Spielart" zu Gast war. Es ist eine Tänzerin darin zu sehen, dieselbe Frau ist nun wieder da: auf einem Podest wiederholt sie live zur Musik den Tanz in einem exotischen Kostüm. Eine andere hat einen eigenartigen Helm mit Hasenohren auf, ist ebenfalls im Video und nun live zu sehen. An einem Ende der Installation sieht man einen Mann und eine Frau, die sich liebend befummeln, allerdings sind sie durch eine Plexiglasscheibe getrennt.

Neben ihnen läuft ein eigenartiges Video, in dem ein Mann seine Haut aus wenigen Millimeter Entfernung filmt. Geht man zum anderen Ende der Installation, steht dort eine Kammer, in der man dem Mann leibhaftig dabei zusehen kann, wie er sich am ganzen Körper abfilmt. Daneben taucht unter einem Plexiglaskasten der Kopf des Bassisten aus der Band auf. Seine Augen zucken, er leckt gierig an den Scheiben.

Frau im fellgefütterten Kasten

Tatsächlich spielt die Band gerade ohne Bass. Man geht zurück zum Ende, wo das Video mit der Haut-Nahaufnahme läuft. Die Frau hinter der Glasscheibe liegt nun in einem fellgefütterten Kasten und trägt ebenfalls einen Hasenhelm. Egal, wie man sich um die Installation herum bewegt, man entdeckt ununterbrochen etwas Neues und man verpasst dabei gleichzeitig auch ständig etwas.

Alles ist im Fluss, sechs Stunden lang. Selbst wenn man nach einer Pause drei Stunden später zurückkehrt, sind alle noch am Werk. Man spürt die Erschöpfung, aber die wunderschönen Augenblicke kehren regelmäßig wieder. Man erlebt die totale Enthierarchisierung des Theaters. Jeder sieht, was und wie lang er will, sein eigenes, höchstpersönliches Stück "Deconstruction 07". Es ist faszinierend in jedem Fall.

 

Deconstruction 07
von Jan Lauwers und Needcompany
Konzept und Design: Jan Lauwers.
Mit: Grace Allen Barey, Anne Bonnema,
Hans Petter Dahl, Viviane de Muynck, Misha Downey, Julien Faure, Elke Janssens, Jan Lauwers, Tijen Lawton, Maarten Seghers, Taka Shamato.

bei Spielart - Das Theaterfestival in München
www.youtube.com/watch?v=nJdYN7qodP8
www.spielart.org

 

Kritikenrundschau

Im Lokalteil der Süddeutschen Zeitung (19.11.2007) befindet Egbert Tholl, dass das diesjährige "Spielart"-Festival "ohne theatrale Überfälle ..., ohne Belästigungen, ohne Hirnaufreibungen" beginne: "Es beginnt in Schönheit." Zum Beispiel Jan Lauwers' "Deconstruction 07", "diesem Lager einer erotischen Traumexpedition", in dem man "sich zu Sehnsüchten, Liebesmomenten und wundervoller Zärtlichkeit verführen" lasse: "Der Betrachter verschwindet in Lauwers' großem Herz wie in einer verästelten Geschichte."

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