altDas schöne Phantom Gemeinschaft

von Dieter Stoll

Nürnberg, 13. April 2012. Von einer Nürnberger Tradition im Umgang mit Peter Handke wird nun wirklich niemand sprechen wollen. Aber typisch für die furchtsame Haltung der "Provinz" gegenüber dem spröden Poeten ist die Mini-History der lokalen Spielplan-Politik allemal. 1994 wurde auch hier die dialog- und provokationsfreie "Stunde, da wir nichts voneinander wussten" nachgespielt, nicht ohne dass der damalige Spartenchef versicherte, wie gerne er die anspruchsvolleren Stücke ansetzen würde – wenn er das seinen Abonnenten nur zumuten könnte.

Kunst-Messen Abgesang

Das Denkloch klafft nach beiden Seiten, denn seither gab es nichts mehr und zuvor stehen in den Jahrgängen 1968 und 1971 einsam "Kaspar" und "Der Ritt über den Bodensee". In Aufführungen von Günther Büch, dem damaligen Oberhausener Peymann-Konkurrenten in der Entdeckung des Autors, die selbst nach Abzug von Nostalgie-Bonus zu den haltbarsten künstlerischen Ereignissen des Hauses gehörten.

Der Erfolg versickerte, und dass der jetzige Schauspieldirektor Klaus Kusenberg das 2011 nach der Salzburger Uraufführung verhalten aufgenommene Stück Immer noch Sturm so spontan ansetzte, hat mit Regisseur Stefan Otteni, aber sicher auch mit Handkes hier ebenso rarer österreichischer Kollegin Elfriede Jelinek zu tun.

Otteni bescherte dem Staatstheater Nürnberg 2009 einen unerwarteten Erfolg mit "Die Kontrakte des Kaufmanns" und verbandelte seine Handke-Option mit dem Versprechen, dass er keine "hermetische Kunst-Messe" im Text sehe. Das war offensichtlich beruhigend, die Produktion wurde nicht in den Kammerspielen, sondern im großen Haus angesetzt. Soweit die Vorgeschichte. Sie endete jetzt mit stürmischem Beifall für die beste Aufführung der laufenden Nürnberger Saison.

Gelebtes Selbstbewusstsein der Urahnen

Der heutige "Ich"-Erzähler, den manche Exegeten bei der Uraufführung zur Spiegelung des Autors erklärten, kommt in der Nürnberger Fassung direkt aus dem Publikum. Über der leeren Szene zuckt noch unkontrolliertes Licht, wenn er schmunzelnd auf die Bühne klettert, um per Ortsbeschreibung sein Erinnerungs-Spiel einzufädeln. Oder wo, oder wann, oder was – relativiert er die eigenen Angaben wieder, als ob es vielleicht doch sofort ums Gleichnis für die große, ganze Weltgeschichte und nicht konkret um slowenische Familienbande in Kärnten zwischen 1936 und 1945 ginge.

Diese Irritation regelt die Sippe auf pragmatische Art, die Ahnen marschieren aus der Dunkelheit herein, noch ehe ihr Spielleiter genau weiß, was er von ihnen erwartet. Sie setzen gelebtes Selbstbewusstsein gegen den Schöpfer ihrer Charaktere, der damit trotz seiner freundlichen Erfindung von Widerstandskämpfern in der Ahnen-Galerie nicht mehr der Allmächtige des Geschehens ist. Zwar ringt er weiter um die Deutungshoheit der Worte, indem er sie der Verwandtschaft immer wieder wohlgeformt in den Mund legt oder - sofern  Brüder, Onkel, Tante, Mutter und Großeltern schneller bei Zunge sind als ihr allzu präsenter Ghostwriter – beim Verfertigen der Gedanken aufspringt. immernochsturm 560 marion buehrle u"Immer noch Sturm" in Nürnberg © Marion Bührle

Doch die zunächst abwehrend auf den Ruf der Zukunft reagierenden Geister entschlüpfen der Kontrolle, sie übernehmen das Kommando der Geschichtsschreibung, die ihnen als einzig "unwiderrufliche Instanz" erscheint. Also erzählen sie, was ihnen wichtig ist. In Monologen und Feldpostbriefen, poetischen und pathetischen Ausbrüchen – angetrieben von der Sehnsucht des notorischen Einzelgängers Handke nach dem Phantom der "Gemeinschaft", das er trotz aller Sprachkunst natürlich auch in diesem Stück nicht fixieren kann.

Ein Zweig, ein Hausgrundriss, alles in Leichtigkeit

Regisseur Stefan Otteni und sein Bühnenbildner Peter Scior haben ein paar kluge Grundsatzentscheidungen für die Inszenierung getroffen. Zwischen der Beschreibung der Szene und der Phantasie der Zuschauer gibt es keinen Parkplatz für Illustrationen. Kein Apfelbaum, nirgends. Nur ein Blütenzweig in der Luft und das Garten-Modell zum späteren Zertrümmern letzter Hoffnungen. Auf der Drehbühne baut die Familie ihre Welt in kompakten Andeutungen. Aus Backsteinen entsteht der Haus-Grundriss, in Baumarkt-Portionen wird Heimat-Erde ausgebreitet. Wenn der Krieg verloren und die Welt scheinbar am Ende ist, kippt die Scheibe und räumt krachend alles ab.

Hoffnungsfroher sind die Mädchen, die es bei Handke gar nicht gibt. Ein Chor aus 26 Schülerinnen, allzeit und gerne auch auf Zuruf des "Ich"-Erzählers bereit zum stützenden Rundgesang für alle Anlässe und dem Regisseur Sinnbild der denkbar "unschuldigsten" Realisierung jener Gemeinschaft, die Handke so nachdrücklich verklärt. Wo sie, während die Erwachsenen noch von der Kriegs-Depression geschüttelt sind, fröhlich kichernd in die neue Zeit radeln, gewinnt die Aufführung ihre vorübergehend im Partisanen-Pathos gefährdete Leichtigkeit zurück.

Thomas Nunner ist der spurensuchende Erzähler und bewältigt diese anspruchsvolle Aufgabe als tiefgründelnder Komödiant. Er leitet den selbstironischen Ton weiter, der das "Ich" vom "Ego" des Autors trennt, kann über das Spiel, das er da anzettelte, immer wieder staunen. Nunners Sprache ist so lapidar, dass sie Handkes Text das Schwitzen versagt. Sein stärkster Partner ist Felix Axel Preißler, der den auferstandenen Onkel mit der Liebe zum Apfel und dem logischen Kampfnamen Jonathan mit genau taxiertem emotionalem Hochdruck zwischen Friedens- und Racheengel positioniert.

Gedimmte Dramatik oder öffentliche Meditation

Dem ganzen Ensemble (die sonnige "Ich"-Mutter Elke Wollmann an der Spitze im Damen-Ringkampf mit ihrer trübsinnigen Schwester Anna Keil, den Großeltern Adeline Schebesch und Thomas L. Dietz, den Brüdern Stefan Willi Wang und Philipp Weigand) gelingt ein Netzwerk von Blick-Kontakten, das auch Peter Handkes tosend hereinbrechenden Patrioten-Fanfaren standhält, wo Regisseur Stefan Otteni meint, sie wie ein Zitat an der Rampe ausstellen zu können.

Weitere Fehler hat er nicht gemacht, denn er bleibt dem Spiel treu und die Kürzung des ausufernden Textes auf knapp drei Stunden ist so gefühlvoll, dass der Zuschauer kaum Brüche bemerkt. Die provokante Frage, ob "Immer noch Sturm" gedimmte Dramatik oder eher öffentliche Meditation ist, hatte sich am Ende aufgelöst.

Bemerkenswert, wie gebannt das Premierenpublikum war – und wie die Begeisterung dann explodierte. Von daher könnte die Nürnberger Aufführung nicht nur für die Geschichte des Hauses wichtig sein, sondern den Anstoß für viele weitere Versuche mit Handke an den mittelgroßen Theatern des Landes geben.

 
Immer noch Sturm
von Peter Handke
Regie: Stefan Otteni, Bühne: Peter Scior, Kostüme: Sonja Albartus, Musik: Bettina Ostermeier, Dramaturgie: Horst Busch.
Mit: Thomas Nunner, Elke Wollmann, Adeline Schebesch, Thomas L. Dietz, Felix Axel Preißler, Stefan Willi Wang, Anna Keil, Philipp Weigand und der Mädchen-Chor der Maria-Ward-Schule Nürnberg.

www.staatstheater-nuernberg.de

 Uraufgeführt wurde Immer noch Sturm von Dimiter Gotscheff 2011 bei den Salzburger Festspielen.


Kritikenrundschau

"Viel besser" als die Gotscheff-Uraufführung sei dieser Abend gewesen, meint der Nürnberger Stadtrat Utz Ulrich, dessen Urteil sich Hans-Peter Klatt in der Nürnberger Zeitung (16.4.2012) am Ende seines Textes anschließt. Ottenis Inszenierung beschreibt der Kritiker als anwachsendes Spannungserlebnis: Nach einem eindrucksvollen Auftakt mit Thomas Nummer, der als Dichter-Alter-Ego auf leerer Bühne die "Herstellung von räumlicher und sozialer Wirklichkeit durch Sprache, ein zentrales Handke-Thema", vorführe, folge manch eine "szenische Durststrecke". Nachdem aber "Bühnenbildner Peter Scior seine Zurückhaltung" aufgebe, entstehe Eindrucksvolles, etwa ein "erster Gänsehaut-Effekt, als der Mädchenchor der Maria-Ward-Schule summend hereinströmt und magische Worte wie 'Heim', 'Sonne' und 'Schnee' skandiert." Bis zur Pause habe die Inszenierung "mächtig Fahrt aufgenommen", und "(n)ach Selters und Sekt warten Vernichtung und Verzweiflung auf das Publikum" bis zum phänomenalen (Beinahe-)Schlussbild mit der aufrecht gestellten Drehbühne: "Die Welt entgleitet und versinkt, zurück bleibt eine leere schwarze Riesenscheibe, die gleich einer verfinsterten Sonne aufsteigt."

Barbara Bogen beschreibt für BR 5 (16.4.2012, der Nürnberg-Beitrag im Podcast startet etwa bei Minute 11:00) eindringlich, wie sich zunächst das Dichter-Alter-Ego und dann eine "Choreographie der Ahnen" die anfangs leere Bühne erobern. "Große Miniaturen" gelängen Regisseur Otteni, "oft wie skizziert, flüchtig hingeworfen mit leichter Geste"; zudem ein imposantes Finale mit abhebender Drehscheibe. Fazit: "Peter Handkes durchaus auch heimatshungriger und sentimentalitätsgefährdeter, an sich komplett unzeitgemäßer Erinnerungsparcours" werde durch die "psychologisch feinsinnige Regie" Ottenis und sein "sich hier selbst förmlich übertreffendes Nürnberger Ensemble" zu einem "dreistündigen garantiert kitschfreien Poem, einem schwebendem Traumspiel, das das Publikum zu Jubelstürmen animierte".

Auch für Bernd Noack von den Nürnberger Nachrichten (16.4.2012) besitzt Ottenis Inszenierung eine Nähe und Dringlichkeit, die der Rezensent in der "texthörigen" Salzburger Uraufführung von Dimiter Gotscheff noch vermisste: "Drei Stunden erzählt er in ruhigen, poetisch-schönen, magisch-überraschenden Bildern von den Idyllen der Heimat, um sie in ebenso brutal eindeutigen, beängstigen Momenten zu gefährden und zu zerstören". Die "Wechselspiel" gelinge "wie ein Sog, der immer tiefer in diese diffuse Bühnen- und Scheinwelt zieht". Souverän gehe Otteni mit den "oft pathetischen Beschwörungen Handkes" um. Er lasse des Dichters "komischen Ernst perfide blitzen" und gebe dem Abend etwa mit dem Auftritt des Mädchenchors eine "tiefmenschliche, anrührend unkitschige Wahrhaftigkeit".

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