altSelbstabschottung im Theatersonnenlicht

von Leopold Lippert

Wien, 27. April 2012. Wenn sich an den Wiener Bühnen ein Frühjahrstrend abzeichnet, dann der, das Theater als realen, materiell-institutionellen Ort zur Debatte zu stellen. Das Burgtheater und sein Zuschauerraum mussten in der Vorwoche in Jan Bosses Robinson Crusoe für ein zivilisatorisches "Projekt einer Insel" herhalten. Nurkan Erpulat versteht in seiner Inszenierung von Maxim Gorkis "Kinder der Sonne" am Volkstheater das Aufeinanderprallen von Arbeiterklasse und Intelligenzija im vorrevolutionären Russland als Desillusionierung durch die Theatermaschinerie.

kinder der sonne4 560 klaus lefebvre x"Kinder der Sonne" im Wiener Volkstheater  © Klaus Lefebvre Denn die Bühnenarbeiter und ihre sonst so versteckten Handgriffe sind hier in jedem Moment sichtbar (das hier wahrlich lebendige Bühnenbild kommt von Magda Willi): Sie machen den Bretterboden sauber und halten die stilvollen Kronleuchter per Seilzug in Position. Sie tragen die lange Tafel samt Gedeck auch dann noch stoisch, als Heike Kretschmer als frustrierte Hausfrau Jelena schon darauf tanzt. Sie stehen auch immer grade richtig, wenn die Schauspieler mal Reibefläche zum Apfelpolieren brauchen. Dafür gibt es zwischendurch Schichtwechsel. Und mitten im schönsten Palavern über Sinn und Zweck der Kunst muss für ein paar Minuten unterbrochen werden, schließlich brauchen die Arbeiter auch mal Pause.

Intellektuelle Selbstabschottung

Erpulat, dessen postmigrantisches Friedrich-Schiller-Pauken Verrücktes Blut am Ballhaus Naunynstraße im Vorjahr zum Theatertreffen eingeladen wurde, verhandelt in "Kinder der Sonne" einen verwandten Themenkomplex: Gorkis scharfe Analyse der intellektuellen Selbstbespiegelung dreht sich um die Hilflosigkeiten des aufgeklärten Humanismus, um die vermeintliche Brutalität und Rohheit einer ungebildeten Masse und um den zweifelhaften emanzipatorischen Anspruch von Bildungseliten und ihrer Institutionen.

Im behüteten Haus des Naturwissenschafters Protassow (Patrick O. Beck) baut man selbst dann noch an Utopien ("Die Menschheit wächst und reift!"), wenn draußen schon die Cholera wütet. In der intellektuellen Selbstabschottung plaudert man mal gelangweilt, mal angeregt über Ästhetik, Liebesverwirrungen, und die idealen Menschen ("unsere Gene verbessern sich ständig!", in der Gorki um aktuelle Gentechnik-Debatten erweiternden Fassung), während soziale Unruhen auf der Straße immer gewaltsameren Ausgang nehmen. Um im plakativen Duktus der Textvorlage zu bleiben: Die Kinder der Sonne wollen die dunklen Schatten der Realität nicht zur Kenntnis nehmen.

Komplizen der Verweigerung

Dass Erpulat diese oft grotesk anmutende Verweigerung mitten in den Mikrokosmos Theaterraum verpflanzt und alle Abhängigkeiten offenlegt, macht die Sache unheimlich. Die Zuschauer werden so zu Komplizen gemacht, die im Stadttheater ihre ästhetische Beruhigungspillen mit dem obligatorischen Glas Sekt einnehmen anstatt ernsthaft darüber nachzudenken, wie soziale Probleme und Schieflagen konfrontiert werden können.

kinder der sonne3 280 klaus lefebvre x© Klaus LefebvreDie präzise atmosphärische Arbeit verstärkt das mulmige Gefühl noch. Obwohl der Mitteleinsatz konsequent sichtbar bleibt, ergeben Live-Klaviermusik, Kristallluster, und die die einzelnen Akte einrahmenden Gesangseinlagen (etwa das entstellte Fein sein, beinander bleiben) den märchenhaft-düsteren Eindruck der herannahenden Bedrohung. In diesem sehr stimmungsvollen Spiel mit Vorahnungen und Affekten wirkt die bemüht realistisch gehaltene Klimax, der Selbstmord des jungen Arztes Boris Tschepurnoj (Simon Mantei) durch Erhängen fast schon aufgesetzt.

Eindimensionale Figurenzeichnung

Während Gorki seinen Protagonisten trotz des moralischen Untertons durchaus Vielschichtigkeit und Ambivalenz zugesteht, rückt Erpulat seine Schauspieler zu oft in die Nähe der Farce: Günter Franzmeiers abgeklärter Maler Dmitrij Wagin ist ein wandelndes plattes Künstlerklischee, und Patrick O. Becks Science Nerd Protassow riecht verdächtig nach der US-Sitcom Big Bang Theory. Auch Heike Kretschmers verzweifelte Hausfrauenpose (in der rechten Hand das Wodkaglas schwenkend, die linke fest an die Hüfte gestemmt) erschöpft sich bald in ihrer Gleichförmigkeit. Derart Stereotypes hebt zwar das Lachniveau, wiegt das Publikum dann aber schließlich doch in genau jener vorhersehbaren Sicherheit der Theatermaschine, die ihm der Rest eines herausfordernden Abends zu verweigern versucht.

 

Kinder der Sonne
von Maxim Gorki
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Pieter Bax, Musik: Imre Lichtenberger-Bozoki, Moritz Wallmüller, Licht: Hans Leser, Dramaturgie: Susanne Abbrederis.
Mit: Patrick O. Beck, Nanette Waidmann, Heike Kretschmer, Günter Franzmeier, Simon Mantei, Claudia Sabitzer, Günther Wiederschwinger, Alexander Lhotzky, Inge Maux.

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

Etwas "Ungewöhnliches" habe Nurkat Erpulat mit dieser Gorki-Neudeutung geschaffen und dem Stück damit zugleich "etwas Glanz" zurückgegeben, schreibt Norbert Mayer in der Presse (29.4.2012). Das Lob richtet sich vor allem auf die Grundidee Erpulats, neben den Schauspielern, die die russische Intelligenzija verkörpern, auch die Bühnenarbeiter als "Volk" permanent anwesend zu halten. So entstünden eindrucksvolle Reibeflächen zwischen dem Pathos der (Theater-)Oberschichtsfiguren und dem gelassenen Tun der Arbeiter. "Erpulats Inszenierung ist atmosphärisch gelungen. Ermüdend wird seine Interpretation allerdings, wenn er allzu einfallsreich sein will und im Symbolismus wildert." Bisweilen sei die Arbeit "überinterpretiert", wobei sich dann auch "klischeehafte Schwächen im Ensemble" zeigten, das ansonsten "zu glänzen weiß".

Ronald Pohl schreibt im Standard (29.4.2012): Das Problem der Gorki'schen Wohlstandsbürger sei: "Sie lesen keine Zeichen, missachten die Menetekel an der Wand." Regisseur Nurkan Erpulat nehme aber nehme für sie und uns "das Geschäft der Deutung selbstbewusst in die postmigrantische Hand". Der "eigentliche Hauptdarsteller dieser grillenhaften Inszenierung ist das Volk: Bühnenarbeiter in grauer Montur halten wie stumme Diener die Seilzüge der Luster in Händen". Man könne in Erpulats Gorki-Umsetzung "den Unterschied zwischen Basis und Überbau endgültig begriffen". Leider aber habe Erpulat "auf die Entfaltung der verwickelten bürgerlichen Verhältnisse nicht ganz die nämliche Sorgfalt verwendet".

Kommentare  
Kinder der Sonne, Wien: Höhepunkt der Saison
Dass ausgerechnet das Volkstheater mal die vielleicht beste und spannendste Aufführung der Theatersaison liefern würde, hätte ich auch nicht gedacht. Ein gestochen scharf gedachter Abend, auch noch toll gespielt - mit Sinn für Witz und Atmosphäre. Ich glaube, das klassische Volkstheater-Boulevard-Publikum wird den Abend nicht goutieren und ist auch gestern eher irritiert gewesen, aber für alle anderen ist das eigentlich ein Muss!
Kinder der Sonne, Wien: Effekte aus der Konserve
"Die präzise atmosphärische Arbeit verstärkt das mulmige Gefühl noch. Obwohl der Mitteleinsatz konsequent sichtbar bleibt, ergeben Live-Klaviermusik, Kristallluster, und die die einzelnen Akte einrahmenden Gesangseinlagen (etwa das entstellte Fein sein, beinander bleiben) den märchenhaft-düsteren Eindruck der herannahenden Bedrohung."
Habe die Aufführung gestern gesehen. Also, die präzise atmosphärische Arbeit besteht aus dem guten, alten Bert-Wrede-Gewummer vom Band, wenn es bedrohlich wird, und Bombendetonationen (ebenfalls aus der Konserve), wenn die Revolution näher rückt. Wahnsinnig subtil fand ich das nicht.
Kinder der Sonne, Wien: Volkstheater wagt mehr
Am Volkstheater wird mehr versucht in dieser Spielzeit. Find ich gut!
Kinder der Sonne, Wien: abgenutztes Stilmittel
@serge: das ist gut beschrieben und leider auch zutreffend für einige andere bert-wrede-gewummer-abende. da hat sich ein stilmittel mal schön abgenutzt.
Leserkritik: Kinder der Sonne, Wien
Über die Neuaufnahme am Maxim Gorki Theater:

HebeBühne - der Theater Blog - Kinder der Sonne im Häuservergleich. Gläser, Rauch und Pathos!
von Michael Jetter

In der einschlägigen Weinszene werden Weine gerne einmal in verschiedenen Gläsern seziert und im Anschluss daran können leidenschaftliche Diskussionen darüber entstehen, welches Glas denn nun dem Wein zu seiner wahren Größe verholfen hat. Für einen Außenstehenden müssen diese Diskussionen wenigstens befremdlich wirken, geht es doch beim Weingenuss in erster Linie um Kommunikation, um die Freude am Genuss, auch um den Rausch und darum am Ende eines Tages final loslassen zu können.

„Rund 20 Prozent des Weingenusses hängen mit dem richtigen Glas zusammen.“ Zitat Jancis Robinson, britische Weinexpertin

Den Weingläser Vergleich als Vorbild, habe ich in zeitlich kurzen Abständen an zwei verschiedenen und relevanten deutschen Bühnen „Kinder der Sonne“ von Maxim Gorki gesehen und mich für die unterschiedlichen Interpretationsversuche beider Regie-Konzepte interessiert.

Atmosphärisch könnten die beiden Häuser nicht unterschiedlicher sein, ist das Maxim Gorki Theater seit Beginn dieser Spielzeit doch in den Händen der türkischstämmigen Sermin Langhoff und unternimmt den mehr als wichtigen Versuch, an einer subventionierten Berliner Bühne ein interkulturelles Theater zu etablieren. Elf der sechzehn zum festen Ensemble zählende Schauspieler besitzen einen Migrationshintergrund. Die finanziellen Mittel sind eindeutig beschränkt, aber das hat das Maxim Gorki Theater noch nie daran gehindert aufregendes Theater zu machen. Es sei an dieser Stelle an die teilweise sehr spannende Vor-Intendanz von Armin Petras (Fritz Kater) erinnert.

In Frankfurt/Main wird das Schauspielhaus seit knapp fünf Jahren vom gleichzeitig auch als Regisseur arbeitendem Intendanten Oliver Reese erfolgreich geführt. In Hessen verfügt man als Finanzmetropole naturgemäß über die finanziellen Mittel, auch durch potente Sponsoren, um ein erstklassiges Ensemble unterhalten und pflegen zu können.

In der aktuellen Spielzeit wird „Kinder der Sonne“ am Maxim Gorki, unter der Regie vom an deutschen Sprechtheatern sehr gefragten Nachwuchsregisseur Nurkan Erpulat, in Szene gesetzt, während in meiner Heimatstadt Frankfurt/Main, das 1905 geschriebene Stück, nach der Erkrankung von Andrea Moses, von Oliver Resse übernommen und ausgerichtet wurde.

„Kinder der Sonne“ ist ein zeitloses und tragikomisches Stück über eine Clique um den Wissenschaftler Protassow. Eine Mittelklassengesellschaft, die gefangen ist in ihren Befindlichkeiten und Sehnsüchten, zum Scheitern verurteilt, aber auch ignorant genug, um die revolutionäre Stimmung im gemeinen Volk komplett ausblenden zu können. Einem Tschechow Stück nicht unähnlich, verliebt man sich hier zwingend unglücklich, hadert mit seinem Schicksal, blendet jenseits des beruflichen Antriebs alles andere komplett aus, wirft sich dem Erstbesten an den Hals und zelebriert seinen Selbstekel und Weltschmerz bis hin zum Selbstmord durch Erhängen.

„Man streitet ja meistens nicht zu dem Zweck, die Wahrheit zu finden, sondern um sie zu verbergen“ Zitat Maxim Gorki

„Kinder der Sonne“ ist das Thema eines vorrevolutionären Klimas, das sich 1905 im Jahr der Niederschrift Gorkis in Russland schon andeutete, und wenige Jahre später mit der Oktoberrevolution Realität wurde.

Am Maxim Gorki Theater wird dieses Stück recht laut, in hohem Tempo, intensiv und zum Teil auch sehr clownesk überzeichnet und körperlich interpretiert. Der Schwerpunkt der Inszenierung liegt in der unmittelbaren Konfrontation des verarmten und von einer Cholera-Epidemie dahingerafften Volkes mit dem Wissenschaftler Protassow (Thomas Wodianka) und seinem sozialem Umfeld.

Armut, Wut, Verzweiflung, Niedertracht, Hilflosigkeit und Brutalität der Arbeiterklasse werden u.a. durch den Schlosser Jagor (Falilou Seck) spürbar, irgendwie auch verständlich, und fordern die auch heute sehr aktuelle Frage heraus, ob sich gesellschaftliche Hierarchien auflösen lassen, die Mittelklasse überhaupt bereit dazu ist, oder ob wenigstens eine Durchlässigkeit möglich erscheint.

Sehr plakativ werden Bühnenarbeiter durch die ganze Inszenierung in Szene gesetzt, sie halten an Seilen die Kronleuchter an der Decke, tragen einen Tisch auf dem sich Jelena (Sesede Terziyan),die Frau des Professors, monologisierend räkelt und unterbrechen eben diesen Monolog, in dem sie den Tisch absetzen und sich für gefühlte 10 Minuten an den Bühnenrand begeben und sich ihrer verdienten Brotzeit widmen. Das Spiel steht still. Die Botschaft könnte nicht deutlicher sein, ohne uns gibt es kein Theater und Euer Leben ist in dieser Form ohne unsere Arbeit nicht vorstellbar.

Am Schauspielhaus Frankfurt/Main, im großen Haus, unternimmt Regisseur Reese den Versuch, Gorkis Figuren näher auf den Grund zu gehen und die Charaktere intensiv auszuleuchten. Die Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterklasse und den sogenannten Leistungsträgern einer Gesellschaft, wird auch hier thematisiert, steht aber in keinster weise im Fokus dieser Inszenierung.

Es ist eher der Versuch einer Erklärung, oder wenigstens Bewusstmachung, warum sich Menschen selbst im Weg stehen, welche persönliche Geschichte ihr Verhalten prägt und warum sich ihr Scheitern zwangsläufig ergeben muss, es ist ein durch und durch bürgerliches Theater.

Am deutlichsten wird dieser eher psychologische Ansatz in der Figur von Protassows Schwester Lisa, gegeben von der wunderbaren Verena Bukal. Lisa ist eine kränkelnde junge Frau, die sich zu dem zynisch/traurigen Tierarzt Boris (Helmut Kraushaar) hingezogen fühlt, seine Liebe aber nicht umfassend erwidern kann, da sie eine gesellschaftliche Liebe, also eine Liebe in größerem gesellschaftlichen Zusammenhang herbeisehnt und somit der Utopie einer universalen Liebe Folge leistet.

Ernüchtert und unendlich traurig wendet sich Boris ab und kündigt verklausuliert seinen Selbstmord an. Lisa erfährt von seinem Freitod und wird von diesem Moment an nicht mehr sie selbst sein. Schon immer nervös und emotional angegriffen, entwickelt Verena Bukal mit ihrer Lisa über lange Minuten einen Verzweiflungs- und Traurigkeitstanz um Ihren Boris, wie ich es noch selten in dieser Intensität gesehen habe.

Am Schluss sitzt sie hilflos an einer Zigarette saugend und barfuß am Bühnenrand und mit dem Herablassen des Bühnenvorhangs, scheint auch das Leben dieser sentimentalen und hilflosen Figur ausgelöscht und beendet zu sein.

Ich möchte nicht verhehlen, dass mir der Berliner Abend persönlich durchaus näher war, und dass ich die Atmosphäre im Gorki Theater liebe, insbesondere auch die rustikale und kommunikative Kantine (die Buletten sind erstklassig) mit dem angrenzenden und nicht weniger gesprächsfördernden Raucherraum.

Es ist auch sicherlich so, dass sich das Gorki Theater unmittelbarer an das Publikum wendet und sich dieser Anspruch in der Spielatmosphäre auf der Bühne naturgemäß widerspiegeln muss. In Schauspiel Frankfurt sieht man phantastische und zum Teil schon ausgereifte Schauspieler, den Versuch einer Offenlegung und Sichtbarmachung von menschlichen Charakteren und weniger ein politisch prononciertes Theater. Aber gegeneinander Ausspielen werde ich diese beiden großartigen Häuser an dieser Stelle ganz sicher nicht, beide sind wichtig für die deutschsprachige Bühnenlandschaft und vor allen Dingen unbedingt Ihren Besuch wert, sehr verehrter Leser der HebeBühne.
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