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Die letzte Party der oberen Mittelklasse

von Christian Baron

Gera, 27. April 2012. Was hätte das für ein Spektakel werden können. Da kündigt das Theater Gera als letzte Inszenierung von Amina Gusner die Uraufführung von "Titanic" an – einem Stück, das sie gemeinsam mit Lennart Naujoks geschrieben hat und nun, 100 Jahre nach dem Untergang des titelgebenden Schiffes, zur Aufführung bringt.

Welch zahlreiche Parallelen sich da anbieten in unseren Tagen, in denen die Menschen eine zwar technisch und ökonomisch, ja sogar sozial weitaus fortgeschrittenere Existenz führen, in denen sie aber genauso am blinden Glauben an das naturgesetzmäßige Funktionieren menschengeschaffener Phänomene (Marktwirtschaft, Atomkraft) festhalten wie die Vorfahren am Glauben an die Unsinkbarkeit dieses bis heute mythenumrankten Luxusdampfers. Doch diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird in der Geraer Titanic-Version nur oberflächlich thematisiert.

Auf steilem Bug

Wahrlich viel gemacht haben die Austatter Jan Steigert und Inken Gusner mithilfe der wenigen vorhandenen Mittel im klammen Theater Gera aus dem Bühnenbild. Die bis zum Untergang spielende Kapelle ist dezent am Rand platziert, der Bug geht steil nach oben wie das im Sinken befindliche Schiff, sogar der Kronleuchter hängt schief an der Decke und wirkt, als wippe er mit den Wellen des Meeres unaufhörlich hin und her. Das sind optische Feinheiten.

titanic1 560 stephan walzl u© Stephan WalzlLeider aber scheitert die Regisseurin am eigenen Anspruch. Wenn Amina Gusner im Vorfeld in einem Interview erklärt, sie wolle ihr Sujet nicht nur in Bezug auf vereinzelte Katastrophen vermitteln, sondern "generell auf alles, was über die menschliche Vorstellungskraft hinausgeht", dann muss ihr Ziel als verfehlt gelten. So fügt das Stück in den Rahmen der tatsächlichen Geschehnisse auf der Titanic bis zu deren Untergang mehrere Einzelschicksale ein; die Figuren jedoch sind allesamt nichts weiter als Karikaturen ihrer selbst.

Braut, Banker und Kassandra

Wie bei Richterin Barbara Salesch tritt etwa eine affektierte Braut (Alice von Lindenau) während der gesamten Spieldauer stereotyp im Brautkleid auf, der amerikanische Banker ist unschwer als typischer Vertreter des bösen Finanzmarktes erkennbar (Frank Voigtmann) und die exzentrische Kassandra (Nora Undine Jahn) ist eine disparate Schriftstellerin mit diffusem Geltungsdrang. Auf der Ebene der individuellen Psyche vermag diese Herangehensweise stimmig sein, sie reiht sich aber überhaupt nicht ein in jenen größeren Zusammenhang, in dem die Darbietung ja bewusst stehen will.

Da wird von den Leuten zwar kollektiv die Gefahr ignoriert und alle tanzen und feiern fröhlich weiter, obwohl das bevorstehende Sinken des Schiffes bereits traurige Gewissheit ist. Die Frage, welche Konsequenzen dies kollektiv zeitigen kann, versinkt aber unangetastet mit den Passagieren in den Untiefen des per Video auf die Bühne projizierten Ozeans. Denn die Geretteten verfallen nach dem endgültigen Sinken mit den Toten in neurotisches Geplapper, in dem sich niemand für sein eigenes Handeln verantwortlich zeigt und alle sich mit der neuen Situation summa summarum gut arrangieren.

Der Mensch und die Gefahr

Somit passt hier etwas nicht zusammen: Zuvor wird alles daran gesetzt herauszuarbeiten, dass die Menschen aus freien Stücken und egoistischen Motiven nicht gefahrenbewusst denken wollen; anschließend aber wird vermittelt, man könne aufgrund der Natur des Menschen ohnehin nix ändern am gesellschaftlichen Zusammenleben: Manche (die im Rettungsboot) haben eben Glück, andere (die Toten) schlicht und einfach Pech. C'est la vie, hört man es da unausgesprochen hallen.

titanic5 560 stephan walzl u© Stephan Walzl

Damit enthält die Darbietung letztlich noch weniger gesellschaftliche Relevanz als James Camerons Verfilmung von 1997, die sich einer Haltung immerhin nicht entzieht, auch wenn sie sich – marxistisch gesprochen – im Klassenkampf eindeutig an die Seite der Kapitalisten stellt. Im Programmheft wird der Streifen als "grandios" bejubelt, vielleicht sogar verräterischerweise. Gusner und Naujoks nämlich umschiffen das kritische Potenzial komplett, indem die unterste Klasse der Passagiere gar nicht erst thematisiert wird.

Schlechte Natur

Der ignorante Haufen aus der verwöhnten oberen Mittelklasse steht dagegen exemplarisch für die Eigenschaft der Menschheit an sich, die Gefahren immer zu spät zu erkennen und obendrein dann auch noch völlig falsch zu reagieren – weshalb der Untergang des Homo Sapiens aufgrund von Ignoranz und Egoismus schneller eintreten dürfte, als die meisten von uns zu wissen glauben.

So kann das gesättigte Publikum nach dem Schlussapplaus mit der wohlfeilen und schon tausendfach gehörten Gewissheit der schlechten Natur des Menschen nach Hause gehen, ohne dass ihm durch die von Gusner im erwähnten Interview prononcierte Quintessenz des Titanic-Stoffes die Laune verdorben wurde: "Das Alte aufzugeben, das Gewohnte zu verlassen und in der neuen Welt bzw. der neuen Situation noch nicht angekommen zu sein (...), das macht Angst, das macht unsicher". Genau darüber hätte man gerne mehr erfahren.


Titanic (UA)
von Amina Gusner und Lennart Naujoks
Regie: Amina Gusner, Dramaturgie: Lennart Naujoks, Bühnenbild: Jan Steigert, Kostüme: Inken Gusner, Musikalische Leitung: Olav Kröger, Video: Frank Vetter
Mit: Bruno Beeke, Raphael Beil, Henning Bäcker, Nora Undine Jahn, Anne Keßler, Manuel Kressin, Olav Kröger, Alice von Lindenau, David Lukowczyk, Jochen Paletschek, Vanessa Rose, Rüdiger Rudolph, Mechthild Scrobanita, Frank Voigtmann

www.tpthueringen.de

Kritikenrundschau
In eine brisante Lage für das Haus, von dem sie sich damit verabschiedet hat, habe die Schauspielchefin in Gera/Altenburg Amina Gusner ihre "Titanic"-Premiere plaziert, schreibt Angelika Bohn in der Ostthüringer Zeitung (30.4.2012). Aber: "Das von der Abschaffung bedrohte Schauspielensemble präsentiert sich in Hochform." Wer befürchtet hätte, Gusner und ihre Schauspieler lieferten den selbstmitleidigen Kommentar zur Krise, werde eines besseren belehrt. "Dass Jan Steigert aus Kostengründen auf das Bühnenbild von Gusners Einstandspremiere 'Nibelungen' zurückgreifen muss, bleibt ein Erinnerungsschatten, bis man das Programmheft liest, so wunderbar sinnfällig und unaufdringlich mutiert die Festung am Rhein zum sinkenden Schiff." Gusner montiere Handlung und Reflexion. So gelinge es, in ihrer dichten, kompakten, feine Action und Ruhe austarierenden Inszenierung, einen ganzen Kosmos von Fragen zu öffnen, der kleine und große Katastrophen jeder Art betreffe. "Es gibt immer mindestens einen Punkt, an dem man das Verhängnis hätte abwenden können, warum sind wir nicht in der Lage, ihn zu sehen? Würden die Toten die Überlebenden trösten, wenn sie es könnten? Würde man auf den eigenen Mythos pfeifen, wenn man sich dafür retten könnte?" So aktuell und gleichzeitig über sich selbst hinausweisend könne nur Schauspiel sein.

Schön könne "das Untergehen nur sein, wenn es mit solch bitter-süßem Furor auf der Geraer Bühne passiert", befindet Wolfgang Hirsch in der Thüringischen Landeszeitung (30.4.2012). Auf der temporeichen Schifffahrt, die Amina Gusner mit vorzüglichen Schauspielern einrichte, "verdichten sich die atlantische Stunden und Tage zu kostbaren Augenblicken". Nach der Kollision mit dem Eisberg erfahre das "aberwitzige Treiben eine abrupte Entschleunigung"; und es "spielen sich in der Tat, wie man's aus Presseberichten kennt, dramatische Szenen ab". In Gusners/Naujoks "Untergangsstudie passiert das mehr oder minder Erwartbare. Dies besitzt zwar nicht allzu viel Tiefgang, reicht nicht an klassische Tragödien oder existenzialistische Etüden heran, gewinnt allerdings aus der individuellen Unmittelbarkeit der Akteure eine eminente Dringlichkeit."

Kritischer sieht Michael Helbing in der Thüringer Allgemeinen (30.4.2012) die Angelegenheit: "Amina Gusner gelingt keine Haltung, nur Erklärung; sie interpretiert munter den Mythos aus zeitgenössischer Sicht, doch mit konventionellen Mitteln. Die Schauspieler verkörpern zwar individuelle Figuren und spielen kleine Geschichten. Sie bleiben gleichwohl Symbole in einem indifferenten Ensemble, in dem niemand herausragt oder untergeht." Im Kern verpflichte sich der Abend metaphorisch der "ewigen Wiederkehr des Gleichen". Die Handlung ende, wie sie begann, gemäß dem Credo "Es hat sich überhaupt gar nichts verändert." In all dem sei die Inszenierung temporeich, aber vorhersehbar und biete intellektuell kaum mehr als "durchsichtige Kommentare zur (Schief-)Lage der Nation: transparentes Theater sozusagen, also politisches Kabarett".

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