Die Gesellschaft frisst sich selbst

von Dorothea Marcus

Mülheim an der Ruhr, November 2007. Was man so alles zum Foltern braucht: Zangen, Hämmer, Schraubzwingen. Leuchtend hängen sie auf dem Bild vor dem OP-Tisch. "Doktor, bitte in den letzten Raum", tönt eine Lautsprecherstimme. "Ich würde gern erstmal mit der Theorie beginnen", sagt der Folterschüler, als sein Lehrer angekommen ist.

Doch er muss sofort praktizieren, dabei zerfällt die Versuchspuppe in ihre Bestandteile. Ein Folterknecht ist ein Musiker, der einem Instrument Töne entlockt, lernt er – und ein Arzt, der den Tumor der Gesellschaft herausschneidet. Doch das Wichtigste ist, dem Opfer die Augen zu verbinden, damit die menschliche Einbildungskraft kleinste Berührungen zu unvorstellbaren Qualen fantasiert. Der Folterschüler wird dies beherzigen – und einen harmlosen Graffiti-Sprayer zu Tode quälen, weil sein eigenes Kind im Sterben liegt.

Noli me tangere: Rühr' mich nicht an!

Wie mag sich dies in einem Land, in dem laut amnesty international Folter an der Tagesordnung ist, anhören? Wie kann es sein, dass so ein Stück im Iran überhaupt zu sehen ist? Dreißig mal wurde "Sinfonie der Qual", inspiriert von einer Erzählung von Aleksandar Tisma, im Teheraner Stadttheater gezeigt; zweimal zudem auf dem jährlichen Fadjr-Theaterfestival.

Doch so einfach ist der Iran nicht zu erfassen. Es gibt kaum einen Ort im Mittleren Osten, wo es eine so große Schicht theaterbesessener und gebildeter Menschen gibt. Rund 15.000 Zuschauer hat das Festival jedes Jahr, nachmittags bilden sich Schlangen vor den Kassen, auch wenn der Eintritt rund 2,50 Euro kostet. Eine Verherrlichung des islamischen Gottesstaats findet nicht statt. Im Gegenteil: im iranischen Theater wird subtil und symbolisch aufgeladen Regimekritik betrieben. Und das mit staatlicher Förderung: Rund 3,6 Millionen Euro beträgt das Budget des "Dramatic Art Center", der staatlichen Behörde, die jedes Stück genehmigen muss. Das entspricht dem Etat des Theaters an der Ruhr, eines der kleinsten Theater der Republik. Für die Zensur ist der "Ershad" verantwortlich, der darüber wacht, dass Frauen Kopftücher tragen und sich auf der Bühne nicht mit Männern berühren, der aber inhaltlich kaum eingreift.

Der Mensch als Konsumzelle

Wenn man ihn fragt, wovon sein Stück spricht, antwortet Regisseur und Autor Hossein Pakdel ausweichend. "Es handelt nicht von Folter", sagt der 58-jährige, "es handelt von der Angst davor – und davon, wie Ängste erfunden werden, um Macht zu sichern, überall auf der Welt." Pakdel ist im Iran ein berühmter Regisseur. Jahrelang hat er das Stadttheater geleitet, im Augenblick dreht er einen der größten iranischen Filme, die je produziert wurden. "Kultur ist nicht in eine christliche und eine muslimische aufgeteilt", sagt er, "es gibt nur eine neue Gesellschaftsordnung: in ihr wird der Mensch nur noch als Konsumzelle betrachtet."

Auch die jungen Regisseure Homayoun Ghanizadeh und Ali Nejad lassen sich auf der Podiumsdiskussion im Theater an der Ruhr nicht zu regimekritischen Aussagen hinreißen. Noch nicht einmal dazu, wie sich die Situation in den zwei Jahren, in denen Ahmadinedschad an der Macht ist, verschlechtert hat. Dass Theaterzeitungen eingestellt werden, Bücher vor ihrer Veröffentlichung monatelang bei der Zensurbehörde liegen. Dass immer wieder willkürlich die Leiter der Kulturbehörden ausgewechselt werden und auch der Austausch zwischen deutschen und iranischen Theatern, den Roberto Ciulli und sein Theater an der Ruhr vor zehn Jahren begonnen haben, immer schwieriger wird.

Ghanizadeh erzählt, wie sein letztes Stück zum Festival eingeladen wurde – und in letzter Sekunde gestrichen wurde, um dann doch gezeigt zu werden. "Es ist doch wunderbar, in einer so aufregenden Gesellschaft zu arbeiten. Hat irgendein Regisseur in Deutschland so einen spannenden Job?", fragt er spöttisch.

Hoffart, Wahn und Schwermut

Seine Inszenierung "Dädalus und Ikarus" erzählt von Freiheitsdrang und dem Traum vom Fliegen – wie dies in einem Land verstanden wird, indem seit der Revolution laut Schätzungen rund 1,5 Millionen Menschen ausgewandert sind, kann man sich denken. Vater und Sohn im Labyrinth tragen Fliegermütze und geringelte Clownsstrümpfe und hämmern, schweißen und bohren wie besessen an einem Flugapparat herum. Die Funken sprühen, als sie endlich aufgestiegen sind, heulen sie anarchisch bis der Absturz der hilflos-drolligen Vögel beginnt. Zum Schluss begegnet ihnen ein Wesen in Engelsflügeln – wahre Freiheit gibt es nur im Tod.

Viele der iranischen Stücke sind mit Schwermut aufgeladen, die Schauspieler spielen mit einer beeindruckenden und fast beiläufigen Intensität. In "Der Leopard wischt seine Flecken ab" wird eine Geschichte von Wahnsinn und Realitätsverlust erzählt. Auf einem roten Teppich leuchtet ein weißes Waschbecken. Ein Mann zuckt autistisch mit einem Milchfläschchen hin und her, hat aber vorher von seiner verrückten Frau erzählt. Dann beginnt die Geschichte: Eine Frau will ihr Blut für ihr leukämiekrankes Kind opfern, doch er will sie zurückhalten und empfiehlt die mythische Methode der Wildschweintötung. Als die Frau aus den Bergen zurückkommt, ist das Kind verschwunden und die Frau explodiert in Hysterie. Hat es der Mann getötet, oder ist es zu einer jungen Frau im roten Kleid herangewachsen? Wer ist hier geistig normal, wer sitzt in einer Klinik ein?

Im Schlussbild von "Sinfonie der Qual" sitzen Folterer und Gefolterte an einem Tisch und essen die Körperteile der Puppe auf. Eine Gesellschaft frisst sich selbst – ein ungeheures Bild. Dass es im Iran überhaupt zu sehen sein darf, verstrickt den westlichen Betrachter in eigene Vorurteile und Widersprüche.

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