altEmpört euch, Wutbürger!

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 10. Mai 2012. In Boris Nikitins Kleist-Paraphrase Der Fall Dorfrichter Adam (in Graz uraufgeführt 2010) sind ein Notlicht und ein Erste-Hilfe-Koffer explodiert. Das hat Effekt gemacht. Vielleicht deshalb knallen und funken diesmal auf der Probebühne des Schauspielhauses nacheinander ein Reisekoffer, eine Venusstatue und ein Papierhäuschen. Es knallt in einer Episode, da tiefgründig philosophiert wird. Die Detonation folgt einer physikalischen Versuchsanordnung. Wir sollen nachdenken darüber, ob und wie Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit, Erwartung und Option einander bedingen. Nicht einleuchtend? Egal. Hauptsache es kracht und es ist was los auf der Bühne.

bartleby 4 280 katharina-klar-lorenz-kabas lupi spuma uKatharina Klar und Lorenz Kabas in "Bartleby"
© Lupi Spuma
Anderthalb Jahre nach seiner (damals sehr gelungenen, weil hintersinnigen) literarischen Kleist-Paraphrase über das Wesen der Glaubwürdigkeit fragt Boris Nikitin jetzt in "Bartleby oder Sicherheit ist ein Gefühl", einer absonderlich improvisiert und gedankenzerfleddert wirkenden Produktion, nach der Sinnhaftigkeit der political correctness. Das wäre also jene Haltung, für die man tunlichst "erst alles verstehen muss, bevor man es eh nicht ablehnen darf". Political correctness heiße demnach, sich gezwungen zu fühlen, eine (von wem eigentlich?) als wünschenswert definierte Meinung haben und leben zu müssen. Es werde – so die Hypothese – den Leuten heutzutage wort- und gedankenreiche Reflexion abverlangt, doch diese soll gefälligst ein politisch erwünschtes, gesellschaftlich anerkanntes und mehrheitsfähiges Ergebnis bringen.

Gegen die Erwartungshaltung des Establishments

Kurzum: Es wäre, laut dem notorischen Text-Neubefragungs-Jungspund Boris Nikitin, eine Figur wie Bartleby heutzutage mehr als nötig. In Herman Melvilles gleichnamiger Erzählung heuert Bartleby in einer Rechtsanwaltskanzlei (also einem Epizentrum der Lauterkeit und der Gedankenordnung) an, um zugleich da zu sein und auszusteigen. Arbeitsaufträge weist der junge Mann nämlich so höflich wie bestimmt von sich, ohne das weiter zu begründen. Er ruft nicht gleich die Rebellion aus. Mit einem beharrlich-freundlichen "I would prefer not to" beamt er sich weg aus der Erwartungshaltung des Establishments.

Und nun also zurück auf die Probebühne des Grazer Schauspielhauses, wo aus den hehren Gedanken etwas zum Anschauen und Anhören, etwas irgendwie Greifbares hätte werden sollen. Am Premierenabend war ein schlüssiges Ergebnis nicht so notwendig, denn Boris Nikitin hat in Graz einen eingeschworenen Fanclub, der sich am Boden wälzt, schon wenn sich ein Schauspieler eine Perücke überstülpt, und schier außer sich gerät, wenn einer auf der Bühne eine Grimasse schneidet. Die lautstarken Premieren-Lachvögel könnte man mit Gewinn zur Hintergrund-Beschallung amerikanischer Vorabend-Comedies einsetzen.

Empört Euch gegen "Empört Euch!"

Für Lacher und finalen Jubel-Pegel war jedenfalls gesorgt an einem Abend, an dem man aus etwas kritischerer Distanz nicht mehr als kruden, ermüdenden Slapstick wahrgenommen hat. Viel halbfertig Gedachtes, das dafür in doppelter Lautstärke: Das ist meilenweit weg von Melvilles ruhiger, aus der leisen Skurrilität schöpfender Vorlage. So raffiniert Boris Nikitin beim "Dorfrichter Adam" den Text gedrechselt und verschnitten hat, so deftig lässt er diesmal ein Schauspieler-Paar (Katharina Klar, Lorenz Kabas) kalauern. "Darf ich eigentlich alten Elfenbeinschmuck kaufen, wenn der Elefant eh schon tot ist?" Mein Gott.

bartleby 1 280 lorenz-kabas-katharina-klar lupi -spuma u"Wieso darf ich nicht in einer Blase leben?" - "Bartleby" in Graz © Lupi SpumaDer Mann auf der Bühne versucht eine Dreiviertelstunde lang eine Gitarre zu stimmen, während die Frau dauerquasselnd um ihn herumtrippelt. Während er sich dann, leise von einer besseren Welt und einem individuelleren Ich singend, in den Bühnenhintergrund zurückzieht, holt sie zu einem ur-gewaltigen Solo aus: Alles, was an Biertisch-Rede nur denkbar ist, scheint zusammenzufließen in einen Monolog aus pubertärem Toben und zornigem Augenrollen. Empört euch über uralte Leute, die Bücher wie "Empört euch!" schreiben! Spielt nicht mit, wenn wer auch immer Wutbürger aus euch machen will. Setzt aufs spontane Bauchgefühl, denn "wie soll man sich eine Meinung bilden, wenn alles ausdifferenziert ist bis zum Pixel"? Und warum überhaupt eine ausgewogene Meinung bilden, weil "bisher durfte man ja auch gleich sagen: Das ist ein Scheiß". Und überhaupt, wieso über alles reflektieren? "Wieso darf ich nicht in einer Blase leben?" Oder: "Ich will Fehler machen dürfen, können, wollen, ja, wollen", und – als Politiker – "Fehler einfach ausbraten statt zurücktreten", notfalls eben "die Doktorarbeit nachschreiben".

Ja, so einfach könnte die Welt ticken. Aber was täten dann Leute wie Boris Nikitin im Theater?

Bartleby oder Sicherheit ist ein Gefühl
Regie und Konzept: Boris Nikitin, Konzept und Ausstattung: Matthias Meppelink, Dramaturgie: Regula Schröter.
Mit: Lorenz Kabas und Katharina Klar.

www.schauspielhaus-graz.com

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