Landschaftliche Spannungen

von Dina Netz

Köln, 11. Mai 2012. Vom Geburtshaus des Schriftsteller Edward FitzGerald im ostenglischen Boulge kommt W.G. Sebald in nur einem Satz zu einem irischen Landsitz, auf dem die Familie Ashbury ein "bizarres Leben" führt. Die Verbindung ist der Garten der Familie FitzGerald, der ihn an den in Irland erinnert hat. So geht das ständig in W.G. Sebalds "Die Ringe des Saturn": Er flitzt wie ein Wiesel durch seine Assoziationen, und über die Gelenkigkeit seines Geistes, sein ungeheures Wissen und den Glanz seiner Beschreibungen kann man nur staunen.

W.G. Sebald war 1992 einige Tage zu Fuß in der ostenglischen Grafschaft Suffolk unterwegs, und nach seiner Wanderung erinnert er sich sowohl an die "schöne Freizügigkeit" als auch an das "lähmende Grauen". Als freizügig empfand er die Gegend wegen der weiten, nur spärlich besiedelten Landschaft. Und das Grauen befiel ihn ob der "Spuren der Zerstörung", die zum Teil aus weit zurückliegender Zeit stammen.

Locker geknüpfte Assoziationskette
Die Form des Buchs ist schwer zu fassen – es besteht aus Reisenotizen, erweitert um philosophische Betrachtungen. Sebald erzählt, was er auf seiner Wanderung sieht und erlebt; immer wieder bleibt sein Interesse an irgendetwas hängen, und er schweift ab in die Geschichte oder zu Geistesgrößen, in deren Leben die Gegend eine Bedeutung hatte. Er beginnt beim Arzt und Schriftsteller Thomas Browne, der in Norfolk praktizierte und die "Geheimnisse des menschlichen Körpers" untersuchte; er besucht die heruntergekommene Herrschaft Somerleyton, ein verarmtes früheres Seebad, imaginiert anhand eines Gemäldes eine Seeschlacht vor der Küste. Sebald schweift aber auch weit ab in die chinesische Geschichte oder zu eigenen Reisen nach Amsterdam und Irland; und er erzählt Anekdoten von mehr oder weniger berühmten Leuten, zum Beispiel dass Chateaubriand, der französische Diplomat und Autor, seine große Liebe in dieser Gegend kennenlernte – dummerweise war er schon verheiratet. "Die Ringe des Saturn" ist also eine sehr locker geknüpfte und weit ausgreifende Assoziationskette. Wie soll man die nun auf eine Bühne bringen?

Saturn 560 StephenCummiskey xMit elaborierten Bühnenmitteln: "Die Ringe des Saturn" © Stephen CummiskeyDie britische Regisseurin Katie Mitchell hat die "hohe dramatische Intensität" interessiert: die Spannung zwischen der Ruhe und der Gewalttätigkeit der Landschaft (Erosion der Küsten, Flugfelder des Militärs). Mitchell hat für die Dramatisierung wieder ihre bereits bewährte Form gewählt: Sie inszeniert in Köln ein Live-Hörspiel mit Video-Einblendungen, ergänzt durch einige Schauspielszenen. Drei Schauspieler lesen den – stark gekürzten – Text, alle zehn Darsteller machen dazu auf der Bühne Geräusche; die Geräuschemacherin Ruth Sullivan zum Beispiel tritt fast die gesamten zwei Stunden auf verschiedenen Untergründen auf der Stelle, um die Wanderung des Erzählers hörbar zu machen. Beim Ton hatte Mitchell einige sehr charmante Einfälle: Als Sebald zum Beispiel vom Ende des Heringsfangs vor der englischen Küste spricht, der auf der hinteren Wand noch als Film eingeblendet wird, imitiert Klopfen auf einen nassen Lappen das Klatschen der toten Fischkörper aufeinander.

Auf die bewusst auf verwittert gemachte hintere Wand werden Bilder projiziert, die teils den Text illustrieren – weite Marschlandschaften, rollende Meereswogen, heruntergekommene Ortschaften. Manchmal konterkarieren die Bilder das Erzählte auch, wie der tote Vogel, der zu sehen ist, als Sebald von der Begegnung mit einem Mann erzählt, der seit Jahrzehnten ein Modell des Jerusalemer Tempels baut.

Sinnliche Überforderung
An dieser Geschichte zeigt sich ganz besonders, woran Katie Mitchells Inszenierung krankt: Zwar kommt die Episode im Stück vor, aber sie ist zu stark verkürzt und rauscht durch die vielen Ebenen von Ton, Bild und Text, denen man gleichzeitig Aufmerksamkeit schenken muss, zu schnell vorbei. Von Sebalds zugleich bewundernder und amüsierter Beschreibung dieses eigenartigen Mannes kriegt man fast nichts mit.

Das gilt für den ganzen Abend: Nach anfänglichem Staunen über die elaborierten Bühnenmittel stellt sich bald sinnliche Überforderung ein. Zwar hat Katie Mitchell den 350-seitigen Text klug verkürzt, so dass vor allem Sebalds Wanderung durch Suffolk und seine Verfalls-Beobachtungen übrigbleiben, wodurch sich die melancholische Abschiedsstimmung des Buches überträgt. Doch nimmt sie ihm dadurch auch viel, denn die Stärke des Sebald'schen Texts sind eben genau jene mäandernden Gedankengänge mit all ihren Abschweifungen und die dabei präzisen Beschreibungen, die jetzt fehlen oder die einem vor lauter Bühnengeschehen entgehen.

Den Darstellern, die all die verschiedenen Ebenen koordinieren müssen und dabei wirklich Beachtliches leisten, gebührt aller Respekt. Am Schluss wirken Akteure und Publikum allerdings sehr erschöpft. So jedenfalls kann man W.G. Sebald nicht auf die Bühne bringen – vielleicht kann man es überhaupt nicht.

Die Ringe des Saturn (UA)
von W.G. Sebald
Regie: Katie Mitchell, Bühne und Kostüme: Lizzie Clachan, Bildregie: Grant Gee, Videodesign: Finn Ross, Sounddesign: Gareth Fry, Adrienne Quartly, Licht: Ulrik Gad, Musik: Paul Clark, Dramaturgie: Jan Hein, Produktionskoordination: Pippa Meyer.
Mit: Ruth Marie Kröger, Nikolaus Benda, Julia Wieninger, Renato Schuch, Juro Mikus, Foley Artist (Geräusche): Ruth Sullivan, Sonic Artist (Klangkünstler): Simon Allen, Julia Klomfass, Piano: James Longford. Additional Foley and Live-Camera: Frederike Bohr, Lily McLeish, Stefan Nagel.

www.schauspielkoeln.de


Kritikenrundschau

"Sebalds singulärer Kunst, die feierlich ist, dünnhäutig und wie schwerelos, wird vom Theater nicht Gewalt angetan", findet Andreas Wilink in der Welt am Sonntag (13.5.2012). Mitchells Inszenierung und Installation rufe eine unangestrengt schlichte Stimmung auf, "sowohl in den fotografischen Impressionen schwarz-weißer Stillleben wie im bedächtigen, beklemmenden, traurig stillen Ablauf. Es ist, als würde man tatsächlich zusehen, wie die Zeit schwindet."

Es sei nicht leicht, Sebalds Textmediation, die ganz "von der monologischen Kraft und Virtuosität der Sebald'schen Sprache" lebe und darin "eine immense Sogwirkung" entwickele, auf die Bühne zu bringen, schreibt Alexander Haas in der TAZ (14.5.2012). Und so habe Katie Mitchells Inszenierung "immer wieder damit zu kämpfen, dass der unglaublich starke Text Sebalds einen Großteil des Zuschauerinteresses absorbiert" und "alles restliche Bühnengeschehen zur bloßen Illustration dieser tiefschürfenden Meditationen verkommt". Bei allen Abstrichen mag der Kritiker dem Abend seine Anerkennung aber nicht versagen: "Auch wenn der Abend aufgrund der übermächtigen Vorlage nicht an die viel fokussiertere und ausbalanciertere Kölner Mitchell-Inszenierung von Franz Xaver Kroetz' 'Wunschkonzert' heranreicht, so ist er trotzdem von großer Bannkraft. Das, was Mitchell vorführt, ist ebenso subtil wie perfekt getimet, choreografiert und ausgestattet."

Eine Erzählung in "exquisiter Prosa", die "viele Details" entfalte, ohne dass sie "überorchestriert wäre oder sich verlieren würde", habe Sebald geschaffen, schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (14.5.2012). Aber sie besitze in ihrer "Makellosigkeit etwas Lebloses"; sie wirke "wie eine Trockenblume: Man sieht sie voller Bewunderung an, sieht die zarte Schönheit, zu der die Welt in der Lage ist, und verfällt gleichzeitig in Traurigkeit, da die Blume an das verloschene Leben erinnert, in dem sie einmal blühte." Genau diesen "starren Schmerz, diesen gefrorenen Schock nimmt Katie Mitchell (...) mit ihrer Bühneninstallation perfekt auf". Es gelinge Mitchell, "Sebalds Roman zu intensivieren", indem sie "eine durch Strenge und Präzision gebändigte Phantasmagorie" schaffe. "Man kann auf diese Weise, was wohl einzigartig ist, die Traumata der Geschichte erleben. Man kann spüren, was die Weltgeschichte an unverarbeitbaren Grausamkeiten am Wegrand liegen lässt. Das ist nicht frei von Kitschgefahr. Hier ist es großes Erzähl- und Einfühlungstheater."

"Es ist kein leichter Abend, keine Unterhaltung und doch auch keine schwere Kost", schreibt Marion Troja für die Westdeutsche Zeitung (14.5.2012). Mitchells Vorgängerarbeiten in Köln seien "raffinierter" ("Die Wellen") und "erschütternder" ("Wunschkonzert") gewesen. Doch "besticht" Mitchells "Technik auch dieses Mal, die den Schauspielern ein perfektes Zusammenspiel abverlangt und dem Zuschauer ein ungewohntes Texterleben ermöglicht".

Kongenial findet Vasco Boenisch für die Süddeutsche Zeitung (15.5.2012), wie Katie Mitchel Sebalds Erinnerungsarbeit auf vier Wahrnehmungsebenen verschränke. Das alles wirke unmittelbar und gleichzeitig entrückt. "'Je mehr die Entfernung wächst, desto klarer wird die Sicht', schreibt Sebald - und beschreibt damit auch Katie Mitchell trefflich. Sie rekonstruiert: Sprache, Geräusche, Bilder. So sehen wir die Verfertigung von Erinnerungen beim Wahrnehmen; das Vorbei schon im Moment des Jetzt. Das ist im wahrsten Wortsinn voller Wehmut, aber frei von Larmoyanz. Gerade das nüchterne Konstatieren macht Sebalds Buch so grundsätzlich und Mitchells Theater so unausweichlich."

"Was Sebald hinter dem Sichtbaren entdeckt, Spuren des Verfalls und Weltkriegswunden, sperrt sich gegen die szenische Nacherzählung und Illustration", schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.5.2012). "Doch mit ihrer Theatersprache, die sich, prägnant und raffiniert, zwischen Sprech-Konzert, Live-Hörspiel und filmischer Installation bewegt, bringt Katie Mitchell den kunstvoll mäandernden Text in einen dunklen, geheimnisvoll irrlichternden Erzählstrom." Mitchells Theaterfassung werde nicht dem Prosawerk, wohl aber dem Autor und seiner Ästhetik gerecht, "indem sie seinen von eigenen Fotos durchsprengten Text in ein faszinierendes Nebenbeinander der Perspektiven, Maßstabssprünge und Ausschnittwechsel steigert."

Kommentare  
Ringe des Saturn, Köln: redundante Bebilderung
Ein ennuyantes Hörspiel statt anregendem Schauspiel
Frau Netzens letztem Satz ist voll zuzustimmen, so könne man Sebald nicht auf die Bühne bringen und vielleicht kann - und sollte - man es überhaupt nicht. Was von ihm Köln zu hören war, zeigt nur, dass er sprachlich überschätzt wird. Banales verschüttet Gedankenvolles. Der Rezensentin ist zu widersprechen, wenn sie behauptet, Katie Mitchell hätte ihre bereits bewährte Form gewählt. Das hat sie eben nicht, sonst wäre - vielleicht - der fast dreistündige Abend nicht so missraten, öde und quälend langweilig geworden. Während sie in ihren früheren Kölner Inszenierungen, wie "Die Wellen" und noch besser in "Wunschkonzert", Fragmente der auf der Bühnen-Werkstatt agierenden Schauspieler komponierte und auf die Leinwand projizierte, bebildert und illustriert sie jetzt fast ausschließlich den monoton vorgetragenen Text mit alten Fotos und Filmschnitzeln aus dem Archiv, oft redundant und unpassend, und zwar noch auf eine vom Text ablenkende Weise. Den Schauspielern und ihren Assistenten bleibt nur ein paar Mal unverständliches Strammstehen und vor allem das Machen der Geräusche, dem drei Stunden lang beizuwohnen, zur Qual wird. Eine solche Produktion sollte man der Hörspielabteilung einer Rundfunkanstalt überlassen. Der matte Beifall - in der 2. Aufführung - des Publikums war darum nur ein Höflichkeitsgeste an das sich abrackernde Team
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