altDie Ritter der Videokunst

von Charles Linsmayer

Basel, 13. Mai 2012. Obwohl er sich aus enttäuschter Liebe von einem Felsen ins Meer gestürzt hat, ist Ariodante lebend ans Ufer gespült worden und singt nun sein todessüchtiges "Numi! Lasciarmi vivere", "Götter, warum zwingt ihr mich zu leben!" Franziska Gottwald, die den Ariodante spielt, ist dabei während des Gesangs zugleich in hundertfacher Vergrößerung zu sehen, wie sie am Ufer im Sand liegt und wie sich ihre blutunterlaufenen Augen langsam öffnen.

Auf Wunsch des scheidenden Opernchefs Dietmar Schwarz – er wechselt an die Deutsche Oper Berlin über – hat Stefan Pucher am Theater Basel erstmals eine Oper inszeniert. Die Wahl fiel auf Händels "Ariodante" aus dem Jahre 1735, eine seiner großen Zauberopern, die sich in jüngster Zeit wieder großer Beliebtheit erfreuen. Nach der fast vierstündigen Premiere feierte das Publikum enthusiastisch eine Aufführung, die unter dem Dirigenten Andrea Marcon und unter Mitwirkung des auf alten Originalinstrumenten spielenden La Cetra Barockorchesters musikalisch höchsten Ansprüchen genügte und in Sachen Präsentation, optische Animation und Bebilderung auf einfallsreiche Weise neue originelle Wege ging.

Neobarocke Bildpracht

Die barocke Oper ist legendär für ihre Kostüme und Bühnenbilder, und Pucher steht dem in Zusammenarbeit mit der Kostümbildnerin Annabelle Witt, der Bühnenbildnerin Barbara Ehnes und dem Videotechniker Chris Kondek nicht nach. Die fantasievollen Kostüme spielen alle irgendwie mit dem Schottischen des Handlungsorts. Eine Fülle von Bildern, die auf eine die ganze Bühnenbreite einnehmende Wand und auf die variablen Flächen einer Drehbühne projiziert werden, öffnet immer wieder neue Handlungsräume.

ariodante006 560 tanja dorendorf uBilderzauberer Stefan Pucher erobert die Baseler Oper © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Es sind Bilder der Protagonisten, die da zu sehen sind, aber auch die barocken Stillleben des Malers Otto Marseus van Schrieck mit ihren seltsamen Tieren und Kröten, es sind barocke Liebespaare, kämpfende Ritter, Totenköpfe oder ein vom Wind bewegter Frühlingswald. So viele und ständig wechselnde Bilder scheinen in dem überdimensionalen Panoptikum auf, dass es manchmal richtig schwierig ist, den Sängerinnen und Sängern die nötige Aufmerksamkeit zu widmen.

Liebeswirren am schottischen Hof

"Ariodante" handelt in Anlehnung an eine Episode aus Ariosts "Orlando furioso" von einem jungen Adligen, der in Ginevra, die Tochter des schottischen Königs Arthur verliebt ist. Ginevra erwidert diese Liebe, nicht aber jene des Herzogs Polinesso, der sich dafür rächt, indem er Ariodante mit Hilfe der Hofdame Dalinda glauben macht, Ginevra betrüge ihn.

Ariodante stürzt sich vom Felsen, Ginevra soll als Ehebrecherin sterben, wenn der Zweikampf zwischen Polinesso und Ariodantes Bruder Lurcanio nicht im Sinne eines Gottesurteils ihre Unschuld beweist. Polinesso fällt und gesteht sterbend seine Intrige, Ariodante kehrt wohlbehalten zurück und erhält Ginevra zur Frau, während Dalinda Lurcanio zum Gemahl nimmt. So schematisch und unglaubwürdig die Geschichte anmutet: sie stürzt fast alle Figuren irgendwann in mentale Exremsituationen, und genau die sind es, die Händel zu wunderbaren musikalischen Einfällen inspiriert haben.

ariodante010 280 tanja dorendorf uFranziska Gottwald als Ariodante
© Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Packende Arien

Die Basler Inszenierung geht voll auf diese Eigenart der Komposition ein und kann sich dabei auf eine hervorragende Besetzung verlassen. So bringt etwa Maya Boog als Ginevra im ersten Akt die verträumte Verliebtheit des "Vezzi, lusinghe, e brio" und die entrüstete Abscheu des "Orrida a gl'occhi miei" mit ihrem glockenhellen Sopran ebenso überzeugend zum Ausdruck wie am Ende des zweiten Akts die abgrundtiefe Scham der zu Unrecht als Dirne Verdächtigten in der Arie "Il mio crudel martoro".

Auch die andern Figuren haben ihre sängerischen Höhepunkte: Agata Wilewska als Dalinda mit der Rachearie "Neghittosi, or voi che fate?" im dritten Akt; Christiane Bassek als Polinesso in einer ganzen Reihe von Szenen, die das Schurkische dieses Intriganten auf packende Weise fassbar machen; Luca Titotto als König in der rührenden Szene im dritten Akt, als er seiner vermeintlich verbrecherischen Tochter gegenüber hin und her gerissen wird zwischen "giustizia" und "amor"; Nikolay Borchev als Lurciano im zweiten Akt, als er den König mit der dramatischen Arie "Il tuo sangue, ed il tuo zelo" zur Gerechtigkeit zwingen will.

Franziska Gottwald brilliert als Ariodante

Sie alle aber werden übertroffen von der Leistung Franziska Gottwalds als Ariodante – eine Leistung, die wohl einzig mit jener von Anne Sofie von Otter in den späten 1990er Jahren verglichen werden kann. Auch schauspielerisch von bewegender Präsenz, schafft Franziska Gottwald es scheinbar problemlos, die Wechselbäder der Gefühle nachvollziehbar zu machen, denen Ariodante ausgesetzt ist.

So bringen ihre mühelos perlenden Sechzehntel genau so gekonnt die jubelnde Freude der Arie "Con l'ali di costanza" im ersten Akt wie die quälende Eifersucht des "Scherza infida" im zweiten Akt oder die totale Irritation des "Cieca notte, infidi sgurdi" im dritten Akt zum Tragen. Der absolute gesangliche Höhepunkt aber ist im finalen Duett Ariodante/Ginevra, "Bramo aver mille cori", erreicht: Momente einer gleichgestimmten und doch ganz leicht ungleich gefärbten Sopranseligkeit, wie sie einzig im Finale des "Rosenkavaliers" noch ein ebenbürtiges Pendant besäße.

Podeste für die schönsten Arien

Nicht unterschlagen werden darf, dass Andrea Marcon mit seinem Barockorchester den Solisten und dem Chor ein temperamentvoll musizierender Partner war: wunderbar transparent im Klang, einfühlsam und zurückhaltend in der Begleitung, schön akzentuiert in den orchestralen Zwischenspielen.

Die Regie aber, die das Musikalische da und dort choreographisch und körpersprachlich unterstützt und den Primat des Musikalischen über das Schauspielerische schon dadurch respektiert, dass sie den schönsten Arien demonstrativ Podeste zuweist, taucht all das in eine Bilderflut, die dem Auge Freude bereitet und den Abend allen barocken Stillleben zum Trotz als eine Aufführung des 21. Jahrhunderts erscheinen lässt.


Ariodante
Oper von Georg Friedrich Händel
Musikalische Leitung: Andrea Marcon, Regie: Stefan Pucher, Bühnenbild: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Video: Chris Kondek
Mit: Luca Titotto, Franziska Gottwald, Maya Boog, Nikolay Borchev, Christiane Bassek; Agata Wilewska, Noël Hernández

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Das alles ist klug inszeniert,", schreibt Christian Fluri in der Basellandschaftlichen Zeitung (15.5.2012), für den das Inszenierungsteam um Stefan Pucher die barocken Bildwelten des Barock überzeugend mit heutigen Kunstwelten zu verbinden weiß. Pucher nähme, so Fluri, die exzessiven Gefühlsäußerungen zwischen Liebesjubel und Seelenschmerz ernst, und schaue "mit epischen Mitteln zugleich hinter diese Gefühle". Die starken, erzählenden Bilder Puchers, Ehnes und Kondeks sowie die musikalische Interpretation durch den Dirigenten Andrea Marcons fügen sich aus Sicht dieses Kritikers "zum grandiosen Theaterabend, der barock und aktuell in einem ist."

"Händels Ritteroper von 1735 und die Popmoderne von heute?" fragt Siegbert Kopp im Konstanzer Südkurier (15.5.2012), um jubeld fortzufahen: "Ja, das geht zusammen, sehr gut sogar. Barock wie Pop feiern das Ornamentale, die Oberfläche, sie lieben den Wechsel emotionsstarker Momente mehr als die lineare Erzählung. Pucher verfällt nicht in die schrille Nummernrevue. Er geht von Bild zu Bild in die Tiefe." Und in dem Maße, wie sich die Aufführung im Verlauf des Abends stetig verdunkele, gewinne sie an Würde und Ernst. Am Ende kippe die Pracht des Barocks. "Statt Ritter, Tod und Teufel, haben jetzt Schlumpfpaare mit Kleinkindern das Sagen und Singen. Die Gegenwart hat uns wieder, jubelnder Applaus im Großen Haus."

Aus Sicht von Georg Rudiger von der Badischen Zeitung (15.5. 2012) setzt Stefan Pucher bei seinem Debüt als Opernregisseur ein ästhetisches Bildertheater in Gang, "das verstärkt und gelegentlich auch fokussiert, häufig aber auch bewusst verunklart und insgesamt ein wenig zu selbstverliebt wirkt." Rätselhaft bleibt für den Kritiker auch die komplexe Drehbühne von Barbara Ehnes. Die ausgeschnittene Fläche in der Bühnenwand erinnert ihn an einen mittelalterlichen Flügelaltar. Doch in den surrealistisch-abstrakten Räumen der Bühne wirken die seelisch Verwundeten ein wenig verloren auf Rudiger. Auch die Bilderflut ist für seinen Geschmack zu wenig kanalisiert. "Dramatische Funken werden nur selten geschlagen, auch wenn Videokünstler Chris Kondek eindringliche Passagen gelingen."

Sehr angemessen findet Martina Wohlthat von der Neuen Zürcher Zeitung (15.5.2012) die szenische Umsetzung Puchers. Pucher verzichte auf übertriebenen Aktionismus, setze stattdessen auf eine klare Körpersprache, was aus Sicht der NZZ "vor allem bei den Gegenspielern Ariodante und Polinesso hervorragend gelingt." Pucher zeige, "welche Veränderungen die Figuren durch das, was ihnen zustösst, durchmachen. Das Ende bleibt konsequenterweise offen." Bühnenbildnerin Barbara Ehnes bringe riesige gepanzerte Insekten und eine Nacktschnecke auf die Bühne: "wie in Bildern des holländischen Stilllebenmalers Otto Marseus van Schrieck, die auf die Wände appliziert sind, wird alles, was da kreucht und fleucht, zu Metaphern der Vergänglichkeit."

In seiner Doppelkritik zu "Ariodante" in Basel und "Wozzek" in Stuttgart wird Reinhard Brembeck in der Süddeutschen Zeitung (16.5.2012) allgemeiner: "Weder Moses noch Pucher machen Regietheater in der altbekannt überlebten Form. Sie interpretieren auch nicht in dem Sinne, dass sie mutmaßlich in der Partitur verborgene Impulse herausstellen. Sie erzählen vielmehr plan und schnörkellos die jeweilige Eifersuchtsgeschichte." Diese "neue Schlichtheit" sei weit verbreitet, "auch Andreas Kriegenburg pflegt sie in seinem Münchner 'Ring'", sie wirke im Moment ungeheuer befreiend und frisch – endlich verlagere sich das Interesse wieder auf die Musik.

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