altKrieg im Miniaturformat

von Annette Hoffmann

Freiburg, 17. Mai 2012. Wolokolamsker Chaussee: 2000 Kilometer nach Berlin, 120 Kilometer nach Moskau, aber wie weit ist es eigentlich nach Hollywood? Klaus Gehre hat die Distanz nun in seiner Live-Film-Performance "Wolokolamsker Chaussee +/- Terminator" in gut 70 Minuten im Theater Freiburg ausgemessen. Doch warum das Ganze? 1984 ist schuld. Da schrieb Heiner Müller nicht nur die "Russische Eröffnung" seines fünfteiligen Werkes "Wolokolamsker Chaussee", da kam auch James Camerons Film "Terminator" in die Kinos. Es ist auch das Geburtsjahr von dessen Filmfigur Sarah Connor, und dann ist da natürlich noch George Orwells Roman, der Denkhorizont für all das war, was in dieser Hochphase des Kalten Krieges passierte.

wolokolamsker1 280 matthias kolodziej uUnter den Augen des Terminators: Nicole Reitzenstein © Matthias KolodziejWie gut, dass einem das einer mal erklärt. Der Filmtherapeut (Victor Calero) lehnt lässig an der Wand in der Kammerbühne, neben ihm beginnen die Stufen, auf denen die Zuschauer sitzen. Die Stimmlage gehört zu jemandem, der gerne und oft redet, die Hände gestikulieren lebhaft, der Zeigefinger legt sich immer wieder an die Lippen. Die Patientin (Sophie Reitzenstein), so erläutert er, identifiziere sich einerseits mit Sarah Connor, der kommenden Mutter des Menschheitsretters. Und andererseits mit dem russischen Kommandeur aus Heiner Müllers Stück, der einen jungen Deserteur opfert, um aus verängstigten Soldaten ein Bataillon zu formen. Die Angst wird ihn dann nicht mehr verlassen.

Aus der "humorfreien Zone" befreit

Da werden die Olympischen Spiele, Cyborgs und die Koinzidenz gestreift, dass nicht wenige Männer fortgeschrittenen Alters in Deutschland 1984 die Wolokolamsker Chaussee kannten, aber niemand Müllers Stück las, das nach der Straße benannt war, auf der die deutsche Wehrmacht gen Moskau marschierte. Und natürlich redet da ein Schauspieler herablassend-listig den Kopf des Regisseurs aus der Schlinge. Schließlich hat Klaus Gehre all das zusammengeführt. Zwingend ist es nicht – mitunter jedoch höherer Unsinn.

Bis dahin war Gehres Inszenierung eine dichte Suggestion von Gewalt, Caleros Vortrag schafft Distanz, durchbricht das Pathos und schleust Humor in Müllers "humorfreie Zone" ein. Depressionen, Angstzustände und Halluzinationen konstatieren die Ärzte an der jungen Frau, ihre Silhouetten legen sich in Purpur und Grün über das Klinikbett, in dem die Patientin in Männerunterwäsche schläft. Hinter der Gaze befindet sich ihre Vergangenheit oder ihre andauernde Gegenwart.

Low-Tech-Bilder-Werkstatt

Matthias Walter, Steffen Happel und Victor Calero, alle in feldgrauen Overalls, drehen in dieser Low-Tech-Bilder-Werkstatt eine Walze, so dass vor ihnen auf der Gaze unzählige Bäume groß und rasend schnell vorbeiziehen, sie lassen eine Scheibe mit Stacheldraht und Ortsschildern rotieren, so als ob der Krieg keinen Anfang und kein Ende hätte, sie halten die Kamera auf ihre jungen Gesichter (Bühne: Marta Ormian, Klaus Gehre; Kostüme: Marta Ormian).

wolokolamsker2 560 matthias kolodziej uVor dem Chor der Ärzte: Nicole Reitzenstein als Patientin sieht sich als Anti-Cyborgkriegerin Sarah Connor und als Offizier auf der Wolokolamsker Chaussee. © Matthias Kolodziej

Was sowohl auf den Darstellern vor und hinter der Gaze aufscheint, sieht nicht nach Krieg im Miniaturformat aus – selbst wenn man das Entstehen der Bilder gleichzeitig mitverfolgen kann. Maßstäbe geraten durcheinander, der Atem geht hastig, der Wind pfeift. Einmal fällt Schnee wie aus der Puderzuckerdose auf die Stiefel einer kleinen Puppe. Panikattacken werfen die Frau in ihrem Bett hin und her. Es ist kein Stahlgewitter, aus dem man irgendwie geläutert hervorgehen könnte, der Krieg hat ein ausgesprochen vulgäres Antlitz. Gehre findet für ihn Bilder, die so gar nichts von Hollywood haben, aber nicht minder effektvoll sind.

Und dann Schnitt: Arnie. Der Terminator, der ein Beziehungsgespräch in einer Telefonzelle brutal beendet, der ein Waffengeschäft ausraubt, eine Barbiepuppen-Sarah-Connor nach der anderen umbringt, bis auf die richtige. Und diese ist dann aus Fleisch und Blut, geradlinig durchsetzungsfähig. Gehre hat sich in seiner Inszenierung "Wolokolamsker Chaussee +/- Terminator" entschieden, auf dem Weg von der Apokalypse zur Erlösung den Humor als Abkürzung zu nehmen. Man folgt ihm dabei gerne.

 

Wolokolamsker Chaussee +/- Terminator
Live-Film-Performance von Klaus Gehre
Regie: Klaus Gehre, Bühne: Marta Ormian und Klaus Gehre, Kostüme: Marta Ormian, Musik und Geräusche: Michael Lohmann, Dramaturgie: Ruth Feindel.
Mit: Victor Calero, Steffen Happel, Matthias Walter, Nicole Reitzenstein.

www.theater.freiburg.de

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