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Zurück in die Zukunft

von Charles Linsmayer

Zürich, 2. Juni 2012. "Ausartung" heißt das Motto im letzten Monat der Interimsleitung von Catja Loepfe und Gunda Zeeb im Zürcher Theaterhaus Gessnerallee. Konkret meint das, dass die Kunst neue Wege gehen und über die Stränge schlagen solle. Erstes Beispiel ist die Produktion "Urwald" der eng mit dem Haus liierten Gruppe Far a Day Cage, die später auch in Frankfurt und Wien zu sehen sein wird.

Der Titel nimmt zunächst einmal Bezug auf das größte in Europa noch existierende, 600 Hektar große Urwaldgebiet Bödmeren im Muotatal auf 1600 Meter Meereshöhe oberhalb des Schweizer Kantonshauptorts Schwyz. Da haben sich Tomas Schweigen und seine Truppe im Frühling dieses Jahres in einer einsamen Alphütte mitten im Schnee aufgehalten und die Videoprojektionen aufgenommen, die nun eine maßgebliche Rolle spielen.
Eine abbildgetreue Kopie dieser Alphütte steht vor dem Zürcher Theaterhaus Gessnerallee und ist für die Aufführung Kulisse und Spielort in einem.

Science-Fiction-Parodie mit Menschenklonen

"Urwald" ist eine Art Science-Fiction-Parodie, die ein verstärktes Umweltbewusstsein vermitteln und den sorglosen Umgang mit den letzten noch verfügbaren natürlichen Ressourcen als wahnwitzig entlarven will, indem sie einen demnächst eintretenden großen GAU supponiert, dem die Spezies Mensch unwiderruflich zum Opfer fällt. Ein Zeitalter später nähert man sich dem Jahr 2012 archäologisch an und lässt auf der Basis von – allerdings nur rudimentären – Funden sogenannte Transformer, eine Art Menschenklon, der staunenden Mitwelt vorführen, wie die damaligen Menschen, also wir, gelebt haben sollen.

Im ersten Teil des Abends sitzt das Publikum in zwei Reihen mit Kopfhörern vor der besagten Berghütte und blickt vor dem Hintergrund einer belebten Straßenkreuzung und einer unschönen städtischen Kulisse auf einen Platz mit ein paar einzelnen Parkbäumen hinaus. Hier führen die den heutigen verblüffend ähnlichen Menschenklone allerlei damalige Tätigkeiten vor, geben Einblick in das Balzverhalten des Spätmenschen und verweisen auf Kuriositäten wie den immer nur von einer Person gefahrenen, von einem besonderen Kraftstoff angetriebenen Vierrädler oder das durch die Luft fliegende Aeromobil.

Ausflug in die Halluzination

Mit der Zeit aber tauchen immer mehr seltsame Wesen auf: ein Elch, eine Art Riesenhund, ein wandernder Baum, ein aufgeblähter brauner Dunlop-Riese mit Äffchen- oder Eichhörnchenkopf, lauter Figuren offenbar, die jener Spätzeit nach dem großen Gau zugehören und bei deren Konfrontation mit vorübergehenden Passanten es immer wieder zu witzigen Szenen kommt. Nachdem man sich an einem Mineralwasser der damaligen Zeit versuchen oder einen der Glimmstengel in den Mund nehmen durfte, die von den Spätmenschen geraucht worden sind, wird das Publikum zum zweiten Teil des Abends ins Innere der Holzbaracke gebeten.

Auch dieser zweite Teil führt nochmals in die Zeit der Spätmenschen zurück und lässt das Publikum an einer Expedition teilnehmen, die drei Männer und zwei Frauen in den Urwald oberhalb des Muotatals unternommen haben. Den fünf Berggängern, die sich auf Schweizer Dialekt, Hochdeutsch und Englisch miteinander unterhalten und auch immer wieder aus Büchern zum Thema Umwelt und Natur vorlesen, ist offenbar bis auf eine Flasche Birnenschnaps und ein Päckchen Chips – später tauchen noch zwei Flaschen Cola und eine Mango auf – schon längst der Proviant ausgegangen, was nicht nur zu einer gereizten, sich immer wieder in handfesten Konflikten entladenden Stimmung führt, sondern auch befremdliche Halluzinationen zur Folge hat. Jedenfalls könnte das eine Erklärung dafür sein, dass die fünf sich sukzessive in jene absurden Tierfiguren verwandeln, die man von ihren Auftritten im ersten Teil des Abends kennt.

Theater als moralische Anstalt

Die fünf seien im Urwald spurlos verschwunden, heißt es einmal, für das Publikum aber wandeln sie sich zu jodelnden tierischen Spukgestalten, die so schön im Chor zu singen vermögen, dass sie, als man endlich aus der überhitzten Hütte entlassen wird und draußen mit der anderen Hälfte Publikum zusammen das Ende des Abends erwartet, sich nochmals in Position werfen und wild und schön drauflosjodeln wird. Dabei geht irgendwie ganz vergessen, dass beim Verlassen der Hütte das Wort Alarm auf die Fenster projiziert wurde und Sirenengeheul andeutete, dass nun wohl der große Gau eintritt, der die wiedererinnerte Jetztzeit von der aktuellen Spielzeit der Performance trennt.

Der erste Teil des Abends ist mit der Fiktion, man sitze in fernen Zeiten vor einer Rekonstruktion unserer Gegenwart, originell, erzeugt witzige zufällige Szenen und lässt nicht einen Augenblick eine schlüssigere Textgrundlage vermissen. Anders der zweite Teil, der phasenweise unbeholfen und improvisiert wirkt und der eindeutig attraktiver geworden wäre, wenn man einen erfahrenen Theaterautor um einen Text dazu angefragt hätte. Auch so aber bleibt der Eindruck von einer Produktion, die auf gekonnte Weise mit Videoprojektionen umgeht, mit aberwitzigen Kostümen auftrumpft und sich auf unterhaltsame Weise einer Thematik stellt, deren Wichtigkeit und Dringlichkeit nicht genug betont werden kann. Theater als moralische Anstalt, Theater als Ort für Visionen: beides wird von Far a Day Cage ins Spiel gebracht und ist auch dann wichtig und bedeutsam, wenn der Durchführung noch einige Mängel anhaften.

Urwald
von Far A Day Cage
Regie: Tomas Schweigen, Dramaturgie: Anja Dirks, Raum: Stephan Weber und Demian Wohler, Video: Stephan Weber, Kostüme: Anne Buffetrille, Musik: Martin Gantenbein.
Mit: Mit Philippe Graff, Vera von Gunten, Silvester von Hösslin, Jesse Inman, Mareike Sedl.

www.gessnerallee.ch

Kritikenrundschau

Anne Suter empfindet in der Neuen Zürcher Zeitung (4.6.2012) die Entstehungsgeschichte der "Urwald"-Performance von Far A Day Cage als "genauso spektakulär wie das Resultat". Als Zuschauerin nehme man in der inszenierten Anordnung der Truppe "die gewohnte Umgebung tatsächlich mit einem komplett neuen Blick wahr, und das ist umwerfend komisch! Die (bald deutschen, bald englischen) Kommentare, die vom Tonfall her an die Safety-Instructions im Flugzeug erinnern, sind zunächst allgemein gehalten – 'This is a typical street scene from the year 2012' – und werden mit der Zeit immer spezifischer." Letztlich sei die ganze Performance "unvergesslich".

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