Liliom - Julia Hölscher zeigt in Dresden Empathie für den Loser vom Rummelplatz
Unentschieden
von Matthias Schmidt
Dresden, 8. Juni 2012. Er wird bejubelt, aber er sieht geschafft aus. Und traurig, irgendwie. Reichlich anderthalb Stunden hat Liliom sein Bestes gegeben - gereicht hat es nicht. Der Rummel-Ausrufer schafft es einfach nicht, ein guter Mensch zu sein. Er schlägt seine Freundin Julie, verschreckt und vertreibt die, die ihn lieben oder ihm helfen wollen, lässt sich zu einem Überfall überreden, obwohl er sich innerlich dagegen sträubt. Er bringt sich schließlich um und landet im Fegefeuer. Als er nach 16 Jahren Schmorens darin per Wunder die Gelegenheit erhält, für einen Tag auf die Erde zurückzukehren, um eine gute Tat zu vollbringen, ohrfeigt er seine Tochter und vergeigt damit auch diese letzte Chance.
Torsten Ranft ist ein großartiger Liliom, seine Attitüde wohl dosiert: Er post auf dicke Hose, um stärker zu wirken als er ist. Er lässt das Publikum lachen über seine rauen Rummelscherze und es in seinen lichten Momenten spüren, dass er sich für seine Schwächen hasst. Weicher Kern, sympathisch verpackt in harte Schale. Ranft lehnt sich regelrecht auf gegen diese Figur und schaut beim Schlussapplaus so traurig und ernst, dass man hätte denken können, er habe wirklich geglaubt, Lilioms Scheitern verhindern zu können.
Empathie contra Dünkel
Darin liegt die größte Stärke von Julia Hölschers Dresdner Inszenierung: dass sie uns Empathie für diesen Liliom empfinden lässt. Für ihn und seine Julie. In einer Intensität, die für Menschen mit Helfersyndrom gefährlich werden könnte.
Das ist der feine aber entscheidende Unterschied zum Nachmittagsschrott aus dem RTL-Universum, denn ohne Zweifel könnte man Liliom und Julie dort ansiedeln, bei den Leuten, die man vor sich selbst beschützen müsste, aber es letztlich nicht will, weil sie wie Strandgut wirken und maximal für Fremdschäm-Attacken sorgen. Obwohl uns die Kostüme glauben machen, wir seien mittendrin im Unterschichtenpanoptikum, ist das, was rund um den Holzcontainer auf der ansonsten leeren Bühne geschieht, durchaus berührend. Julia Hölscher schafft es, unsere dünkelgetränkten Reflexe abzuschalten.
Dennoch könnte man auch sagen, hey!, diese Inszenierung ist doch nur Theater. Ein Theater zwar, dass eine der wirklich schönen Theater-Geschichten schön erzählt, was nicht wenig ist. Aber viel eben auch nicht. Man hat es schnell verstanden, dass dessen Held ein Loser ist und bleiben wird, dass er Julie mit ins Unglück reißen wird und dass die anderen Männer und Frauen als Abziehbilder angelegt sind: der Marie-Freund Wolf (spießig komisch), die zwei Wachleute (dümmlich komisch), der Gangster Ficsur (böse komisch), Julies Verehrer Drechsler (schüchtern komisch). Frau Muskat ist Liliom hörig (unfreiwillig komisch) und Julies Freundin Marie geschickt genug, sich rechtzeitig einen zahlungsfähigen Mann zu angeln (blondinenkomisch).
Nur ein Spiel
Draußen, vor dem Kleinen Haus, beim Public Viewing mit Bier und Bratwurst, war zeitgleich zu erleben, wie die Griechen den Polen ein Unentschieden abtrotzten. Auch das war nur ein Spiel, klar, aber angesichts zweier Platzverweise und eines verschossenen Elfmeters offenbar ein sehr spannendes. Was man von "Liliom" leider nicht durchgehend sagen kann. Es fehlt, was Relevanz genannt werden könnte. Es fehlt etwas, das sinnstiftend interpretiert. Etwas, das wirklich originär und fesselnd ist. Ersteres hatte auch Michael Thalheimer vor 12 Jahren in Hamburg nicht gefunden, als er das Stück von seinem kitschigen Jahrmarktsballast befreite. Er überzeugte mit formalem Furor und strenger Form. Das war wie eine Tüte Chips: es schmeckte nach mehr. In Dresden bleibt es nur ein Spiel, dessen Ende nach 100 Minuten man widerspruchslos akzeptiert.
So gesehen war es ganz Molnár, der den Text nicht anders wollte, ohne tiefere Bedeutung, wie er selbst schrieb. So gesehen kann es allerdings sein, dass das 100 Jahre alte Stück eine "Übersetzung" bräuchte, um nicht doch wieder im Fach "Gefälligkeits-Naturalismus" zu landen. Die Poesie der Rummelplatz-Ungehobeltheit, sie scheint verloren. Das mit ein paar Regie-Einfällen zu kaschieren – in Dresden etwa mit der gefälligen aber durchaus originellen Live-Musik von Tobias Vethake, einer seltsamen, Bewegungstheater sein wollenden Prolog-Choreografie oder einem sich nicht erschließenden Herren-Striptease – wirkt am Ende etwas halbherzig. Sagen wir – unentschieden.
Liliom
von Ferenc Molnár. Für die deutsche Bühne bearbeitet von Alfred Polgar
Regie: Julia Hölscher, Bühne: Esther Bialas, Kostüm: Ulli Smid, Musik: Tobias Vethake, Licht: Björn Berum, Dramaturgie: Ole Georg Graf, Martin Hammer.
Mit: Torsten Ranft, Cathleen Baumann, Cornelia Kempers, Annika Schilling, Benjamin Pauquet, Benjamin Höppner, Lea Ruckpaul, Tobias Vethake, Ahmad Mesgarha, Christian Clauß.
www.staatsschauspiel-dresden.de
Von einer "überaus treffenden Inszenierung" berichtet Michael Bartsch in den Dresdner Neuesten Nachrichten (11.6.2012). Regisseurin Julia Hölscher verzichtet auf Illustrationen und setze "ganz auf die Charaktere, auf Typen, die aber nicht als Stereotype erscheinen". Sie "macht denn auch überhaupt kein empathieheischendes Sozialdrama aus dem Stoff, sondern erinnert an die in uns allen schlummernden archaischen Verhaltensmuster". Dabei sei Torsten Ranft in der Titelpartie ein "Vieh einerseits, doch auch von brutalem Charme, lieb und roh, ein Künstler in seiner Grobheit".
Ähnlich beobachtet Johanna Lemke für die Sächsische Zeitung (11.6.2012) diesen Abend; doch wertet sie ihn ganz anders: Julia Hölscher "gibt sich alle Mühe, die Figuren des Stücks menschlich nachvollziehbar zu machen. Doch weil sie nicht viel mehr tut als das, ist das auch das Unglück dieses Abends." Torsten Ranft spiele Liliom als "aggressiven Haudrauf, doch er lässt immer wieder das Menschliche durchscheinen." Dieses "permanente Sowohl-als-auch lässt den Zuschauer einigermaßen hilflos zurück". Kernpunkt der Kritik: "In welchem Spannungsfeld das Individuum zum gesellschaftlichen Kontext steht, da macht Julia Hölscher kein Fragezeichen auf." Stattdessen biete sie "allerlei Regie-Hilflosigkeiten" an diesem Abend, der "nicht weh tut" und "nicht zum Selberdenken anregt".
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Danke auch einem widerspenstigen und geduldigen Ensemble für diese mutige Arbeit.