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Die Fragen der Stunde

von Leopold Lippert

Wien, 9. Juni 2012. "Vielleicht sind Sie ja informiert", erklärt gleich zu Beginn der griechische Arbeitsökonom Pavlos Laoutaris, der sich im normalen Leben mit EU-Richtlinien herumschlagen muss, "nächsten Sonntag haben wir Wahlen." Der Zeitpunkt für die Aktualisierung von "Prometheus in Athen" könnte nicht besser sein. Für die Wiener Festwochen stellt Rimini Protokoll ein zwei Jahre altes Theaterprojekt kurz vor den umstrittenen Neuwahlen in Griechenland erneut zur spannenden Diskussion.

prometheus 280h arminbardeluHilft Solidarität gegen Krise?  © Armin BardelGriechen auf Entzug

Im Sommer 2010 am Fuße der Akropolis uraufgeführt, ist das Konzept von "Prometheus in Athen" bestechend simpel: 103 Athener, nach Alter, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit repräsentativ ausgewählt, kommen ans Theater und beziehen Position. Die Bühne ist in zwei Hälften eingeteilt: "Ich" steht auf der einen Seite, "Ich nicht" auf der anderen. Dann folgen unzählige Fragen, teils aus der Aischylos-Tragödie "Der gefesselte Prometheus" hergeleitet, teils aus der Alltagswelt der Protagonisten, teils spontan aus dem Publikum gestellt. "Wer glaubt, dass er sich verändert, wenn er Macht bekommt?", heißt es da etwa. Es geht um Solidarität und Herrschaft, Staat und Familie, Finanzkrisen und Hilfspakete. Oft sind es auch nur ganz banale, alltägliche Fragen: "Wer schließt im Kino die Augen, wenn etwas Schockierendes passiert?"

Zwei Jahre später stehen fünf Mitwirkende der ursprünglichen Produktion und die in Wien lebende griechische Schauspielerin Eri Bakali auf der Bühne des Wiener Volkstheaters und sehen sich – gemeinsam mit dem Publikum – eine Videoaufzeichnung des Athener Projekts an. Die Psychologin und Suchtexpertin Marianna Dragasaki etwa, die meint, die Griechen sollten endlich mal auf Entzug gehen. Oder die Kommunikationsexpertin Jonida Kapetani, die inzwischen nach London ausgewandert ist, wo sie jetzt in einem Pub arbeitet. Und der Regisseur Prodromos Tsinikoris, der sich wundert, dass er seit der so genannten "Griechenland-Krise" mehr Angebote bekommt als früher.

Sie sprechen Deutsch oder Englisch, spielen die Fragen von einst nochmals durch, kommentieren das Videomaterial und positionieren sich erneut. Im kleinen Rahmen kommen die Meinungsverschiedenheiten stärker zum Tragen als bei der Hundertschaft auf der Leinwand. Die Debatte wird so spürbarer, realer. "Sie sind naiv!", ruft da jemand aus der "Ich nicht"-Hälfte auf die andere Seite. "Komm schon zu uns rüber", tönt es ein andermal. Auch das Publikum ist Teil der Aktualisierung und darf Fragen stellen: "Wer glaubt, dass die Demokratie in Gefahr ist?", will ein Herr aus dem Parkett etwa wissen.

Theater als offenes Forum

Die Idee mit der Live-Interaktion ist nicht neu: Das Meta-Theater mit einer kleinen Auswahl an Protagonisten vor anderem, ausländischem Publikum stand schon zwei Wochen nach der griechischen Uraufführung bei Ruhr 2010 in Essen auf dem Programm (nachtkritik.de berichtete). Was die Neuauflage für die Wiener Festwochen spannend macht, ist die längere Zeitspanne, die zwischen dem Original und der Aktualisierung liegt: Nach zwei Jahren ist der Erfolg der EU-Finanzhilfen zweifelhaft, die parteipolitische Landschaft in Griechenland hat sich drastisch verändert, und bis vor kurzem Undenkbares wie die Rückkehr zur Drachme ist plötzlich realistische Möglichkeit. "Vor zwei Jahren bin ich noch auf der anderen Seite gestanden", ist ein Satz, der oft fällt.

prometheus 560 arminbardel uNachdenken über die Ursprünge des Theaters und der Demokratie  © Armin Bardel

Trotz aller Tagesaktualität ist "Prometheus in Athen" mehr als reine performative Krisengewinnlerei. Hier steht nicht nur die Euro-Krise zur Debatte, sondern die Kultursoziologie einer Stadt, das europäische Projekt, die Demokratie und die Ursprünge des abendländischen Theaters. Helgard Haug und Daniel Wetzel vom Rimini Protokoll machen den Mythos zum Ausgangspunkt für grundlegende gesellschaftliche und ethische Fragen, ohne in plumpe Didaktik zu verfallen. Zu großen Teilen geben sie die Kontrolle über den Abend aus der Hand, an ihre Protagonisten, an das Publikum. Das ist auch der besondere Reiz des Projekts: Hier wird das Theater zum offenen Forum, das immer auch unsere eigene Positionierung verlangt. Hier stehen nicht nur die sechs Griechen als dokumentarische Anschauungsobjekte auf der Theaterbühne, sondern schlussendlich wir als Zuschauer, als Europäer, als Demokraten.


Prometheus in Athen
von Rimini Protokoll
Konzeption und Inszenierung: Helgard Haug, Daniel Wetzel; Bühne, Video, Licht: Tobias Klette
Mit: Giorgos Emmanouilidis, Marianna Dragasaki, Jonida Kapetani, Pavlos Laoutaris, Prodromos Tsinikoris, Agorita Bakali

www.festwochen.at

Kritikenrundschau

Andrea Heinz schreibt für den Standard (11.6.2012): Mit "ihrer ehrlichen Selbstbefragung, ihren Fehlern und Ängsten" zeigen die Akteure: "Sei es die griechische Götterwelt oder der moderne Staat, Olymp oder Finanzmarkt – hinter dem System sind immer Menschen." Die Kritikerin umreißt die mit "Prometheus in Athen" vor 2 Jahren beginnende Vorgeschichte dieser Inszenierung, die per Video präsentiert wird: "Nach und nach, als würden sie aus der Leinwand heraustreten, kommen einige der damaligen Teilnehmer auf die Bühne" und setzen das alte Spiel fort. "Anders als bei erzwungenem Mitmach-Theater wecken die Menschen auf der Bühne Lust, sich mitzuteilen, 'Ich' zu sagen – oder eben nicht."

"Man hätte gern mehr erfahren über das, was Griechen heute in den Mythen ihrer Vergangenheit sehen, ebenso über ihre Gegenwart", zeigt sich Barbara Petsch von der Presse (11.6.2012) enttäuscht. "Es ist eine große Chance, wenn man einmal die Gelegenheit hat, statt randalierender Menschen, karger Passanten-Wortspenden oder Experten Leute in mehr als Schnipseln reden zu lassen." Aber eben: Chance verpasst. Wenn es dennoch "kein verschenkter Abend" sei, dann weil einige Lebensgeschichten der Akteure die Kritikerin doch "streckenweise stark berührt" hätten. Freilich sei man bei Fragen der "Ursachenforschung" in bei den Erzählungen mit den "Medien vermutlich besser bedient als mit dem Theater". Fazit: "Insgesamt bleibt dieses sympathische Spektakel, bei dem man vorwiegend schöne Menschen und herzige Kinder sieht, bis auf wenige Passagen etwas flach und oberflächlich".

"Etwas bemüht" mutet dieses Projekt dem Kritiker der Frankfurter Rundschau (12.6.2012), Stephan Hilpold, an. "Griechenland als zutiefst gebeuteltes Land erscheint an diesem Abend seltsam vereint. Die Kräfte von außen haben das Land zusammenrücken lassen." Die "Solidaritätsbekundung", die diese Inszenierung in der Schilderung des Kritikers bezwecke, erfasse auch den "Zuschauerraum".

Kommentare  
Prometheus in Athen, Wien: McDonald's für Theater
Das ist ja wohl die Mcdonaldisierung des Theaters - die früher so spannenden Riminis verkaufen jetzt jede noch so kleine Idee an hunderte Theater und Festivals - auch die Gruppenaufstellung war in Wien vor zwei Jahren schon zu sehen - jetzt halt unter dem Deckmantel "Prometheus", nächstes Jahr dann vielleicht als Zustandsbeschreibung der Deutschen zu "Faust", man kann ewig so weitermachen.

Und die Festwochen bekommen eine schnell zusammengeschusterte Aufführung mit fünf eilig eingeflogenen Griechen, zusammen schaut man dann Video. Man hätte zwischendurch ja auch zur EM zappen können, das wäre spannender gewesen.

Und selbst die zumindest ein wenig interessante Grundkonstellation - hundert Menschen verkörpern eine Stadt - wird ad absurdum geführt, wenn auf der Bühne nur sechs verlorene Typen stehen, die blöde Fragen beantworten dürfen wie: "Sind die Griechen an Ihrer Regierung selber schuld" - Na wer denn nicht? Wo man im Original immerhin noch beobachten konnte, wie verschiedene Personen zu unterschiedlichen Themen stehen, sieht man jetzt ein paar symathischen Menschen beim Herumlaufen zu - ein nur ärgerlicher Abend im sonst so tollen Festwochen-Programm.

Hier interessiert sich niemand länger als 10 Sekunden für eine Situation oder einen Menschen, die - wie die mit Säure angegriffene Frau - nur als Requisiten zur emotionalen Erpressung der Zuschauer benutzt werden. Was mit ihr passiert ist? Was die Hintergründe sind? Egal - schaut her wie entstellt sie ist! Aber schnell weiter, wir müssen ja noch die Frage beantworten, wer im Kino gern die augen zumacht!

Kann es gar nicht fassen, wie denkfaul, spekulativ und billig das war ...
Prometheus in Athen, Wien: mit der EU geht die Demokratie verloren
War langwierig langweilig - und das trotz nur knapper 2 Std. Aufführung! (die 3stündigen "Bösen Buben" am Vortag waren mir da viel viel kurzweiliger). Dennoch: hat doch gezeigt, dass das Theater theoretisch eine Möglichkeit zum Dialog geben könnte. Zu einer Irritation hat die Aufführung gereicht: Die griechische Truppe stellte an das Publikum die Frage, ob dieses den glaube, dass das von der EU verordnete Sparprogramm sinnvoll für die Lösung des Wirtschaftsproblems sei? Und nur eine Handvoll des Wr. Publikums - immerhin ca. 700 Besucher - zeigte auf. Eine Gegenprobe wurde auch abgestimmt. Schon eigenartig: Keiner glaubt an das Sparprogramm für Griechenland - Und trotzdem wird es von der "EU-Regierung" durchgezogen. Mit der EU geht die Demokratie verloren. Die Hinweise verdichten sich.
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