alt

Der Gelehrte in Zeiten des Krieges

von Ute Grundmann

Magdeburg, 9. Juni 2012. Blutige Gestalten in langen, schwarzen Mänteln schreiten aufeinander zu und aneinander vorbei. Manche tragen altertümliche Waffen: eine Sichel, ein Schwert; oder sie ziehen Kugeln wie Morgensterne hinter sich her. Kein Wort fällt zwischen ihnen, Gewalt flammt kurz auf, es gibt neue Opfer, zwischen denen ein buchlesender Mann im Gelehrtengewand scheinbar ungerührt hindurchgeht. Das ist eine der zentralen und immer wieder variierten Szenen in Jo Fabians jüngster Regiearbeit am Theater Magdeburg. Sein "Guericke-Labyrinth" (ent)führt in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges.

Wenn das Publikum den Saal betritt, sieht es vor dem roten Vorhang schon eine Ur-Szene: Eine Frau in Nonnentracht schaukelt eine Wiege mit einem schreienden Kind. Hat es sich beruhigt, geht sie ein paar Schritte zu einer Nähmaschine und säumt ein weißes Tuch – eine Szene von Heim, Geborgenheit und neuem Leben, doch die Frau ist auf blutigen Füßen unterwegs. Dann öffnet sich der Vorhang, vor einer stahlblauen Rückwand ist ein Boden aus weißen Kacheln ausgebreitet, in der mittleren der zweiten Reihe klafft ein schwarzes Loch.

guericke2 280h nilz boehme uSchwerer Gang in schwerer Zeit © Nilz Böhme

Meditation über den Umsturz der Dinge

Dieses Loch, das Nichts, war eines der Themen des Otto von Guericke (1602–1686). Er ist einer der "Säulenheiligen" Magdeburgs. Die Universität, ein Museum, eine Straße (an der das Schauspielhaus liegt), eine Guericke-Meile sind nach ihm benannt. Er war Jurist, Ratsherr, Gesandter, Bürgermeister und, im Privatleben, auch Forscher und Gelehrter und gilt als Begründer der Experimentalphysik in Deutschland. Und Guericke erlebte die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, den Angriff auf Magdeburg schilderte er als "nichts als Morden, Brennen, Plündern, Peinigen, Prügeln."

Diese Gewalt und die Erforschung der Welt stellt Fabian neben- und zueinander, zeigt einen Krieg, der die bisherige Welt ebenso auf den Kopf stellt wie die Wissenschaft in ihrem "kopernikanischen Umbau". Dabei fällt auf der Bühne kaum ein Wort. Wie in einer Meditation bewegen sich die Gestalten: Eine Frau trägt einen Schemel auf dem Kopf, setzt ihn ab, kniet, betet, fleht. Zwei kleine Mönchskinder "reden" mit Gesten miteinander. Zu Kirchengesang dreht sich die Videofigur eines Gekreuzigten. Vor allem aber bevölkern immer mehr der blutigen Gestalten in langen Mänteln die Szene, sie können Opfer und Täter des Dreißigjährigen Krieges sein, aus einer griechischen Tragödie stammen oder auch, in diesem als Teil 1 einer "Magdeburger Trilogie" angekündigten Abend, an die Weltkriegsopfer der Stadt erinnern.

Faszinierend und verstörend

Jo Fabian entscheidet das nicht, er bietet es an. Ebenso die Informationen, Bruchstücke über den Namensgeber, erst in langen Textreihen auf der Videoleinwand, dann als Stimme aus dem Off, die aber auch den Satz "Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei" in die Ohren der Zuschauer träufelt. Zweimal nimmt Guericke, der sonst stumme, buchlesende Gelehrte, Gestalt an – ein Mann, dann eine Frau treten aus dem Reigen heraus an die Rampe, erzählen von Kindern und Sterblichkeit, von Experimenten mit Vögeln und Fischen. Wir hören, wie sich der Mann selbst als Kind in einer Rüstung sah.

Das mäandert knappe 90 Minuten in ruhigem Tempo über die Bühne, durch die Ohren, vor den Augen, fasziniert und verstört zugleich, weil in diesem Kriegs-Szenario selbst ein Kuss blutig endet. Und wenn am Ende all die Versehrten verschwinden und schwarz gekleidete Figuren mit kleinen Geweihen an der Stirn die Bühne entern, könnte das bedeuten, die Natur erobert sich die Welt zurück. Muss es aber nicht. Solche Antworten muss der Zuschauer (in sich) selbst finden.


Das Guericke-Labyrinth
Regie, Bühne, Kostüme, Video, Musikcollage: Jo Fabian, Dramaturgie: Heide Palmer.
Mit: Luise Audersch, Heide Kalisch, Michaela Winterstein, Jeremias Koschorz, Andreas Guglielmetti, Silvio Hildebrandt, Peter Wittig, Brian und Kevin Smith.

www.theater-magdeburg.de

 

Kritikenrundschau

Jo Fabians Inszenierungen seien "keine leichte Kost, keine Einbahnstraße von der Bühne in die Ränge", schreibt Rolf-Dietmar Schmidt für die Magdeburger Volksstimme (11.6.2012). "Sprache, Text, Tanz, Musik, Licht, Choreografie, Raum und Video – der Künstler setzt alle Stilmittel ein, sehr subtil, manchmal sogar sparsam". Fabian sei "kein Unterhaltungskünstler, sondern anstrengender Philosoph". An diesem Abend entfalte der Bühnenphilosoph das Konzept des Labyrinths, ein "Symbol der Renaissance", das "für beständige Bewegung" stehe. Da Labyrinthe auch "Mittel der Entschleunigung" seien, erfolgten viele Aktionen an diesem Abend "im Zeitlupentempo". So "zwingt" Fabian, in einer Zeit, "wo alles immer schneller, immer direkter abläuft", den Zuschauer "zur Auseinandersetzung". Fazit über diese Inszenierung mit ihren "eigenwilligen, fast monotonen Bildern": "Wer sich auf den Weg in das Theaterlabyrinth von Jo Fabian wagt, erhält eine Unzahl neuer Denkpunkte. Und wer Freude am Denken hat, sollte das nicht versäumen."

Kommentar schreiben