Liebe KommentatorInnen,

Juni 2012. Im Zusammenhang mit der aktuellen Spendenkampagne haben Sie uns gefragt: Hallo!, wofür steht nachtkritik.de eigentlich? Was wird auf nachtkritik.de warum rezensiert? Kritik an der Praxis von nachtkritik.de, hieß es weiter, werde von der Redaktion mehr oder weniger beleidigt abgebügelt, das Konzept sei undeutlich, es mangele allgemein an Transparenz.

Von Nikolaus Merck

Juni 2012. Wir haben schon häufig auf diese und ähnliche Fragen Antwort gegeben, haben versucht darzulegen, was wir mit dieser Webseite wollen. Häufig ist aber vielleicht nicht oft genug, weshalb ich hier noch einmal einige Grundzüge unserer Arbeit darlegen möchte – wie es auch jüngst Dirk Pilz zum fünften Geburtstag von nachtkritik.de unternommen hatte.

Was bespricht nachtkritik.de und warum?

Jeden Monat etwa 50 Schauspielproduktionen, meistens mehr, werden auf nachtkritik.de besprochen. Jeweils zwei RedakteurInnen von insgesamt zehn planen im Wechsel einen Monat, anschließend wird der Plan von der gesamten Redaktion diskutiert und beschlossen. redaktion estherslevogtRedaktionskonferenz: Konrad von Homeyer (Webchef) und Nikolaus Merck © Esther SlevogtWir müssen auswählen, natürlich, denn alle Premieren können wir weder aus redaktionellen noch aus finanziellen Gründen besprechen. Alles würde auch keiner lesen wollen. Außerdem muss auch online, obwohl anders als in einer Zeitung kein Platzmangel herrscht, die Aufmerksamkeit für den jeweiligen Text organisiert werden, um überhaupt auf etwas aufmerksam machen zu können. Insofern ist jeder Plan selektiv.

Wir versuchen alle wichtigen Produktionen in D, A und CH zu besetzen. Wichtig ist, was die LeserInnen bei uns suchen: also zuerst Thalheimer-Stein-Bondy-Stemann-Castorf-Pollesch-et-al-Produktionen. Außerdem versuchen wir, nach und nach und regelmäßig in jeden Winkel der drei Länder zu schauen.

Wichtige Off-Produktionen oder Musiktheater-Inszenierungen von Schauspiel-Regisseuren interessieren uns genauso wie gelegentliche Ausflüge ins Kinder- und Jugendtheater und zum zeitgenössischen Tanztheater. Aber weder Tanz, noch Musiktheater, noch Kinder- und Jugendtheater können wir flächendeckend in der von uns angestrebten Qualität beschreiben.

Wir würden in diesem Zusammenhang andauernd jammern über unsere mangelnden finanziellen Möglichkeiten, heißt es seitens der nachtkritik-Community. Dazu weiter unten.

Die Berichte über die Produktionen der "big names" fordern unsere LeserInnen von uns. Wir merken dies daran, wie oft solche Texte aufgerufen werden. Nämlich sehr oft. Kritiken aus Baden-Baden, Rendsburg, Moers oder Zittau, aber auch aus Karlsruhe, Oldenburg oder Rostock und Magdeburg werden dagegen weniger häufig gelesen. Wir halten diese Texte dennoch für unverzichtbar, weil sich das Theater in den drei deutschsprachigen Ländern genau genommen hauptsächlich in den Provinzen abspielt. Und wir haben es uns zum Ziel gesetzt

1. das Sprechtheater in seiner Breite sichtbar zu machen,
2. das Gespräch über das Theater anzukurbeln, weil es eine umfassende Kunst ist, die, wenn sie gelingt, aber auch wo sie misslingt, der Zeit einen Ausdruck verleiht,
3. dabei mitzuhelfen, das Theater als Institution und als Kunstform hierzulande (D, A und CH) zu erhalten und in breit angelegten Debatten weiterzuentwickeln.

Das sind drei Gründe, mehr ließen sich nennen.

Leserservice

Wir bieten neben den Nachtkritiken Kritikenrundschauen zu den von uns besprochenen Inszenierungen. Wir folgen dabei dem Kanon, den zuerst der Perlentaucher aufgerichtet hat. Die großen Zeitungen werden zitiert, wenn sie berichten, außerdem möglichst mindestens zwei regionale oder lokale Stimmen und die nationalen Rundfunksender.

redaktion 3 estherslevogtAt Work: Georg Kasch, Sophie Diesselhorst  © Esther SlevogtWir tun dies, um das Bild der jeweiligen Inszenierungen breiter auszumalen, um die jeweilige Nachtkritik mit anderen Stimmen zu konfrontieren – es gibt in der Kunstkritik keine abschließenden Wahrheiten, sondern nur ein möglichst genaues, möglichst an der Sache orientiertes Gespräch. Wir zitieren dabei vornehmlich die großen, seriösen Zeitungen, weil sie sich eine Fachkritik leisten, die oft, nicht immer und in jedem Fall, kompetent schaut. Das hat nichts mit den Namen der jeweiligen KritikerInnen zu tun, mit Absprachen oder Rücksichtnahmen, sondern mit Produktionsbedingungen: Die großen Zeitungen leisten sich noch Fachleute fürs Theater. Wer einmal systematisch die Regional- und Lokalpresse auf die Qualität ihrer Berichterstattung hin untersucht, wird wissen, wovon hier die Rede ist. Natürlich gibt es dessen ungeachtet Regionen, in denen auch die lokale Presse fachlich hochkompetent und unterhaltsam zudem schreibt.

Als zentrales Theater-Medium im Netz versuchen wir wichtige Entwicklungen, Ereignisse und Personalien in der Meldungen-Spalte kurz darzustellen.

Angesichts der Krise der Theaterfinanzen berichten wir außerdem kontinuierlich über die Entwicklungen auch in den Theaterprovinzen.

Warum gibt es so wenig Porträts, Debattentexte und zusammenfassende Darstellungen von politischen und ästhetischen Entwicklungen rund ums Theater?

Immer wieder hat nachtkritik.de entscheidenende Impulse gegeben für Debatten wie die um die Zukunft der Stadttheater oder die Blackfacing-Debatte.

redaktion4 esther slevogtBei der Redaktionskonferenz: Anne Peter © Esther SlevogtAber: Alle RedakteurInnen arbeiten außer für nachtkritik.de auch noch für andere Medien. Sie entwickeln Ausstellungen, schreiben Bücher, gehen Halbtagsjobs nach, ein Redakteur arbeitet fest bei einer Zeitung. Die große Mehrzahl lebt, wie bei freien Journalisten üblich, in prekären Verhältnissen.

Die RedakteurInnen bekommen pro Schicht (von 7 Uhr bis 14 Uhr / 14 Uhr bis 18.30 Uhr) etwa so viel Honorar bezahlt, wie sie für eine Theaterkritik in einem gut zahlenden Regionalmedium bekämen.

Die AutorInnen arbeiten alle frei für nachtkritik.de und bekommen für ihre nachts geschriebene Kritik soviel wie für eine Kritik in einem durchschnittlich zahlenden Regionalmedium. Zum Vergleich: Beiträge fürs Radio werden drei- bis viermal so hoch bezahlt.

Aus dieser Beschreibung wird bereits etwas klarer, warum die ganz großen Recherchen oder die profund erarbeiteten Texte über die großen Tendenzen auf nachtkritik.de bisher eher seltener zu lesen waren.

Wir haben uns deshalb for the time being auf unser Kerngeschäft – Nachtkritiken, Meldungen sowie Beiträge zu aktuellen Debatten – beschränkt. Wir machen Ausnahmen, aber diese Ausnahmen werden in absehbarer Zeit nicht zur Regel werden.

Finanzen

nachtkritik.de lebt wesentlich von Werbeeinnahmen, wobei der Versuch, die Werbekundschaft über die Anzeigen schaltenden Theater hinaus zu verbreitern, äußerst aufwendig ist und noch in den Anfängen steckt.
Für die akquirierte Werbung bezahlt nachtkritik.de Provision an die Werbeagentur und Steuern. Dazu kommen Sozialabgaben (wenig, aber immerhin), weil nachtkritik.de eine gemeinnützige GmbH ist (mit kommerziellem Bereich, nämlich den Werbeeinahmen), muss eine relativ aufwendige Steuererklärung erstellt werden. Der Steuerberater kostet Geld.
Der Chefredakteur und die Geschäftsführerin erhalten eine minimale Aufwandsentschädigung. Viele FotografInnen veröffentlichen ihre Bilder auf nachtkritik.de ohne Honorar, die übrigen werden bezahlt. Die Texte werden bezahlt, die Redaktionsdienste ebenso.

redaktion 2 estherslevogt Matthias Weigel, Wolfgang Behrens © Esther Slevogt Die Werbeeinnahmen decken zwar bereits fast die Hälfte der Kosten. Dennoch sind wir weiterhin auf fristlose, durchschnittlich verzinste Privatdarlehen angewiesen, auf Spenden der LeserInnen, auf die übliche Selbstausbeutung und auf zusätzliche Geschäftsmodelle, wie zuletzt die Produktion einer begleitenden Webseite zum Heidelberger Stückemarkt. Es ist uns durchaus bewusst, dass solche Auftragsarbeiten riskante Gratwanderungen darstellen zwischen journalistischer Unabhängigkeit (die wir uns vertraglich zusichern lassen) und Werbebeilagen, wie sie etwa in den großen, seriösen Zeitungen auch zu finden sind.

In dieser Spielzeit hat nachtkritik.de zum ersten Mal eine Förderung erhalten. Die Zeit-Stiftung hat es uns durch ihre Zuwendung ermöglicht, verstärkt die Theater in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern zu besuchen. Ohne dieses Geld wäre diese Schwerpunktberichterstattung nicht möglich gewesen.

Kommentare

Zum Kommentarwesen auf nachtkritik.de haben wir uns schon oft und ausführlich geäußert (hier und hier). Hier nur noch einmal soviel: Immer wieder wundern sich KommentatorInnen, warum und nach welchen Prinzipien wir ihre Posts zensieren.
Die Prinzipien sind grob in den Nutzungsbedingungen für das Kommentarwesen niedergelegt. Andersherum wundern wir uns immer wieder, dass die KommentatorInnen immer noch unbewiesene Behauptungen oder oft einfach üble Nachrede anonym in die Welt setzen wollen.
simone essleSimone Kaempf   © Esther SlevogtVielleicht hilft es zum besseren Verständnis, sich bei einem Kommentar wie "Regisseur xy saß während der Proben zu dieser Produktion dauernd besoffen in der Kantine, und wenn er nicht in der Kantine kippte, schwängerte er die Schauspielerinnen" einfach einmal vorzustellen, dieser Regisseur wäre man selbst, der da von einem anonymen User so angegangen wird.
Es ist nicht die Aufgabe von nachtkritik.de, denken wir, die Theaterszene in Weinkrämpfe zu stürzen. Deshalb werden wir auch weiter davon Abstand nehmen, Kommentare zu veröffentlichen, die auf jegliche Begründung ihrer Aussagen und jeden Beleg für etwaige Behauptungen verzichten.

 


Dieser Brief ist schon sehr lang.
Ich höre hier auf.
Weitere Fragen sind willkommen, ebenso willkommen wie Ihre Spenden.

Herzlich

Nikolaus Merck