altIm Gesangsverein

von Kai Krösche

Wien, 13. Juni 2012. Einmal, zweimal kann der Mann auf der Leiter hochsteigen, um ein paar der fehlenden Buchstaben auf der Überdachung dieses in die Jahre gekommenen 50er-Jahre-Baus anzubringen, da brechen schon die Sprossen und machen jede weitere Arbeit an der Fassade unmöglich: "ANAT ... M ... INST" steht nun über dem Eingang; gerade noch genug Bedeutung, um der Sinnlosigkeit zu entgehen, um das "Anatomische Institut" für diejenigen anzudeuten, die es (noch) kennen – und doch weit entfernt von einer seine Funktion erfüllenden Beschilderung.

Was sich in den ersten Minuten in Christoph Marthalers Festwochen-Inszenierung von Ödön von Horváths "Glaube Liebe Hoffnung" in diesem absurden, kleinen Bild andeutet, ist stellvertretend für die in den darauffolgenden dreieinhalb Stunden auf der von Anna Viebrock geschaffenen Bühne entstehenden Welt: ein fragiler Zwischenort in einer zerfallenden Zwischenzeit, verlorengegangen irgendwo auf jener schmalen Grenze, die die Erinnerung an eine einstige Ordnung von der völligen Auflösung in der Bedeutungslosigkeit trennt. Scheinbar abgekapselt von einem Außen, gleichen diese trostlosen und nach allen Seiten hin verschlossenen Wände einer Art Fegefeuer – und seine Bewohner rastlosen Seelen, die sich aus Angst vor einem unbekannten Neuen hilflos festklammern an einem früheren, eine "Funktion" erfüllenden Leben: Der "kleine Totentanz", als den Hórvath sein 1932 erschienenes Theaterstück in Form eines Untertitels benannte, wird bei Marthaler zur ausgedehnten Geisterstunde.

Gestörte Radioempfänger aus einer fernen Welt

Alles an diesem Abend scheint nur in Form von Nach- und Schattenbildern zu bestehen: Zwar stehen im Orchestergraben noch Stühle und Notenständer, die Musiker selbst jedoch sind ersetzt durch Verstärker und Musikboxen verschiedener Größen, die, mal dirigiert und am Piano begleitet von einem mysteriösen Pianisten mit zurückgekämmtem Haar und Anzug (Clemens Sienknecht), oft jedoch wie von Geisterhand einzelne kurze Streicher- und Bläsertöne von sich geben und damit nur mehr die Erinnerung an bekannte Melodien wecken – allen voran Schuberts "Der Tod und das Mädchen", neben Chopins berühmtem Trauermarsch das musikalische Hauptthema des Abends; so als seien sie gestörte Empfänger von Radiowellen aus einer fernen Welt.

Glaubeusw1 WalterMair 560 u© Walter Mair

In dieses sanfte Purgatorium schickt Marthaler die junge, arbeitslose Elisabeth auf die von Beginn an zum Scheitern verurteilte Suche nach Arbeit, Geld und ein kleines bißchen Glück, oder besser: Er schickt gleich zwei junge, arbeitslose Elisabeths auf diese Suche, denn die Protagonistin in Horváths Stück wird an diesem Abend simultan von zwei Schauspielerinnen – Olivia Grigolli und Sasha Rau – verkörpert. Durch die Dopplung, zeitgleich unsichtbare Geistererscheinung sowie anwesende Person, wird Elisabeth zum einen zur Komplizin ihrer selbst, gerät sie selbst zu der für sie einzigen unterstützenden Kraft im ganzen Stück.

Oben und unten

Zum anderen spiegelt sich im unterschiedslosen Umgang der anderen Figuren sowohl mit der einen als auch der anderen Elisabeth deren Unfähigkeit, im Gegenüber ein Individuum zu sehen statt einer Projektionsfläche für persönliche Wunschvorstellungen. Das klingt kompliziert und verkopft, wirkt aber auf der Bühne bewegend und oft im besten Sinne des Wortes komisch: Etwa wenn am Ende, nach Elisabeths missglücktem Selbstmord aus Verzweiflung, ihr Retter gleich zweimal den bewusstlosen Körper auf die Polizeiwache tragen muss (und, als wär's noch nicht genug, im Anschluss gar noch drei weitere leblose Frauenkörper).

Die Männer indes, die Elisabeth in nur wenigen Stationen in den schlussendlichen Tod schicken, sind ihrerseits mehr Karikaturen ihrer selbst, um sich kreisende und selbstmitleidige Autisten, körperlich wie seelisch steifgeworden von tief verinnerlichten Pflichtgefühlen, die sie immer wieder reflexartig (denn nach der an erster Stelle stehenden Pflicht kommt schließlich lange Zeit erst einmal "radikal nichts") vor jegliche menschliche Regungen stellen. In ihrer geradezu lächerlichen Panik davor, einen vermeintlichen "Status" zu verlieren, in ihrer Orientierung in Richtung eines unerreichbaren Obens und der einhergehenden, kleinmütigen Abgrenzung von allem, was sie als sozial "unter sich" begreifen, sind sie dabei auch ohne aktuelle Zeitbezüge personifizierte Kommentare zur Wirtschaftskrise und ihren verheerenden Auswirkungen auf ein gesellschaftliches Selbstverständnis.

Himmelwärts

Das Interesse dieser Männer an Elisabeth ist rein egoistischer Natur: Die junge Frau, die unter ihren Anweisungen selbst noch jene Kulissenumbauten bewerkstelligen muss, die für sie die nächste Szene – und damit den eigenen Untergang – einleiten, bedeutet für sie wenig mehr als die Möglichkeit, sich ihrer eigenen menschlichen bzw. männlichen (sexuellen) Gefühle im Spiegel des Gegenübers bewusst zu werden. Auch hier hat Marthalers Regie den verborgenen Punkt in Horváths Stück aufs Schmerzlichste ausgegraben, vielleicht gar zu schmerzlich für einen Teil des Wiener Publikums, das sich bereits zum Pausenblack in lautstarke Buhrufe flüchtete – und damit wohl unwissentlich nicht nur die Inszenierung, sondern den (alles, nur sicher nicht missverstandenen) Autor des Stücks gleich mit verschmähte.

Glaubeusw2 WalterMair hoch uDie zwei Elisabeths © Walter MairNatürlich wird – wie in Marthaler-Inszenierungen üblich – auch gesungen an diesem Abend, doch selbst die hoffnungsvollen Augenblicke der Ruhe, des gemeinsamen Gesangs, scheinen hier nur mehr spurenartig vorhanden, drohen bisweilen gänzlich in der Stille zu versinken. Trotzdem bieten sie in ihrer Sparsamkeit Ausblicke in eine mögliche bessere Welt, in einen Ausweg aus diesem Zwischenort, diesem Abstellgleis. So stellt Marthaler ans Ende des Abends trotz der – textgetreuen – Durchexerzierung der stationsartigen Hinrichtung einer jungen Frau ein Zitat aus einem anderen, weitgehend unbekannten Horváth-Text, dem vom Autor selbst als Zauberposse betitelten Fragment "Himmelwärts": Hier ist die Rede von einem utopischen Arkadien, in dem die Menschheit in trauter Gemeinschaft ohne Staat, Stände und Gesetz ein friedfertiges und wunschlos glückliches Dasein fristet. Dass die Abwesenheit von regelnden Mächten nicht in die Anarchie führt, erklärt der Sprecher mit der Kraft der Musik: "Wir haben keinen Staat mehr, wir bilden nur mehr einen Gesangsverein!" So verblüffend humorvoll und einleuchtend hat wohl noch keiner ein mögliches Paradies auf den Punkt gebracht.


Glaube Liebe Hoffnung
von Ödön von Horváth (unter Mitarbeit von Lukas Kristl)
Regie: Christoph Marthaler, Bühne: Anna Viebrock, Blanka Radoczy (Mitarbeit), Kostüme: Sarah Schittek, Musik: Clemens Sienknecht, Martin Schütz, Christoph Marthaler, Uli Fussenegger, Licht: Phoenix (Andreas Hofer), Johannes Zotz, Regie-Mitarbeit: Gerhard Alt, Dramaturgie: Malte Ubenauf, Stefanie Carp.
Mit: Olivia Grigolli, Sasha Rau, Ueli Jäggi, Jean-Pierre Cornu, Ulrich Voß, Bettina Stucky, Irm Hermann, Josef Ostendorf, Thomas Wodianka, Clemens Sienknecht, Sophie Zeuschner, Elisabeth Werdermann und Sophia Maria Keßen.

www.festwochen.at


Kritikenrundschau

"Glaube Liebe Hoffnung" sei "vielleicht sogar Horváths gewichtigstes Werk", meint Bernhard Doppler im Deutschlandradio Fazit (13.6.2012). "Christoph Marthaler hat ihm jedenfalls eine solche Bedeutung wiedergegeben, wohl auch schon allein dadurch, dass die Aufführung sich auf vier Stunden ausweitet." Im Bühnenaufbau von Anna Viebrock mit seinen hölzernen Wänden und Täfelungen, Bürotischen und ausziehbaren Betten, mit seinen Glastüren, werde die Geschichte nicht nachgespielt, sondern erzählt und immer wieder in Musik und Gesang, in Lachgeräusche oder in verzögerte, genau choreografierte Bewegungen aufgelöst. "Auch wenn zu Glaube und Liebe auch noch einige Texte - ausschließlich von Horváth - hinzugefügt worden sind, hier scheint die in der Regel unsinnige Bezeichnung einer 'werktreuen' Aufführung zuzutreffen."

"Es ist als hole Christoph Marthaler gleich alle Horvathschen Fräuleins auf die Bühne und stelle sie zugleich in eine völlig pervertierte Umgebung", beobachtet Sven Ricklefs für den Deutschlandfunk (14.6.2012). Selbst noch den eigentlich 24 Jahre jungen Schupo habe Marthaler mit dem 57-jährigen Ueli Jäggi besetzt, "da zeigt sich ein System lemurenhafter Funktionsträger, die sich lendenlahm zwar, aber dennoch den Zugriff auf den weiblichen Nachwuchs offenhalten". Es sei kein schönes Bild, was Marthaler da mit Hilfe von Horvath von der Geschlechterwelt entwerfe. "Natürlich dauert dieser Abend lang, gute dreieinhalb Stunden, doch anders als bei seinen letzten Arbeiten bei den Wiener Festwochen, die wie etwa das 'Subpolare Basislager plus minus Null' im letzten Jahr eigene Projekte waren, hat man bei diesem Horvath nun wieder das Gefühl, dass das Marthalerische Theater des Zerdehnens der Zeit, das Singen und Summen, einen Gegenstand hat." Marthaler zeige, was für ein starkes und zugleich monströses Stück das sei: dieses "Glaube Liebe Hoffnung".

Christoph Marthaler ziehe den Stoff aus wie Strudelteig, reichere ihn mit Zusätzen an, schreibt Norbert Mayer in Die Presse (14.6.2012). "Die Hülle zeigt Horváths Haltbarkeit, die Fülle zeigt, dass der Regisseur sein bewährtes Rezept der Marthalerei beherrscht, egal, welches Hochamt er gerade zelebriert." Marthalers Team zähle zu den Besten in kleinen Gesten. "Das kann so spannend sein, dass sogar Festwochen-Intendant Luc Bondy als Zuseher der Premiere darauf vergisst, mit dem Handy zu hantieren." Am stärksten sei das Ensemble beim sattsam bekannten Musizieren, "da werden Bach und Berg und Lehár faschiert zum großen Schweizer Ragout". Doch letztendlich wirkten die Gags dazwischen nur wie bedächtige Varianten von "Monty Python's Flying Circus". "Wer möchte davon wirklich eine doppelte Portion?" Nicht nur Elisabeth bleibe auf der Strecke, sondern Wesentliches von Horváth – das Lakonische. "Seine traditionellen Liebhaber mag das schmerzen, aber was zählt dies bei der Ekstase der Eingeweihten?"

Anders Ronald Pohl im Standard (14.6.2012), der von einer "Meisterinszenierung" spricht: "Mitten im tiefsten Frieden sind diese Menschen - Elisabeths natürliche Kontrahenten - bis an die Zähne bewaffnet. Sie stecken in zerknitterten Adenauer-Anzügen und Arbeitskitteln. Sie blicken pikiert und sprechen die Horváth-Sentenzen, diese Zeugnisse unendlicher Dummheit, wie abschließende Werturteile." Marthaler schenke Tätern wie Opfern "den lindernden Trost der Musik". Zwar besitze er "vielleicht keine Hypothese darüber, warum Menschen, kaum dass sie in Not geraten, einander wie Bestien an die Gurgeln fahren", aber doch "ein sehr klares Bild vom kleinen Glück, das sich beim nahen Hinschauen als wahre Katastrophe entpuppt".

"Früher war alles besser, raunzt der Theaterbesucher gerne. Der Befund stimmt selten", schreibt Ulrich Weinzierl in der Welt (15.6.2012). "In unserem Fall ist er leider angebracht." Denn Christoph Marthaler bereite dem Publikum mit seiner Version von "Glaube, Liebe, Hoffnung" eine herbe Enttäuschung. "Marthaler inszeniert nicht mehr das Original, er inszeniert Marthaler, dessen oft großartige Manierismen." Textlich stamme zwar alles aus der schon vom Autor einst unnötig aufgeblähten Volksstückfassung, aus Vorarbeiten dazu sowie aus Nachlassbänden. "'Glaube, Liebe, Hoffnung' bedarf indes keinerlei Aufbesserung, es ist perfekt." Wer hinzufüge, und sei es auch ungemein kenntnisreich, der zerstöre die heikle Balance, das beglückende innere Gleichgewicht dieses grausam harten, zarten Gebildes. Wie auch die Bühne von Anna Viebrock – "wieder einmal eins ihrer tristen Raumwunder" – verweise die Aufführung insgesamt nicht über sich hinaus, sondern köchele in ihrer musikalischen Ursuppe dreieinhalb Stunden vor sich hin. Das Stück gehe dabei vor die Hunde: "Kein Glaube. Keine Liebe. Keine Hoffnung. Nur Gesangsverein." Zum Schluss erklärt der Rezensent seinen Austritt aus dem Marthaler-Fanclub. "Zumindest bis zu seiner nächsten Premiere. Ich lasse den Kopf nicht hängen."

Marthalers Umgang mit der Musik im Schauspiel habe sich verändert, konstatiert Uwe Mattheis in der taz (15.6.2012). "War das, was die sentimentale Hausapotheke von Schubert bis zur Kulturindustrie bietet, bisher oft dramaturgisch pointierte Nummer, wachsen die Klangzitate hier zu einem weit komplexeren Gebilde zusammen, einer Art von musikalischem Essay, der den Abend mitdenkt." Aus Horváths Sätzen habe Marthaler noch das letzte psychologische Bindemittel entfernt. "Wirtschaft als irrationaler Selbstzweck und gesellschaftliche Repression bringen nur noch Zombies hervor." Ein großartiges Ensemble werfe die Sätze ohne menschelnde Verstellung geradewegs auf die Bühne, wo sie auf halbem Weg unversöhnt ausklängen. Es gebe einige Buhs zur Pause von denen, die in Wien glaubten, die Sprache Horváths in der Wiege oder schlimmer noch im Blut zu haben. "Marthaler ist nicht mehr nett, und das ist gut so."

Christoph Marthaler traue Olivia Grigolli offenbar nichts mehr zu, meint Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.6.2012). Er mache sie als Elisabeth zum doppelten Lieschen. "Man sieht nicht mehr von ihr, wenn man sie doppelt sieht. Man sieht nicht mal die Hälfte." Das Ganze sei, so Stadelmaier, wenig mehr als ein etwas schal gewordenes Theater im Theater. Ohne Weltanschluss. Man nehme, sozusagen leidlich an den Ohren gekitzelt, an einer Art Betriebsausflug des Marthaler-Gesangvereins ins Anatomische Institutsfestspielhaus teil. "Marthaler drückt sich um das Stück herum. Er lässt es beschallen. Aber er dringt nicht zu ihm vor."

Auf Christopher Schmidt wirkt an diesem Abend alles zu süß. Vor dem Zentrum des Stücks weiche Marthaler auf Nebenschauplätze aus, schreibt Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (15.6.2012). Slapstick-Einlagen und zartkomische Gags gelängen ihm mit links – "doch die Rechte, welche die Zügel in der Hand halten müsste, lässt er schleifen – was der mit vielen Passagen aus anderen Horváth-Texten und früheren Fassungen des Stücks angereichterten Spielfassung empfindliche Längen und einen stockenden Rhythmus beschert." Zerdehnt und zergähnt wirke der Abend. "Kein Totentanz, sondern eine pumperlgesunde Regie-Tänzelei." Das Zentrum der Inszenierung sei eine Leerstelle:"Wenn bei einem Stück, das dermaßen auf die Hauptfigur abgestellt ist, das Epizentrum der moralischen Erschütterung austauschbar erscheint, dann fehlt es an jener Empathie, die alle Betriebsamkeit an der Peripherie nicht wettmachen kann." Immerhin: Anna Viebrocks Bühne sei ein "wundersamer Zauberkasten", und ab und zu blitze auch Marthalers Genie auf, "wenn etwa Ueli Jäggi vor seinem Vorgesetzten mit der Tücke des Objekts hadert." Insgesamt aber sei die ganze Inszenierung kopflos: "Marthaler bringt nicht den Geist des Stücks zur Aufführung, sondern nur seine mehr oder weniger lustig zappelnden Glieder."

Nach der Premiere an der koproduzierenden Volksbühne am 27. September 2012 schreibt die Berliner Presse:

Über die Logik tröstender Tricks macht sich Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung und online bei der Frankfurter Rundschau (29.9.2012) anlässlich dieses Theaterabends Gedanken. "Na, uns Theaterzuschauer und die Theatertrickser auf der Bühne wird die jetzt grassierende Wirtschaftskrise schon nicht ganz so schlimm erwischen. Und wenn doch, dann sind die Sorgen von heute sowieso sinnlos. Verharren wir also noch ein wenig in dieser Utopie, in der begnadete, vor langer Zeit schon liebgewordene Schauspieler mit Gesang und Begleitung durch ein gespenstisches Lautsprecher-Orchester in einem Wunderraum von Anna Viebrock fast schon wie gewohnt herrlichste Marthaler-Kunst vorführen."

Nachvollziehbar, aber "gewöhnungsbedürftig" findet Christine Wahl vom Tagesspiegel (29.9.2012) Marthalers Idee, durch die Doppelbesetzung der Elisabeth den plotgemäßen "Abwärtstrend einerseits zu entindividualisieren und andererseits zu vervielfachen". Doch durch die "Verallgemeinerung der zentralen Figur" entstehe eine "leere Stückmitte". Und "so sehr es einleuchten mag", dass die beiden Elisabeth-Varianten "betont projektionsflächenhaft und profilarm agieren, so real sind dann eben auch die Endloswiederholungen, Längen und kalkulierten Leerläufe, denen man sich als Zuschauerin und Zuschauer an diesem dreieinhalbstündigen Abend ausgesetzt sieht." So sei unter den Horváth-Inszenierungen, die der "Entschleunigungskünstler Marthaler" bisher vorgelegt habe, diese "sicher" die "am radikalsten entschleunigte, leiseste und spaßärmste".

Kommentare  
Glaube Liebe Hoffnung, Wien: Meisterstück
Da ist den Festwochen ganz am Ende mit Marthaler noch ein wahres Meisterstück geglückt - eine Wucht von einem Abend: Witzig, berührend, melancholisch und gescheit. Dass das einem Teil des Publikums zu nahe ging, was solls. Dass den Buhrufen zur Pause ein donnernder Applaus mit vielen Bravos am Ende gegenüberstand, das sollte man aber schon erwähnen!
Glaube Liebe Hoffnung, Wien: schrecklich verschnarcht
Ja, schöner, wunderbarer Abend.
Aber warum muss man in Wien immer das Gefühl vermittelt bekommen, zu debütieren?
Auch Eure Wiener Kritiker sind in der Beschreibung dessen, was geschieht, so schrecklich verschnarcht.
Etwas ratlos verzweifelte Grüsse
und Glückwünsche an das Ensemble
Glaube Liebe Hoffnung, Wien: die Wiener Kritiker
Ja, die Wiener Kritiker sind ein eigenes - trauriges - Kapitel. Drum bin ich froh, dass es nachtkritik gibt!
Glaube Liebe Hoffnung, Wien: was Marthaler übel genommen wird
"Marthaler ist nicht mehr nett, und das ist gut so." - das ist mein Satz dieser Kritiken, und das nimmt man ihm offenbar übel. Andererseits meine meine Sitznachbarin: "Gut ist es schon, schade, dass man Marthaler grad nicht gut finden darf" - Sie hat wohl Recht gehabt!
Glaube Liebe Hoffnung, Wien: nicht mal einen Zwölftonwalzer
Ja, die verbrunzten Wiener zählen rein gar nichts in Oberbutzbach. Die können nicht einmal Zwölftonwalzer singen.
Glaube Liebe Hoffnung, Wien: Standard?
Warum ist denn der "Standard" nicht dabei, der die Inszenierung als "Schmuckstück" der Festwochen bezeichnet hat?

(Werter Wiener,

der muss uns heute in der Kritikenflut durchgerutscht sein und wird morgen nachgereicht. Absicht steckt keine dahinter.

Beste Grüße
Georg Kasch für die Redaktion)
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: Rundgang durch das eigene Museum
Habe es gestern bis zur pause geschafft nicht einzunicken. Altmeisterlich wird in einer derartigen Gelassenheit das Stück abgeschritten, dass die Frage aufkommt, war das schon der Rundgang durch das eigene Museum der liebsten Skurrilitäten oder gab es überhaupt noch Interesse an den verhandelten Themen der Vorlag. Die Doppelung der Elisabeth war für mich völlig verkopft und uninteressant - hier wird dann wohl nur noch dramaturgisch sauber die Unterschicht zur Nummer verzwergt.
Alle die Darsteller zeigten Ihr unbestreitbares Können - nur wem zeigten Sie es? und warum? Der Eindruck einer leidenschaftlosen, selbstgenügsamen Probe mit Christoph Marthaler als freundlichem Begleiter dieser Petitessenzuckergußrevue wurde über die Dauer immer dringlicher. Dringlich war leider nicht das was da angeblich passierte, auch - und das verwundert - weil die rhythmische Struktur wenig überraschendes oder aktivierendes bot. Das geht dann alles so seinen sozialistischen Gang und ein Publikum gluckst so angesichts eines fröhlichen Kabarettringelreihen ohne jegliche Schärfe.
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: intensive warmherzige Momente
@gustav ente
Von wegen Kabarettringelreihen. Das habe ich sehr anders empfunden. Klarerweise gibt's lustiges bei Marthaler, aber dass das einfach nur fröhlich vor sich hin orgelt, das stimmt einfach nicht. Es gibt sehr, sehr intensive Momente, die der Lächerlichkeit der Ostendorfs, Cornus etc. ganz bewusst entgegengesetzt sind. Da ist einmal die Zeitlupenszene zwischen Olivia Grigolli und Ueli Jäggi (also zwischen Elisabeth und Schupo), die ein unfassbar warmherziger Moment ist, eine ausgemalte Sehnsuchtsutopie, auch wenn die Sehnsucht nur auf etwas ganz kleines geht. Da ist all die alberne Umwelt auf einen Schlag weg. Und natürlich der musikalische Kommentar, der auf den Punkt trifft: Grigolli und Rau singen Bachs "Wer hat Dich so geschlagen?". Dann antworten die anderen mit "Ich hatt' einen Kameraden". Schlagender geht's doch gar nicht: "Will mir die Hand noch reichen, Derweil ich eben lad. Kann dir die Hand nicht geben, Bleib du im ew’gen Leben Mein guter Kamerad!" Das ist genau die Mentalität der Gesellschaft: Sie gibt sich christlich-human-sozial, aber sobald ein Sterbender die Hand ausstreckt, heißt es: "Kann dir die Hand nicht geben!" Allein in so einem Moment erreicht Marthaler mehr Schärfe als die meisten politischen Theatermacher.
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: Scheunentore der Kleinbürgerkritik
@donald goose
Und genau diese "feinsinningen" Kommentare für den eingeweihten Bildungsbürger bleiben meiner Meinung nach im Abnicken und sich am eigenen Wissen freuen stecken. Ich kann leider nicht viel mehr erkennen, als dass hier offene Scheunentore der Kleinbürgerkritik durchschlendert werden. Interessant ist ja wirklich, dass einige Berufene von einer werkgetreuen Inszenierung sprechen - so werkgetreu war es für mich, dass ich kaum etwas entdeckt hätte, was ich nicht sonst so an Vorurteilen über die Porträtierten Figuren kennen würde.
Bei der Zeitlupenszene haben Sie mich allerdings erwischt, die hat wirklich etwas verdichtet und neu und kreativ auf den Punkt gebracht. Das war sehr schön zu beobachten, wie da eine Welt aufging und eine Haltung zum Stück entstand. Aber leider war das für mich nur ein kleines Lichtlein im Dämmerschein. Danach verlepperte es dann inklusive des Kameraden etc.
Ob die Opposition zu sogenannten politischen Theatermachern etwas bringt, erscheint mir zweifelhaft. Ich glaube da werden dann Äpfel mit Birnen verglichen. Dennoch finde ich es wichtig sich Gedanken über das eigene Publikum zu machen. Und hier kam es mir so vor, als würde ein sehr einfacher Weg gewiesen, um nichts mit den Dringlichkeiten des Stückes zu tun zu haben. A la die sind ja doof die possierlichen Figuren und wir sind ja schlau, die wir hier unten sitzen.
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: Marthaler liebt seine Figuren
Was Herr Ente in seinem letzten Satz schreibt, könnte nicht gegenteiliger von meinem Eindruck sein. Es wird doch ganz offensichtlich, dass Marthaler seine Figuren liebt - und überhaupt nicht bloßstellt oder als "doof" verunglimpft.
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: fulminanter Saisonstart
Ich weiß nicht, ob die Volksbühne jemals einen so fulminanten Spielzeitstart hingelegt hat. Nach Polleschs Molière-Diskurs nun Marthalers magisch-schmerzvolles Geisterspiel. Komisch, schmrzhaft, bewegend und zutiefst menschlich. Marthaler verwässert nichts und lässt uns doch nicht hoffnungslos zurück. Niemand kann die (Un)Tiefen des Menschlichen so kunstvoll und luzid durchmessen wie Marthaler.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2012/09/29/endstation-gesangsverein/
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: Valium 10
Marthaler heute: das ist Valium 10. Die Entschleunigung ist noch weiter fortgeschritten. Angesichts der neuen Produktion haben „Die Fruchtfliege“, „Riesenbutzbach“ und „Basislager“ sogar etwas Zackiges, Frisches, Unverbrauchtes. Diese Inszenierung ist etwas für innerlich Vergreiste, die das Leben nur noch im Zeitlupentempo an sich vorübergleiten lassen, vornehmlich aus der Retrospektive. Es wird erzählt, dass man so alt ist, wie man sich fühlt. Anscheinend wird die Inszenierung von jenen goutiert, die frühzeitig im Vorgreisenalter angekommen sind. Vielleicht ist „Glaube, Liebe, Hoffnung“ für manche ein Bravourstück – es eignet sich aber auch bestens zum Quälen von Strafgefangenen. Oder für Leute, die einem asiatischen Lebensrhythmus verhaftet sind und sich gerade mitten in einem makrobiotischen Meditationsstadium befinden. Ein indischer Guru, der die innere Einkehr favorisiert und seine Inspirationen aus weltabgehobenen transzendentalen Sphären bezieht, würde diese Darstellung der Entzeitlichung, die Zertrümmerung der abendländischen Betriebsamkeit begrüßen. Das Eindämmern und Einlullen erreichte kurz vor der Pause einen fragwürdigen Höhepunkt. Hinzu kommt noch der völlig überheizte Saal, der im Verbund mit dem Dargebotenen fast eine hypnotische Wirkung auslöst. Abgesehen von der Energieverschleuderung ist es nicht gerade nett, den Besuchern über zwei Stunden die Frischluftzufuhr abzusaugen.
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: kleine Liebhaberei
@ Flohbär
ich hoffe Sie haben es noch ohne bleibende Schäden nach Hause geschafft. Dieser Horváth ist tatsächlich eine kleine Liebhaberei von Marthaler. Es steckt da viel mehr aus den Fragmenten drin, als nur der erwähnte Auszug aus Himmelwärts. Marthaler zelebriert hier förmlich den Totentanz. Er zeigt eine erstarrte, verfaulende Gesellschaft ohne Illusionen, ohne Utopie. Da kann das Individuum Elisabeth nicht einmal in doppelter Ausführung gegen an. Auch verheißt der Schluss nun nicht gerade ein utopisches Arkadien, dass tut es ja schon bei Horváth nicht. Die Säufergesellschaft, die da unterwegs ist, bleibt lieber unter sich, um ja nicht teilen zu müssen. Da ist die Gründung eines Gesangsvereins auch nur Marthalers ironischer Kommentar auf die begrenzte Wirksamkeit seines eigenen Schaffens. Die Volksbühne hat es zur Zeit mit den Memento Mori. Man reflektiert sich selbst in einer Art Rückschau. Das kann man mögen oder ablehnen, dazwischen gibt es nichts.
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: Experte des Büroschlafs
Bester Herr Stefan, die von Ihnen präferierte Liebhaberei ist leider eine Feier der Schlaffheit und des Fatums. Das ist deutsche - und schweizerische – Beamtenträgheit, die mit zurückgeklapptem Pensionärsauge illusionslos dem Ende entgegenschnarcht. Wir wandeln tänzerisch in den Abgrund! Marthaler, einst innovativ, ist zum Betriebsonkel und Oberfeuerwerker der Akkumulation von Stillstand geworden. Zum Glück hält sich meine Sensibilität in Grenzen - sonst müsste ich angesichts dieser spielerisch verbrämten Nirwana-Seligkeit eine Kur beantragen. Nun gut, aus Marthaler ist ein Experte des Büroschlafs und der Dystopie geworden. Vor drei Jahren haben alle Kritiker die Volksbühne nahezu systematisch heruntergeschrieben. Dieselben nebenberuflichen Kantinen-Kombattanten haben dann zu einer Neoglorifizierung angesetzt und dem Altmeister Castorf einen nicht ganz glänzenden Teppich ausgebreitet. Man rekurriert auf Altbewährtes. Und was kommt dabei heraus? Gehobenes Unterhaltungstheater ohne Reflexionsebene.
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: Gabe der Einlassung
sehr geehrter herr flohbär. vielleicht fehlt ihnen einfach die gabe der kontemplation und der einlassung, die gabe der feinen beobachtung und die erkenntnisfähigkeit, sehr feine genaue figurenstudien zu verstehen. der abend weckt sie leider nicht auf mit starken wirkungsbewussten brüchen, musik, einsatz von bühnenbildbewegungen oder dergleichen mehr. übrigens war dieser marthaler so gnadenlos und unversöhnlich, ohne erlösung.
bitte gehen sie noch einmal hinein herr flohbär.
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: Shakespeare der Sozialtristesse
@14:
Lieber Flohbär,
"Marthaler, einst innovativ".

Worin sahen Sie einst das Innovative?

Für mich war das Innovative, typisch Marthalerische seit "Murx" und "Sturm" die Einführung exakt jener Schnarch- und Singgesellschaft, der Woolworth-Existenzen und Endlosschleifen auf die Bühne. Er war, seit je (also, seit er selbst Theater machte und nicht Theatermusik in Zürich und Basel) der Tolstoi des Kleinbürgertums (alpenländischer Prägung), der Shakespeare der Sozialtristesse. Exakt dasselbe sehe ich jetzt in "Glaube Liebe Hoffnung", die im Übrigen sehr an "Kasimir und Karoline" erinnert.

Was unterscheidet für Sie und Gustav Ente den späten Marthaler vom Mittleren?
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: keine künstlerische Weiterentwicklung
Lieber Guttenberg,
ich bin kein Marthaler-Kenner. Schon aus Selbstschutzgründen haben ich mir nur fünf seiner Inszenierungen angesehen. Das Innovative war für mich eben das Zögerliche, Gedehnte. Eine Inszenierung von ihm ist ja unverwechselbar. Aber mittlerweile ist da keine künstlerische Weiterentwicklung mehr zu erkennen. Tolstoi, Shakespeare: das sind schwere Kaliber, die Sie da auffahren. Geht es nicht eine Nummer kleiner oder wollen Sie Marthaler emporhieven?

Liebe isabel,
Sie haben recht: das Kontemplative liegt mir nicht, abgesehen vielleicht von der Literatur (Krishnamurti habe ich früher gern gelesen). Wissen Sie, ich habe als Student unter anderem als Aufpasser in einer Spielhalle gearbeitet, obwohl ich mich vielleicht eher für einen Rausschmeißer in einem Sexclub geeignet hätte. Deshalb fehlt mir auch die Kraft zur Versenkung, zur intensiven Beschaulichkeit. Esoterisch veranlagte Kräutertee-Fraktionen, deren Biografien mit konzentrativen Bewegungstherapien und Meditationskursen angereichert sind, haben bei Marthaler da einen gewissen Vorsprung. Möglicherweise sind mir die feinen Figurenzeichnungen, die von Ihnen entdeckten feinen Verästelungen entgangen. Sofern ich zu subtilen Figurenstudien aufgelegt bin, muss ich die woanders machen. Nun, das Knorrige, Ungeschlachte und Ekstatische liegt mir mehr. Deshalb würde ich mir eher noch mal eine der drei Molière-Sachen ansehen, mit Wuttke in Dauerpräsenz. Dennoch, wenn Marthaler Sie zu einer gelungenen Organisierung ihrer Sensitivität befähigt hat, hat er auch seinen Zweck erfüllt.
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: werkimmanent kritisieren!
@17:
Lieber Flohbär,
ich sehe: Sie haben die ironische Hyperbolä bemerkt.
Aber warum beschweren Sie sich, dass Marthaler wie Marthaler aussieht?
Dafür wird er doch bezahlt, dass er nicht wie Pollesch, Pucher, Stemann oder Hermanis inszeniert.

Wenn Sie Marthaler nachvollziehbar kritisieren wollen, müssen Sie das schon werkimmanent tun. Aber - "Bulletts over Broadway" in allen Ehren - der Leserschaft einfach kundzutun, dass Sie von jetzt ab genug von der ganzen Masche haben und eine andere bevorzugen, ist - pardon - so interessant wie die Mitteilung, ob sie lieber Schokoladenpudding oder Rindersteak essen.

(Der "Bulletts"-Verweis bezieht sich auf die Einblicke in Ihre interessante Biographie, die Sie uns gewähren.)
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: eine hätte gereicht
ein toller spanneneder abend, der mich sehr fasziniert hat.schauspielerisch besonders frau grigolli frau herrmann und herr jäggi und auch herr ostendorf. für mich ist nur die eigentlich sehr gute idee der doppelbesetzung nicht ganz aufgegangen. leider musste ich in einer berliner zeitung lesen, daß die andere elisabeth von der frau des regisseurs gespielt wurde. das hat man leider sehr (pardon!!) gemerkt und mir hätte die eine elisabeth gespielt von der unglaublich intensiven olivia grigolli, allemal gereicht!!!!!
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: ein Fund
Liebe Frau Dehm,
ich fand auch, dass ein ziemlich Niveau-Unterschied zwischen den beiden Elisabeths war.
Was mich aber fasziniert hat, war, dass man immer 2 Inszenierungen derselben Szene hintereinander sah: einmal die Lesart Grigolli, einmal die Lesart Rau. Wenn hat man das sonst im Theater?
Am deutlichsten war das im 5. Bild, der Bettszene mit Alfons: Erinnern Sie sich an das "Küsschen", das in der einen Version realiter, in der anderen als Ferrero verabreicht wurde?
Das ist schon ein Fund, den der Marthaler da gemacht hat.
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: inspirierend
OK, es hat immer ein Geschmäckle* wenn jemand aus der Familie dabei ist. Aber Guttenberg hat doch recht, wenn er/sie die Idee der unterschiedlichen Lesart; dass Ferrero Küsschen vor die Frage des „wer war besser“ stellt. Die Elisabeths haben sich wunderbar ergänzt. Ich habe die Vorstellung am 21.11. gesehen und anschließend, in einer Kneipe um die Ecke, einen entfremdeten Menschen getroffen der meinte, dass das doch alles nicht wirklich Volksbühne sei - weil die Interaktion mit dem Publikum fehle und Marthaler mit seiner Langsamkeit da sowieso nicht hin passe.

Ganz im Gegenteil! Große Ruhe und Langsamkeit, gute, mutige Besetzung (auch vor dem Hintergrund knapper Kassen kein Jugendwahn) und ein Beleg dafür, dass die Volksbühne nach Kill Your Darlings und der Spanischen Fliege aufgrund ihrer Vielseitigkeit im Moment eine der innovativsten und vielseitigsten Bühnen Berlins ist. Ein inspirierender Theaterbesuch. Danke! (*schreibt ein Hanseat).
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: Gesangsverein statt Aufstand
Mir scheint es beinahe so, als hätte ich da heute Abend auf der Volksbühne u.a. Verschnitte von Harald Schmidt (Präparator) und Horst Köhler (Baron mit Trauerflor) gesehen. Dazu würde passen, dass es hier vor allem um die Machtfrage geht. Und wer die Macht hat, hat immer auch die Macht, eine menschliche Existenz zu vernichten - über die Medien und/oder auch ganz real. In patriarchalischen Männerwelten wie bei Horváth und bis heute werden Frauen, zumal finanziell abhängige Frauen - ob nun Prostituierte oder Dessousverkäuferinnen -, über eine technokratische bzw. moralisch korrekte, aber verantwortungslose Bürokratie in den Selbstmord getrieben. Ebenso der "Invalide" auf dem Arbeitsamt. Was mir hier konsequenterweise fehlt, ist der berechtigte Aufstand gegenüber ebensolchen Verhältnissen. Bloß würde das nicht mehr zur Marthaler-Ästhetik passen. Der zelebriert hier stattdessen eine Art grotesk-lächerliche Studie machtbesessener Männer vor dem Hintergrund einer masochistischen Untergangsstimmung und melancholischen Todessehnsucht. Das ist zwar auch nachvollziehbar, ähnelt aber auf Dauer dem Prinzip des Aussitzens von Helmut Kohl. Ein Mensch, der leben will, muss irgendwann aus dieser verhaltenen Stimmung ausbrechen, was hier über die Musik geschieht - ob nun technisch eingespielt oder mit Hand und Stimme mitgefühlt. Und dann am Ende einen Gesangsverein zu gründen? In meinen Ohren war dieser Gesangsverein allerdings ziemlich lahm: Arkadien als "Bildungsbürgerutopie". Für mich hat der alte Sehnsuchtsort der Toskana-Fraktion längst ausgedient. Stattdessen gilt heute vielmehr: Space is the place! Und dazu gehört eher experimentelle Jazzmusik oder besser: Musikalische Kraft, keine Leierorgie.

Die Doppelung der Elisabeth-Figur wird mir auch nicht ganz klar. Sie zeigt höchstens auf, dass und wie die Zeit vergeht. Und sich scheinbar wenig verändert in den Geschlechterverhältnissen. Im Alter gibt's statt des leidenschaftlichen Kusses ein Ferrero-Küsschen als Betthupferl. Und wer kocht den Kaffee? Ob am Ende nun die Frauen oder die Männer die Hosen anhaben, bleibt offen. Vielleicht können sogar eher die Frauen punkten. Weil sie gegenüber den vernunftbestimmten Männern die emotional Stärkeren sind.
Glaube Liebe Hoffnung, Berlin: bitte weniger
Diese Inszenierung passt weder in diese Zeit, noch zur Volksbühne. Das zeigen Bühnenbild, Kostüme und Spielweise. Bedeutungsschweres Ohnsorg-Theater, dass aus seinem eigenen Rahmen fällt. Und keine Anzeichen, warum. Das Gesamtkonzept überzeugt leider nur zum Einschlafen. Keine Ahnung, worum es an diesem Abend eigentlich gehen sollte. Um modernes Theater jedenfalls nicht. Bitte weniger davon.
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