altVon der Schwierigkeit adäquat zu handeln

von Simone Kaempf

Potsdam, 14. Juni 2012. Der Fremde ist der eigene Bruder. In bester dunkelgrundierter Komödienmanier taucht er plötzlich bei seiner Schwester und ihrem Ehemann auf: ungebeten, zur Abendessenzeit, blutverschmiert. Er sieht aus, als sei er draußen in ein Verbrechen geraten. Oder war es doch ein Unfall? Notwehr? Schließlich benutzt er den Haustürschlüssel, den er einst für Notfälle bekommen hat. Schnell stehen auch der Zweifel und die Frage im Raum, wessen Blut das eigentlich ist, mit dem Liams Pullover verschmiert ist.

Wohnzimmerschlacht
Die Wahrheit ist auch in Dennis Kellys Stück "Waisen" nicht so einfach zu haben. Der britische Dramatiker schrieb es vor drei Jahren als er sich erstmals an einem Drama mit traditionellem Aufbau ausprobieren wollte. Mit einem Einheitsraum und vier Szenen, die bei Helen und Danny zuhause spielen, und in denen es weniger um den Einbruch des Fremden in eine abgesicherte Welt geht. Sondern um die Schwierigkeit, adäquat zu handeln, wenn man wie Ehemann Danny einem unbekannten Mann helfen will, der irgendwo draußen verbluten könnte, aber die eigene Frau fleht, des Bruders wegen nicht die Polizei zu rufen. Und es sind noch eine Reihe weitere Motive gelegt: die Frage, wie gut man diejenigen eigentlich kennt, die einem die nächsten sind. Wie leicht man zu manipulieren ist, moralisch ins Kippen kommt und sich schuldig macht, ohne es überhaupt mitzubekommen.

waisen 560 hlboehme xPotsdamer Wohnzimmertrio: "Waisen" © H.L.Böhme

In Stefan Ottenis Inszenierung am Hans-Otto-Theater sieht es erstmal nach beginnender Wohnzimmerschlacht aus, aber sie wird nicht zelebriert. Auf der Bühne stehen ein gedeckter Tisch, Stühle, Gläser und Weinflaschen, ein modernes Ambiente. Die Spielfläche ist umgeben von großen Nadelbäumen, im Laufe des Spiels werden auch mal Waldgeräusche eingespielt. Diese Mischung aus angedeutetem Naturalismus und einem Schuss Künstlichkeit macht die Ästhetik aus, begleitet von weiteren Verschiebungen. So heißen Liam, Danny und Helen jetzt Marco, Christian und Nicole, und schon dieser andere Sprachklang schafft eine Erdung, die die Figuren durchaus dichter zu einem trägt.

Fehlendes Denk- und Ordnungssystem
Man merkt der Inszenierung an, dass sehr präzise und intensiv an kleinsten Gesten gearbeitet wurde. Vor allem Raphael Rubino als Christian verleiht seiner Figur eine Mischung aus ungekünstelter Ruhe und aus der Haut fahren, jeder zuckende Gesichts- oder Fingermuskel sitzt. Alexander Finkenwirth spielt Marco, den Bruder, mit jugendlicher Verschlagenheit. Und Franziska Melzer ist als Nicole eine grundehrliche Haut, ein wenig schnippisch, diejenige, an der sich am offensichtlichsten ablesen lässt, dass der Mensch nicht trainiert ist für den Tag, an dem der Bruder einen Menschen knebelt und mit vielen Messerstichen verletzt. Satz für Satz arbeitet sich Kellys Stück bis zu dem vor, was draußen im Park passiert ist. Die Inszenierung geht diesen Weg mit, ohne falschen Druck zu machen oder die Abgründe extra aufreißen zu wollen.

Formal bleibts ein Wohnzimmerspiel, immer dicht am Text, in einer Studiobühnenästhetik, die nicht besonders überraschend wirkt. Und doch eröffnet sich eine metaphysische Verlassenheit, ein fehlendes Denk- und Ordnungssystem für die Loyalitätskonflikte, vor denen die Figuren hier in dichter Folge stehen. Mal will Christian die Polizei rufen, um jemanden zu retten, dann ist Nicole kurz davor aus Zorn über ihren Bruder. Mal soll dem verletzten Unbekannten geholfen werde, dann wiederum dem Bruder. Die Schwester ist diejenige, die die Familienwerte hoch hält, aber nicht zurückschreckt, ihren Mann mit dem Kind, das sie erwartet, zu erpressen. Am Ende verstößt sie ihren Bruder, der draußen anscheinend gefoltert hat, und es bleibt offen, ob dies überhaupt so etwas wie eine Lösung ist. Wie Otteni das inszeniert, ist keine Neuerfindung des Theaters, aber er trotzt Kellys Stück Spannung, Zwischentöne und Dilemmata ab, ohne moralisch zu werden und ohne den Figuren oder den Zuschauern pädagogisch auf die Fingerspitzen zu schlagen.

Waisen
von Dennis Kelly, Deutsch von John Birke
Regie: Stefan Otteni, Bühne und Kostüme: Peter Scior, Dramaturgie: Ute Scharfenberg. Mit: Franziska Melzer, Raphael Rubino, Alexander Finkenwirth, Moritz Klaus.

www.hansottotheater.de

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Kritikenrundschau

"Es ist eine der herausragendsten Inszenierungen dieser Spielzeit!" schreibt Dirk Becker in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (16.6.2012). Stefan Otteni habe seine Schauspieler "mit höchstem Fingerspitzengefühl geführt" und das Stück "meisterhaft" auf die Bühne gebracht. Besonders Franziska Melzer und Alexander Finkenwirth begeistern des Kritker: "wie bei Franziska Melzer will man sich nicht sattsehen an diesen Feinheiten, diesem Facettenreichtum und dieser wutsatten Angst, die Finkenwirth hier bietet."

In seiner Inszenierung versuche Stefan Otteni den Spagat, so Karim Saab in der Märkischen Allgemeinen (16.6.2012), das grelle Sozialdrama sowohl psychologisch glaubhaft als auch abstakt zugespitzt in Szene zu setzen. In der Folge verfielen die Schauspieler dankenswerter weise zwar "nicht in übermäßiges Heulen und Zähneklappern, wagten aber auch nicht, die Überdeutlichkeit der Vorlage infrage zu stellen und eine abstraktere Spielhaltung einzunehmen." Manches bleibt für Saab an diesem Abend daher unentschlossen oder gar "wirre Erzählung". Die Bühne von Peter Scior bringt auch Sicht des Kritikers "die Verlorenheit dieser fragilen Familie treffend zum Ausdruck. Nur die soziale Verortung stimmt nicht. Blickdichte, immergrüne Hecken findet man nicht in sozialen Brennpunktvierteln, sondern in Potsdam dort, wo die Reichen öffentliche Uferwege sperren."

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