altEin Lied im Herzen

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 15. Juni 2012. Zampano und Gelsomina seien zwei Geschöpfe, die unauflöslich miteinander verbunden seien, ohne zu wissen, warum, sagte Federico Fellini über die beiden Protagonisten seines 1954 gedrehten Kinofilms "La Strada". Dass es die Liebe ist, die den wortkargen und gewalttätigen Jahrmarktsartisten Zampano an das tumbe, kindlich-naive Dorfmädchen Gelsomina kettete, offenbart erst die Schlusssequenz: als Zampano, der sonst so gefühllose und brutale Kerl, vom Tod Gelsominas erfährt, Unmengen Alkohol in sich hineinschüttet, zum nahe gelegenen Strand torkelt und dort weinend zusammenbricht. Die Kamera fährt zurück und lässt den verzweifelten Zampano auf dem nächtlichen, menschenleeren Strand alleine zurück, und gegen die Brandung des Meeres bäumt sich noch einmal Nino Rotas schöne Trompetenmelodie auf – Leitmotiv für die Beziehung Gelsominas zum seiltanzenden Clown Matto, den Zampano im Affekt erschlagen hat. Dies Finale ist zum Heulen traurig. Aber es ist nicht kitschig, weil sich die Intensität dieses Augenblicks aus dem perfekten Zusammenspiel aller künstlerischen Komponenten nährt: aus der grandiosen Darstellung Anthony Quinns und Giulietta Masinas, der Regie, dem Drehbuch, der Kamera, der Musik.

Einem filmischen Meisterwerk auf einer Theaterbühne Konkurrenz zu machen, ihm etwas Eigenständiges entgegenzusetzen, ist kein leichtes Spiel. Und im Falle der Schauspielbühnen Stuttgart, die als Privattheater inszenatorische Risiken eher scheuen, schon gar nicht. Dort hatte "La Strada" jetzt in einer Bühnenadaption des Wuppertaler Dramaturgen Gerold Theobalt im Alten Schauspielhaus Premiere. In seiner Bearbeitung extrahiert Theobalt die kammertheatertauglichen Szenen des Films und überführte sie in ein stringent erzähltes Bühnendrama.

Rosa Haare, Blümchenrock und Leggins

Die Inszenierung von Stephan Bruckmeier schlägt sich zunächst auch recht wacker dank seiner überzeugenden Darsteller und einem charmant-realistischen Ausstattungsminimalimus: Das Bühnenbild beschränkt sich zumeist auf einen abgewrackten, rostigen, türkisfarbenen Citroën-Kastenwagen, der auf der Drehbühne – die Arbeiter sichtbar per Hand in Bewegung bringen – zwischen den Szenen zu Zirkusmärschen seine Kreise zieht. Hier wie im Film ist die Wohnung der beiden bitterarmen, fahrenden Artisten ein mobiles Gefährt, mit dem man von Jahrmarkt zu Jahrmarkt schippert, um dort Zampanos Kettenzerreiß-Nummer vorzuführen. Gerade diese Bewegung zwischen den Szenen, gekoppelt an die fetzigen, vorantreibenden Zwischenmusiken, bringt Tempo und Leichtigkeit in das Stück, hält es am Laufen. Dabei zeigt sich die Entscheidung, auf Nino Rotas Filmmusik samt ihrer berühmten Trompetenmelodie zu verzichten und Neues beim TV-Serien- und Musical-Komponisten Gerd Schuller in Auftrag zu geben, zunächst noch durchaus als fruchtbar.

Lucia Peraza Rios lehnt sich in ihrer berührenden Darstellung der Gelsomina deutlich an die filmische Vorlage an, wirkt in ihrer Naivität und Unterwürfigkeit aber latent stärker und selbstbewusster, im Verlauf des Stücks sogar durchaus fähig zur Reflektion. Ihre Mimik bringt dabei mehr Differenzierung ins Spiel als ihre manchmal etwas zu sehr auf Kindlichkeit getrimmte Stimme. Kostümbildnerin Leah Lichtwitz hat Gelsomina rosa Haare, Blümchenrock und Leggings verpasst. Das stört dank der intensiven darstellerischen Leistung nicht weiter. Wolfgang Seidenberg in Jeans, Unterhemd und Westernstiefeln wirkt dagegen in seinem Wollen, Gelsomina wie einen Hund zu seiner Sklavin abzurichten, nicht ganz so grobschlächtig und unnahbar wie der Quinn'sche Zampano – eher ein bisschen wie ein prolliger Trucker. 

Stille wäre die Antwort

Allerdings misstraut Bruckmeier seinem Regiekonzept, hübscht es immer wieder unnötig an entscheidenden Stellen auf und zerstört damit die sorgsam aufgebaute Atmosphäre des Schausteller- und Zirkusmilieus. Besonders auffällig in der Schlussszene, in der Seidenberg Zampanos plötzlichen Wandel vom gefühlskalten Macho zum trauernden Liebenden phänomenal spielt. Stille wäre die einzige finale Antwort.

Doch derweil Zampano "Gelsomina, Gelsomina" greint, lässt Bruckmeier noch einmal die Zirkustruppe antreten samt der Toten, die Zampano nun mit vorwurfsvollen Augen stumm anblicken. Dazu dröhnt kräftig musikalischer Zucker aus den Boxen – thematisch geerdet durch die neu komponierte Posaunenmelodie, die Nino Rotas sehnsuchtsvolles Trompeten-Thema ersetzt. Kitsch macht sich breit. Nicht das erste Mal an diesem Abend, hatte doch zuvor schon Zampanos Damenbesuch aus dem horizontalen Gewerbe völlig unvermittelt und unpassend ein musicalmäßiges "In meinem Herzen wohnt ein Lied" angestimmt.

So ist es auch die Musik von Gerd Schuller und ihre fehlende stilistische Festlegung, die der Inszenierung im Wege steht. Weniger wäre hier mehr gewesen, die Zirkus-Zwischenmusiken hätten ihre Wirkung getan, und vielleicht hätte man auf Rotas trauriges Trompetensolo dann doch nicht verzichten sollen. Denn ohne diese Melodie scheint die Geschichte von Gelsomina, Matto und Zampano am Ende nicht ganz fertig erzählt.

 

La Strada - Das Lied der Straße
Bühnenfassung nach dem Drehbuch von Federico Fellini, Tullio Pinelli und Ennio Flaiano von Gerold Theobalt
Regie und Bühnenbild: Stephan Bruckmeier, Musik: Gerd Schuller, Kostüme: Leah Lichtwitz, zaubertechnische Beratung: Andreas Meinhardt, Dramaturgie: Martina Kullmann.
Mit: Mara Bittman, Lucia Peraza Rios, Ingeborg Stüber, Ilka Wolf, Oliver S. El-Fayoumy, Wolfgang Seidenberg.

www.schauspielbuehnen.de

 

Kritikenrundschau

Als "gleichermaßen feinsinnige wie kraftvolle theatralische Studie über die Macht der Armut", lobt Horst Lohr in den Stuttgarter Nachrichten (16.6. 2012) Stephan Bruckmeiers Inszenierung. Den Befund, das Menschen im Würgegriff der Armut abgekoppelt von Gefühlen wie Mitmenschlichkeit und Liebe sind, belege die Inszenierung "mit unaufdringlich poetischen Bildern", die mit leiser Komik und Melancholie spielen würden. Auch das Drehscheibenkonzept der Bühne überzeugt Lohr sehr. Ebenso das "intensive mimische Spiel" der Protagonisten. Besonders beeindruckt den Kritiker, wie vielschichtig die Schauspielerin Lucia Peraza Rios ihre Gelsomina zeichnet: "Ein aus dem Nest gefallener Vogel, tapsig, voll kindlicher Unschuld".

Von einer sehr überzeugenden Aufführung schreibt Cord Beintmann in der Stuttgarter Zeitung (16.6. 2012). Das liegt für ihn zum einen an der Kargheit der Inszenierung, in der für ihn "die Traurigkeit all dieser Zirkusexistenzen berührend zum Ausdruck kommt. "Zum anderen hat Bruckmaier das seltsam Unwirkliche dieser Menschen auf die Bühne gebracht und zugleich die Kälte ihres Umgangs miteinander. Die fellinesken, schwebenden Klänge der Musik von Gerd Schuller unterstreichen perfekt das Bühnengeschehen. Überragend agiert Lucia Pereza Rios als Gelsomina". Keinen Moment beanspruchten die Figuren dieses Stücks realistisch zu sein. "Sie sind Modelle, wie Film und Theater sie erfinden, um menschliche Konstellationen in greller Übertreibung auf den Punkt bringen." Doch genau darin liege der Reiz.

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