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Seifenblasen auf der Riesenholzwelle

von Esther Slevogt

Berlin, 22. Juni 2012. Ein leichtes Thalheimerfeeling zunächst. Eine hölzerne Riesenwelle schwappt über die nackte schwarze Bühne des Berliner Ensembles. Zumindest ließe sich der breite, auf- und abgeschwungene Holzsteg so deuten. Schließlich spielen die "Geschichten aus dem Wiener Wald" an der Donau, der blauen, deren Wellen aber hier eben nur eine einzige erstarrte, hölzerne ist.

Die schwer allegorisierende Bühne stammt nicht von Olaf Altmann, sondern von Hugo Gretler. Wie auch der Abend nicht von Michael Thalheimer, sondern von Enrico Lübbe inszeniert wurde, seit zwei Tagen designierter Nachfolger von Sebastian Hartmann als Intendant des Leipziger Theaters. Statt der Johann Strauß-Musik, die Ödön von Horváth zum Titel für sein bitteres Volksstück über das Verunglücken des Einzelnen in der unstillbaren Lebensgier inspirierte, dräut ein schicksalsschwerer Sound aus E-Piano und E-Gitarre von Bert Wrede.

Spiel der Physiognomien

In kurzen festgefrorenen Szenen werden in den nächsten hundertvierzig Minuten die bekannten Gesichter des BE-Ensembles auftauchen, wie sie so oder so ähnlich aus vielen Inszenierungen am Haus längst geläufig sind: in einer merkwürdigen Mischung aus Abstraktion und Verortung im Schrill-Pittoresken, sich gelegentlich um Kopf und Kragen mimend (und um alle Glaubwürdigkeit).

Axel Werner beispielsweise, der immer diese leicht verknarzten, vertrockneten Lulatsche spielt. Hier gibt er den Rittmeister in grauem Dress mit Reitpeitsche und leicht melancholischer (aber vielleicht nur alkoholischer) Schlagseite. Roman Kanonik, der immer ran muss, wenn sanfte Brutalos benötigt werden, hier als kompakter Schlachtergehilfe Havlitschek mit blutiger Schürze. Ein Naziabziehbild darf natürlich auch nicht fehlen, und so gibt Ulrich Brandhoff Jungfaschisten Erich gebührend verschwitzt.

wienerwald3 560 MonikaRittershaus uAufstellung, bis das nächste Dunkel kommt: "Geschichten aus dem Wiener Wald".
© Monika Rittershaus

Oder Angela Winkler, das ewige Mädchen, als Trafikantin Valerie, deren hochgeschraubte Heliumstimme hier nicht zum ersten Mal akute Knebelwunschreflexe im Parkett auslöst. Norbert Stöß gibt eine verruchte Baronin, die im spektakulärsten Bild dieses Abends im geschlitzten lila Samtkleid unter tellergroßen, kreisenden Diskoreflexen das gefallene Mädchen Marianne als glitzernde Donaunixe am Trapez aus dem Bühnenhimmel zaubert und wieder dorthin verschwinden lässt. Schließlich Boris Jacobys schwerer Trauerkloß Oskar – "Marianne, Du wirst meiner Liebe nicht entgehen" ist ja der berühmte Satz, den er am Ende zu ihr sagt. Als sie mit ihrer eigenen Vorstellung von der Liebe furchtbar gescheitert ist. Und schon die ganze Physiognomie dieses Schauspielers sagt, dass diese Liebe sich sehr schwer auf das Leben legen wird.

Fotohafte Schicksalsbilder

Enrico Lübbe ist also der Regisseur dieses Abends, der sich ziemlich nahtlos in die BE-Ästhetik der bunten Bilderbögen fügt, die ihre Welthaltigkeit gelegentlich bloß behaupten. Und eben meist nur bunt, aber ohne Zwischentöne sind. Horváths Geschichten fügt er auf der großen Holzwelle in knappen Szenen aneinander. Im Dunkeln versammeln sich immer wieder neue Menschenparodien auf der Bühne, im Dunkeln laufen sie nach gespielter Szene wieder auseinander. Um im nächsten Bild wieder neu arrangiert zu werden. Wie Menschen, die sich kurz für ein Foto aufstellen, was an diesem Abend einmal konkret auch geschieht, um das Prinzip zu verdeutlichen. Figuren, deren Defizite hier grell, fast zeichenhaft ausgestellt werden.

Ja, so sind sie, die Menschen!, buchstabiert uns diese Inszenierung den ganzen Abend lang überdeutlich vor. Das ewige Begehren, diese ewige Gier! Sabin Tambreas Alfred, ein labiler Strizzi, ohne Kontur. Roman Kaminski, der den Zauberkönig als grobschlächtiges, rotgesichtiges Mannsmassiv anlegt, nach jedem Busen, der sich ihm bietet, greift, Tochter Marianne (als großäugige Naive: Johanna Griebel) jedoch samt Kind verstößt.

Erleuchtete Momente

Am Ende gibt Kaminski seine Figur als geläuterten Opa mit albernem Tütenkasper dem Gelächter preis. Gudrun Ritter, die als winzige dämonische Großmutter den ganzen Abend mit Krücke giftend über die Bühne gehumpelt ist, entreißt dem entzauberten Zauberkönig die durch den Tod des Kindes sinnlos gewordene Handpuppe, um sie in einer grotesken Nummer immer wieder zu lautem, höhnisch kreischendem Gestöhn rhythmisch am Stab aus der Tüte raus und rein zu schieben.

Die Szene ist natürlich wohlfeil gedacht, funktioniert in ihrer schlichten Wucht aber trotzdem. Wie auch der ganze Abend doch gelegentlich von Momenten erleuchtet wird, wo man aufhorcht, zuhört, und manchmal fast berührt ist von diesen komischen Gestalten, die so verbittert den geplatzten Seifenblasen ihrer Träume hinterher schauen, derweil sie gierig nach den Krümeln grabschen, die noch vom Tisch des Lebens für sie abfallen. Aber eben nur fast.
 
 
Geschichten aus dem Wiener Wald
von Ödön von Horváth
Regie: Enrico Lübbe, Mitarbeit Regie: Torsten Buß, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Bianca Deigner, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Dietmar Böck.
Mit: Sabin Tambrea, Claudia Burckhardt, Gudrun Ritter, Michael Rothmann, Angela Winkler, Boris Jacoby, Anna Graenzer, Roman Kanonik, Axel Werner, Krista Birkner, Johanna Griebel, Roman Kaminski, Ulrich Brandhoff, Norbert Stöß, Veit Schubert, Amy Benkenstein, Judith Erhardt, Therese Korritter, Heidrun Schug, Judith Zimmermanns.

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

Enrico Lübbe habe bei seiner ersten Inszenierung in Berlin "das Berliner Ensemble wachgeküsst", meint Andreas Schäfer im Tagesspiegel (24.6.2012). Von "angestrengten Posen und Bedeutungsvorspielerei", wie man sie sonst häufig an diesem Haus sehe, sei keine Spur. Stattdessen arrangiere Lübbe die Schauspieler "zu Bildern, stellt sie – das Licht geht aus und wieder an – zu Postkartenmotiven auf, die 'Wohlanständigkeit' oder 'Ausflug zum See' oder 'romantische Liebe' heißen könnten. Trotz der Statuarik, es hat nichts Schweres." Und es sei "die wunderbare Begleiterscheinung von Lübbes Einfachheit: Die Schauspieler haben viel Raum um sich, den sie mit Ruhe dazu nutzen, die Gefühlslagen auszubalancieren."

Enrico Lübbe habe "von Anfang an alles getilgt, was irgendwie an historisches Lokalkolorit erinnern könnte", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (25.6.2012). "Hochkonzentriert und beklemmend verdichtet" führten "die wunderbar harmonierenden Schauspieler aus, wie sich die Figuren in Horváths rhetorischen Uneigentlichkeiten durchsetzen und überfordern, finden und verlieren." Weder verurteile Enrico Lübbe "diese unbarmherzigen Durchschnittsbürger", noch sortiere er sie "in Opfer und Täter, sondern betont so kühl wie präzise die grausame Leere um sie herum. Mit famoser Regie-Intensität und spürbarer Menschenliebe" zeige Lübbe "Horváths heikle Theatergeschöpfe als ergreifende Beispiele für das, was unter bestimmten Bedingungen durch Gewalt, Angst und Armut passieren und welche Ungeheuer der Schlaf der Vernunft gebären kann."

Was an Lübbes Versuch, die "Horvath-Kunst rein auf ihren bösen Kern hin zu skelettieren, schnell" ermüde: "dass alles und alle darin eben nichts mehr sind als dieser böse Kern", meint Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (25.6.2012). "Alle Doppelbödigkeit liegt so weit hinter ihnen wie die Krisenzeit, aus der sie schlüpfen." Bewegung sei "eingefroren, alles spult sich ab und aneinander vorbei, was im Prinzip ganz Horvath ist, aber eben nur im Prinzip. Lübbe verknappt die Wiener Geschichten auf Spotlights, knipst Ausschnitte an und aus und macht eine Art Negativ-Diavortrag daraus." Natürlich entstünden so "scharf konturierte Momente". Daneben aber mühe sich "das skelettierte Stellungsspiel, immer mehr nur zu einem halbgaren Thalheimer-Abend zu werden".

Lübbe versuche gar nicht erst, einen schönen Schein aufzubauen, "er stellt die Figuren gleichsam nackt dar - aber er stellt sie nicht bloß, sondern gruppiert sie (...) immer wieder in andere Zusammenhänge, die so etwas wie Gemeinsamkeit schaffen könnten, es aber nicht tun, weil die Protagonisten aneinander vorbei reden, an sich selbst denken oder nur ihren Instinkten folgen", schreibt Manfred Zwarg in der Chemnitzer Freien Presse (25.6.2012). Feinsinnig bringe die Inszenierung den wunderbaren Text zur Geltung, der keine der Figuren nur auf eine Eigenschaft reduziert, "alle sind sie gut und böse, allen ist nichts Menschliches fremd, alle verraten sie ihren Nächsten, wenn es dem eigenen Vorteil dient oder Vorurteil entspricht, alle sind sie auf der Suche nach dem kleinen Glück". Fazit: "Dies alles weist ohne eine direkte Anspielung auf die stillen Tragödien der Hartz-IV-Gegenwart", das sei großartiges Theater, mit Respekt vor dem Text, ohne Effekthascherei, mit wunderbaren Schauspielerleistungen.

In der Süddeutschen Zeitung (4. Juli 2012) äußert sich Peter Laudenbach im Zuge seines Artikels über Enrico Lübbe als designiertem Leipziger Intendanten auch über "Geschichten aus dem Wiener Wald": Die Inszenierung sei ein wenig zu typenselig und leide unter dem BE-typischen Hang zur Überdeutlichkeit. "Aber sie lässt auch einen metiersicheren Schauspielerregisseur erkennen, der das Volksstück vorm Abrutschen ins Folklore-Sentiment bewahrt und auf abstrakter Bühne, einer großen, gewellten Schräge, seine Figuren ausstellt - moderate Moderne, kein Geniestreich, aber auch keine Blamage."

 

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