altEs war einmal im Westen

von Georg Kasch

München, 4. Juli 2012. Zufällig ist Rainer Werner Fassbinder, der immer schon zum Film wollte, beim Theater gelandet: Gleich zwei Mal, 1966 und 1967, wurden seine Bewerbungen an die Deutsche Film- und Fernsehakademie in Berlin abgelehnt. Von einer Kollegin wird der Schauspielschüler 1967 ins Münchner Action-Theater geschleppt, zu "Antigone", inszeniert von Peter Raben – und ist begeistert: "Zwischen den Schauspielern und dem Publikum entstand so etwas wie Trance, etwas wie eine kollektive Sehnsucht nach Utopie."

probenfoto 280 ulrich handl uProbenfoto um 1969 © Ulrich HandlFassbinder bleibt, spielt, inszeniert, schreibt fürs Theater, parallel zur sich dann ja doch einstellenden Filmkarriere. Dass er bis zum Ende mit ihm rechnet, plant, Stücke entwirft, ist wohl die entscheidendste Erkenntnis der Ausstellung "Rainer Werner Fassbinder. THEATER" im Deutschen Theatermuseum München. Sie – und stärker, ausführlicher noch der Henschel-Band "Rainer Werner Fassbinder. Theater als Provokation" von David Barnett – geht die Stationen des Schauspielers, Regisseurs und Dramatikers ab: erst Action-, dann antitheater, beides noch ziemlich laienhafte Off-Klitschen in München (für die Fassbinder neben anderem sein erstes Stück "Katzelmacher" schrieb).

Melodram-Glamour mit BRD-Appeal

Kurz sind diese Stationen, kurz werden sie bleiben: Kurt Hübner holt Fassbinder nach Bremen, damals der westdeutsche Hotspot des deutschsprachigen Gegenwartstheaters (Peter Stein und Peter Zadek schärften hier ihr Handwerkszeug und ihre Stars). Dann Bochum, Berlin, Frankfurt (wo Fassbinder kurz das TAT leitete), sogar fürs Tourneetheater arbeitete er ("Die bitteren Tränen der Petra von Kant" mit Ruth Maria Kubitschek). Seine letzte Inszenierung wird 1976 an Ivan Nagels Deutschem Schauspielhaus Hamburg Clare Boothe Luces "Frauen in New York" (The Women). Womit Fassbinder dann auch auf dem Theater den Wandel vollzogen hat vom politischen Volksstück-Zuschnitt zum Melodram-Glamour mit BRD-Appeal. Viele weitere Pläne – eine "Traviata", eine "Phädra"-Adpation, "Endstation Sehnsucht" – beschäftigten ihn bis zum Tod.

Daneben entwickelt sich Fassbinder zum wahrscheinlich wichtigsten Filmemacher Deutschlands. Ob er auch ein Theatermacher von Rang war, lässt die Münchner Ausstellung offen und versucht es mit der Macht des Faktischen: Zu jeder seiner etwa 25 Inszenierungen und jedem seiner 17 Stücke gibt es Stationen mit Fotos, Hörbeispielen, Kritiken und – selten auch – Filmausschnitten.

liliom 560 deutschestheatermuseumarchiv roswithahecke"Liliom", Bochumer Schauspielhaus 1972, u.a. mit Hanna Schygulla (Julie) und Irm Hermann (Marie)
© Deutsches Theatermuseum Archiv / Roswitha Hecke

Das ist in seiner Masse überwältigend, aber wenn man sich die Kritiken durchliest (die in ihrer oft ablehnenden Haltung natürlich auch Ausweis von Borniertheit sein können), die Kommentare seiner Protagonisten studiert (Karlheinz Böhm etwa behauptet, Fassbinder hätte keine Geduld gehabt, seine inszenatorischen Ideen seien "Filmvorstellungen" gewesen) oder sich kurz ins angeschlossene "Filmtheater" setzt, wo Fassbinders fürs Fernsehen bearbeitete Inszenierungen "Das Kaffeehaus", "Bremer Freiheit" und "Nora Helmer" laufen, erscheint Fassbinders Theater als wilde, auch ermüdende Polit-Kunstanstrengung.

Glotzt nicht so romantisch?

Wer in die Münchner Ausstellung will, muss zunächst durch einen Raum, dessen Fotowände klarstellen, in welcher Zeit Fassbinder Theater machte: auf der einen Seite die berühmte Aufnahme der nackten Kommune 1, auf der anderen demonstrierende Studenten mit Che- und "Unter den Talaren..."-Schildern. Heißt: Fassbinders Theaterarbeit ist nicht ohne die bundesrepublikanischen Umbrüche seiner Zeit zu denken. Und auch nicht ohne das solide, aber vermuffte Stadttheatersystem, an dem sich Fassbinder mit Verve abarbeitete. Fassbinder war ein Theaterprovokateur, der sein Publikum gerne mal mit Abstraktionen, Langsamkeit und unscharfen Charakterisierungen quälte. Glotzt nicht so romantisch? Auch Bert Brecht kam aus Bayern.

Ums romantische Glotzen kommt man aber in der Ausstellung kaum herum. Auf den zahlreichen Inszenierungsfotos sieht man die wunderbaren Fassbinder-Diven Margit Carstensen (auf die er erst in Bremen traf), Hanna Schygulla, Irm Hermann, sieht die blutjunge Eva Mattes in "Hedda Gabler", Brigitte Mira in "Germinal", Gottfried John, Karlheinz Böhm und Volker Spengler in "Onkel Wanja" und gar Fassbinder selbst als Jean in "Fräulein Julie" und denkt sich: Wäre ich doch dabei gewesen!

Barnetts Buch oder Fassbinders tiefere BRD-Bedeutung

Hübsch und spielerisch sind viele Angebote, die die Ausstellung macht, etwa eine historische Jukebox mit Titeln aus Antitheater-Inszenierungen. Allerdings kommen sie an ihre Grenzen, wenn die Touchscreens im Saal, auf denen man eine große Auswahl an Kritiken findet, mal gar nicht, dann wieder extrem auf Berührungen reagieren. Mit Barnetts Buch, auf dem die Ausstellung in etlichen Teilen beruht, ist man allerdings auch gut bedient: Flüssig klappert er Fassbinders Theaterstationen ab, widmet dem Skandal um "Der Müll, der Stadt und der Tod" ein eigenes Kapitel, gerät allerdings im Epilog ins Schwurbeln und Stottern. War Fassbinder nicht nur als Dramatiker, sondern auch als Regisseur wirklich bedeutend für die deutschsprachige Theaterentwicklung? Barnett sagt ja. Die Skepsis des Nachgeborenen bleibt.

 

Rainer Werner Fassbinder: THEATER
Ausstellung vom 25. Mai bis zum 9. September 2012
Deutsches Theatermuseum München

http://www.stmwfk.bayern.de/Kunst/theatermuseum.aspx

David Barnett: Rainer Werner Fassbinder.
Theater als Provokation. Henschel Verlag, 2012, 160 Seiten, 29,90 Euro.

 

Alles über Rainer Werner Fassbinder auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

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Kommentare  
RW Fassbinder: Lust im Leiden
Irm Hermann eine Diva? Fassbinder hat sie privat nicht gerade rücksichtsvoll behandelt und ihr eher "schlechte" Rollen gegeben.
Fassbinder in einem Interview 1980: "Die Irm Hermann ist so ein Fall, wo man sagen könnte, die ist das geborene Opfer. Die findet ihre Identität oder ihre Lust nur im Leiden, im Unterdrücktwerden."
RW Fassbinder: einziger Motor
lieber flohbär! lange nichts von Ihnen gehört. aber Sie sind in manchen fällen eben doch erwartbar. sexismus scheint Ihr einziger motor zu sein.
RW Fassbinder: das geborene Opfer
@ Flohbär: Das ist ja ekelhaft. Und Sie? Sie finden Ihre Identität oder Ihre Lust nur im Leid zufügen bzw. in der Unterdrückung von Frauen? Ich würde sagen, herzlichen Glückwunsch, damit sind SIE das geborene Opfer. Jedenfalls nach Alice Miller:

"DIE VERACHTUNG für diesen Kleineren, Schwächeren ist so der beste Schutz gegen den Durchbruch der eigenen Gefühle der Ohnmacht, sie ist Ausdruck der abgespaltenen Schwäche. Der Starke, der um seine Ohnmacht weiß, weil er sie erlebt hat, braucht nicht mit Verachtung Stärke zu demonstrieren."
RW Fassbinder: nicht häufiger als Heidi Kabel
@ 2 und 3

Wo sind da bitteschön SEXISMUS und VERACHTUNG in § 1 ?
Man mag ja eine aufrichtige Sympathie für jene ZeitgenossInnen hegen, die sich allemal für eine Welt stark machen, in der man Irm Hermann als DIVA "verstehen" (was immer das heißt) würde, beziehungsweise irgendwie in Betracht für diesen "Titel" kommen läßt/ließe, aber offen gestanden muß es deswegen doch eigentlich im HIER und JETZT
immer noch möglich sein, die Kombination des Begriffes Diva mit dem Namen Irm Hermann zu befragen, da diese gewiß nicht üblich ist.

Machten Sie eine Umfrage, bei der die Leute 10 Diven nennen sollten, so würden Sie vermutlich leichterdings feststellen können, daß Irm Hermann eher nicht genannt würde, nicht häufiger wohl als Brigitte Mira oder Heidi Kabel, und das hätte vielleicht sogar mehr mit dem "Faßbinder"-Zitat in § 1 zu schaffen als es uns lieb sein könnte, das wäre unter Umständen diskutabel; die Kombination "Diva und Irm Hermann" wird vom Nachtkritiker erwogen (und schafft in der ziemlichen Unüblichkeit einer solchen gewiß, daß die/der Eine oder Andere nachzusinnen beginnt in einiger Neugier, läßt die/den Fragenden dann allerdings gewissermaßen im Regen dieser "Unüblichkeitsanmutung" (ist diese schon Sexismus ???) stehen -wohl, weil es garnicht primär um die nähere Behandlung von "Diven bei Faßbinder" ging).

Schon auch merkwürdig, liebe Inga, daß gerade Sie den Begriff "Diva" hier nicht ganz massiv befragen, sondern stattdessen irgendetwas von Verachtung herbeizitieren. Ist Irm Hermann für Sie denn eine Diva ?
Oder ist "Diva" nicht für Sie eh ganz und gar obsolet irgendwie ??
Nur, warum dann mit der Kritik nicht bei Herrn Weigel beginnen ???
RW Fassbinder: Begriff Diva verlohnt nicht
Zusatz zu 4

Daß Irm Hermann tatsächlich doch recht häufig als "DIVA" bezeichnet wurde, wenngleich meistens innerhalb von Aufzählungen der Faßbinder-Protagonistinnen, habe ich hiernach dann allerdings selbst noch einmal nachgegoogelt; ich finde jetzt, daß das eher auf einen recht beliebigen Gebrauch des Begriffes verweist (und zuweilen auf eine gewisse Hilflosigkeit bei der "Verehrung" geliebter SchauspielerInnengrößen) ; auch die Diva "Faßbinder" hat hohe Konjunktur, Heidi Kabel ist sogar "DIVA-Award"-Trägerin, obschon sie auch schon einmal beim Kartoffelschälen ertappt worden sein soll etcpp.: ob es sich wirklich verlohnt, sich an diesem Begriff abzuarbeiten ? Interessanter ist für mich da eher das Diktum Flohbärs von den "eher "schlechten"" Rollen. Da würde mich eine nähere Charakterisierung tatsächlich auch interessieren.
RW Fassbinder: über das Kraulen von Pelztieren
lieber arkadij! wer hätte das gedacht? ihre aufgepimpte schreibe ist hier sehr anschaulich nicht mehr als ein reflex. Sie können es nicht stecken lassen, und klöppeln noch ein paar preziosen ran. Sie kennen doch flohbärs kommentare! haben die sich je durch etwas anderes hervorgetan, als durch die heraufbeschwörung eines einzelgängerischen parasitenverseuchten pelztieres, dem frauen, wie die in seinem kommentar genannte, das fell zu bürsten haben? john osbornes "blick zurück im zorn" hört so auf. da will auch einer, dass man ihm den pelz krault, und obwohl das die jungs immer gerne gegenseitig und unter sich machen, wie Sie hier dem flohbär, wird im letzten moment doch noch eine frau ausgepackt. und wie jeder, der erst im letzten moment zur party eingeladen wird, sieht die dann für euch unglücklich aus.
RW Fassbinder: nur zitiert, nicht nach Kraulen verlangt
Wie ist Ihnen, la john? Was sind das für bizarre Relexionen?
Ich habe lediglich Fassbinders Sicht auf Irm Hermann wiedergegeben. Das hat mit meinen erotischen Präferenzen überhaupt nichts zu tun. Wenn ich jemanden zitiere, heißt das noch lange nicht, dass ich mit ihm einer Meinung bin.
Wenn einmal das Verlangen in mir aufsteigen sollte, dass mir jemand - eine Frau - den Pelz krault, dann nutze ich bestimmt nicht die Kommentarfunktion von Nachtkritik.
RW Fassbinder: hervortun, zugeben, ein wenig, Befragung, nochmals wo?
@ 6

Quatsch, ich kraule hier niemanden. Ob "Flohbär" sich schon durch Anderes hervorgetan hat als durch die Heraufbeschwörung eines einzelgängerischen parasitenverseuchten Pelztieres ? Ja. Ich gebe auch gerne zu, daß ich mich ein wenig gefreut habe, etwas von Flohbär zu vernehmen in den vergangenen Wochen. Ging mir mit 123 aber auch so, und die bringt mir auch la john, aufgepimpt oder nicht, nicht so leicht unter einen Hut ! "Reflexe", Sie bringen dieses Wort selbst ins Spiel, das trifft die Sache schon ganz gut:
"Beißreflexe" in den § 2 und 3 auf ein Zitat und die Befragung des Divenbegriffes (im Falle Irm Hermanns anhand einer Aussage Faßbinders). Nochmals die Frage: Wo sehen Sie hier SEXISMUS und/oder VERACHTUNG ?? Bei Faßbinder und/oder Flohbär oder jetzt :mir ?! Vielleicht ist mir da etwas entgangen und ich kann durch Sie Aufklärung erfahren, immerhin trauen Sie mir implizit fast schon zu, die "richtigen" Schlüsse aus meiner Kenntnis von Flohbär-Kommentaren zu ziehen; also, Sie sehen, wenn Sie sich nur Mühe gäben, mir zu erklären, so dürften Sie sich gemäß der eigenen Aussage nicht an den "Gehörlosesten" verschwenden. Ich bin gerne bereit auf mein "Kartoffelschälzitat" betreffs Heidi Kabels zurückzukommen, die eine GROSSE war (ohne eine DIVA sein zu müssen): insofern würde man mich aber auch falsch verstehen, wenn man nun annehmen sollte, über "DIVA" ließe sich garnicht (möglicherweise trefflich) streiten- immerhin sollte der Begriff doch wohl noch mehr fassen als "Dem Een sin Uhl is des Andern sin Nachtigal" (da könnte fast schon wieder die Sexismus-Debatte Boden unter die Füße bekommen) oder einen Titel, den man höchstamtlich verleiht, wenn zB. ein(e) FaßbinderspielerIn in etwa das Rentenalter 67 oder Vergleichbares erreicht hat. Um dergleichen war es mir und ist es mir zu tun ! Diven gründen für gewöhnlich einen Hofstaat, oder ? Hier aber ist es irgendwie der Hofstaat RW Faßbinders. Diven gehen für meine Begriffe geradezu durch ihr jeweiliges Medium hindurch, transzendieren es gewissermaßen, währenddessen die "Faßbinderdiven" gewissermaßen aus dem Medium heraus zu "Diven" werden - durch den stilisierten Naturalismus der
Faßbinderschen Filmsprache (wie ich sie auffasse): es ist halt tatsächlich zweifelhaft, ob wir überhaupt bei RW Faßbinder von "Diven" sprächen, gäbe es lediglich die Erfahrung seines "Antitheaters" (leider muß ich hier Herrn Kasch ausdrücklich beipflichten; schade, daß es mir notwendig an dieser Erfahrung mangelt und offenbar auch ein Touchscreenhimmel hier nur allenfalls palliativ wirkt). Wir könnten möglicherweise auf Unterschiede von Bühnen- und Filmsprache(n ?) kommen, und dann könnte ich sogar hin und wieder über vermeintlich oder wirklich aufgepimptes Schreiben hinwegsehen, oder wie schreiben Sie es noch sogleich: es stecken lassen..
R.W. Fassbinder: Fassbinder über die Liebe
@ Arkadij Zarthäuser: Jetzt mal keine Geschichten erzählen, bitte, nicht wahr? Es war möglicherweise ein Missverständnis, in dem Sinne, dass ich die Haltung Flohbärs mit der von Fassbinder verwechselte, hervorgerufen durch Flohbärs RWF-Zitat in Bezug auf Irm Hermann. Dass RWF ein bisexueller und in der Tendenz eher frauenverachtender Mutterverehrer war, vielleicht wollte Flohbär darauf hinaus?

Dass Fassbinder andererseits auch sehr zärtlich über die Liebe (zu welchem Geschlecht, das bleibt ausgespart, vielleicht auch bewusst, in Abgrenzung zur rein körperlich-sexuellen Lust) dichten konnte, zeigt sich in folgendem Gedicht:

"Zwei lieben...
Ein Sternenmeer in Zärtlichkeit gehüllt
Zwei lieben, Erfüllung eines Traums
Ein Traum, von Schönhheit nur erfüllt
Im dunklen Schatten eines Baums.

Die Liebe wie sie trägt und schwingt
In Herzen eingegraben, fest verkettet
Nur das, was Freude bringt
Erlöst, verschönt und rettet.

Man liebt nur einmal so
In Wind und Meer und allen Elementen
Einmal beginnt es irgendwo
Und einmal wird es enden."
(aus: "RWF. Im Land des Apfelbaums")
R.W. Fassbinder: das offene Buch
@ 9
Gut. Keine Geschichten: Gedichte. Auf BR 2 gab es dazu eine "Das offene Buch"-Sendung (3.6.2012), die nachzuhören ist. Ua. Hanna Schygulla liest aus jenem Frühwerk (an die Mutter).
R.W. Fassbinder: mehr zur Sendung?
@ Arkadij Zarthäuser: Könnten Sie bitte die Ihnen wesentlichen Aspekte aus dieser Sendung refererieren? Und noch eine Frage: Was bitte ist ein "Touchscreenhimmel"? (post Nr. 8.)
R.W. Fassbinder: der Touchscreenhimmel
@ Inga
Keine Geschichten und: keine Referate. Die Sendung liefert einige Hintergrunddaten zu "Im Land des Apfelbaums" (bzw. zum "Frühwerk" und Werdegang Fassbinders) und halt das eine oder andere Gedicht, wohlgemerkt: Sie können diese Sendung ganz leicht anwählen und hören (etwa eine halbe Stunde geht sie; für ein etwaiges Referat bräuchte ich, fürchte ich, länger im übrigen).
Um auf die Möglichkeit hinzuweisen, noch mehr von diesen Gedichten zu vernehmen, ja zu hören (gesprochen von einer der Fassbinder-Protagonistinnen), war es mir zu tun. "Touchscreenhimmel" bezieht sich auf den letzten Absatz des Textes von Georg Kasch.
R.W. Fassbinder: das Bedürfnis des Säuglings
@ Arkadij Zarthäuser: Mir ging es nicht um Referate. Sondern darum, was SIE SELBST so an dieser Sendung interessiert. Vielleicht dieses kleine Mädchen, welches (keine) Limonade will? Psychoanalytisch gesprochen, zeigt sich für mich in dieser Geschichte auch die Angst des Mannes/Fassbinders vor der Frau/Mutter. So muss er kleine Mädchen/Lolitas/Prostituierte anhimmeln. Auch ein Bordell ist angesichts solcher Ängste genau der richtige Ort. Dazu doch noch einmal Alice Miller:

"Einem Bericht über St. Pauli im 'Stern' vom 8.6. 1978 entnahm ich den folgenden Satz: 'Du spürst den so verführerischen wie absurden Männertraum, von Frauen gehätschelt zu werden wie ein Säugling und sie dennoch zu beherrschen wie ein Pascha.' Dieser 'Männertraum' ist nicht nur nicht absurd, sondern entstammt dem echtesten und LEGITIMSTEN BEDÜRFNIS DES SÄUGLINGS. Unsere Welt würde sicher anders aussehen, wenn die meisten Säuglinge die Chance hätten, über die Mutter wie ein Pascha verfügen zu können und von ihr gehätschelt zu werden, ohne sich früh um die Bedürfnisse der Mutter kümmern zu müssen.
Der Autor des Berichtes fragte die Stammgäste, was ihnen die größte Lust in diesen Lokalen verschaffe, und faßt die Antworten in folgenden Worten zusammen: 'DIE VERFÜGBARKEIT, DIE PREISGABE DER MÄDCHEN: daß es bei ihnen KEINER LIEBESBETEUERUNG BEDARF WIE BEI EINER FREUNDIN. Und daß KEINE VERPFLICHTUNGEN, SEELENDRAMEN und GEWISSENSBISSE ZURÜCKBLEIBEN, wenn die Lust geschwunden ist: >Du ZAHLST UND BIST FREI.< Sogar (und GERADE) DAS ERNIEDRIGENDE, das eine solche Begegnung auch (und gerade) für den Freier hat, KANN DIE ERREGUNG STEIGERN - aber davon redet man weniger gern.' Die Erniedrigung, Selbstverachtung und Selbstentfremdung spiegeln intrapsychsich die Verachtung der primären Objekte und schaffen im Wiederholungszwang die gleichen tragischen Lustbedingungen wie einst."

Ohne Fassbinder als Person psychologisieren zu wollen, sind seine Gedichte (und auch Filme) meines Erachtens voll von dieser Tragik, wie die eigenen Gefühle zu leben und die wahren Triebwünsche wahrzunehmen sind, ohne damit die Bedürfnisse anderer Menschen zwangsläufig übergehen bzw. verletzen zu müssen.
R.W. Fassbinder: befeuernde Streitigkeiten
Nach Aussagen von Kritikern und Schauspielern, die mit Fassbinder zu tun hatten, war er kein überragender Theaterregisseur. Ihm fehlte einfach die Geduld, wie Herr Kasch Karl-Heinz Böhm richtig zitierte. Verbale Gefechte, Intrigen und Handgreiflichkeiten waren in seinen Theaterteams nicht unüblich. Aber die Streitereien befeuerten seine Kreativität. Fassbinder war stockschwul und alles andere als ein Frauenverachter. Seine Heirat mit Ingrid Carven (1970 – 72) war mehr eine unlibidinöse Verbindung zweier Gleichgesinnter. Doch es ist ein Gerücht, dass er in der Hochzeitsnacht mit Günther Kaufmann im Bett gelegen hat. Die von Wikipedia behauptete Bisexualität ist wohl nicht wahr – die Äußerungen dieses Clubs muss man ohnehin mit Vorsicht genießen.
In seinen letzten Filmen – die BRD-Trilogie und Lili Marleen – sind immer Frauen die Protagonistinnen. Es sind relativ starke Frauen, dich sich im vorgefundenen Patriarchat relativ gut durchsetzen können. Irgendwann hatte er auch die Schygulla satt, weil sie sich gegenüber der Presse für Lola ostentativ selbst besetzen wollte. Wer wirklich nicht gut bei ihm wegkam, war Irm Hermann. Sie spielte meistens devote Hausangestellte oder griesgrämige, biedere Frauen. Weil sie als Marlene in Petra von Kant am Ende nicht mehr erniedrigt wird, packt sie ihre Sachen und verschwindet. Übrigens musste die Mutter (Liselotte Eder/Pempeit) ständig mit Fassbinders verbalen Invektiven rechnen.
Schade, dass die verfilmten Theaterstücke nicht mehr zugänglich sind.
R.W. Fassbinder: sexistisch
@ Flohbär: Schließt das Schwulsein denn per se die Frauenverachtung aus? Das ist hier die Frage. Manche Schwule sind ausgesprochen sexistisch, vor allem auch in Bezug auf die Rolle der Frau bzw. die Reduzierung der Frau auf ihr Äusseres.
R W. Fassbinder: oberflächengrammatisch
@ Inga

Wie heißt es an einer Stelle des Interviews, das Peter W. Jansen im Jahre 1978 mit RW
Faßbinder geführt hat, so "schön" über Irm Hermann: "Sie ist heilig geworden und hat ein Kind bekommen ... ." Im übrigen enthält das besagte Interview auch eine Passage, die jene Ehe mit Ingrid Carven -wie es oben bereits erwähnt wurde- als Wahlverwandtschaft charakterisiert, Ingrid Carven sei, so Faßbinder, von allen seinen Schauspielerinnen am wenigsten "nur" Schauspielerin.
Daß mich die Sendung ganz besonders berührt hätte, habe ich an keiner Stelle behauptet; ich folgte dem durch Sie angelegten Pfad zu "Im Land des Apfelbaums" und war recht verblüfft über die kleinen "Wunder" des Internets, jetzt, kaum geklickt, mich prompt zu einer Hörprobe weitergeleitet zu finden (und wollte an dieser Stelle lediglich einen Hinweis geben, zu einer Sache, die in der Tat jeder recht schnell selbst "finden" würde), und suche ich nach einem Interview, so werde ich schnell zu youtube und dem obigen Interview (in vier etwas länger als zehnminütigen Teilen) gelangen, das schon den einen oder anderen Einblick in die Arbeitsweise RW Faßbinders gewährt (siehe den Begriff "Einstellung", siehe das Problemfeld Rollenbesetzung und die Kämpfe um das Regisseurs-Diktum "Das kannst Du nicht spielen") -im übrigen ist der anfängliche O-Ton Faßbinders aus der Radiosendung wiederum diesem Interview entnommen-. Es ist in der Radio-Sendung auch die Rede von der Hölle der immer größeren Geschwindigkeiten, der (modernen) Hektik, dem Zwang zur die Technokratie aufrechterhaltenen Tätigkeit, die auch das Leben immer jüngerer Kindheiten, wenn überhaupt noch Kindheiten (Faßbinder bezeichnet seine Kindheit ja als Nicht-Kindheit) lebbar sind, in Richtung totaler Deprivation durchwirkt, vergiftet, den immer jüngeren "fertigen Menschen" im Gepäck. Was Sie da an Geschwindigkeit hinlegen, liebe Inga, ist allerdings auch enorm. Was Sie da vom "Anhimmeln von Lolitas" schreiben und jetzt zum "Sexismus", puh, ich komme da außer Atem. Abgesehen davon, daß ein Sexismus wohl auch denkbar wäre -und mehr als das-, der geradezu frauenliebend daherkommt (droht nicht auch Truffauts Mann, der die Frauen liebte, ein solchgeartetes "Urteil" ??), spielt eine Formulierung wie "ist heilig geworden und hat ein Kind bekommen" oder "war stockschwul und keineswegs ein Frauenverächter" schon ein wenig mit der (wittgensteinschen) Tiefengrammatik - siehe das Modellbeispiel zweier oberflächengrammatisch gleichgeordneter Sätze wie "A fiel aus dem Fenster und brach sich einen Arm" und "A brach sich einen Arm und fiel aus dem Fenster- , aber es besteht wohl kein zwingender Grund, hier kausal zu deuten, währenddessen es gerade einen Reiz eines solchen Satzes ausmacht, zu einem Schnell- oder Kurzschluß zu verleiten.
Wenn -mehr oder weniger- alle Vatis bei der Arbeit sind, alle Muttis am Herd, die RentnerInnen wegen des Wetters vielleicht eher nicht draußen, so wie in der Geschichte mit dem kleinen Mädchen (die mich ein wenig an den Wendersfilm "Alice in den Städten" erinnerte), so nimmt es nicht sonderlich wunders, daß jenes alter Ego des jungen Künstlers hier auf ein Mädchen stößt (aber, wo sehen Sie da die angehimmelte Lolita ??) und der Gedanke an einen jungen Menschen eh näher liegt als an einen schon vollkommen "durchökonomisierten" Erwachsenen, zumal der Autor seine eigene "Entwicklungsfähigkeit" an der Schwelle stehend begreift.

Später mehr.
R.W. Fassbinder: Präformation der Lebensentwicklung
Zunächst nur noch dies:

Würden Sie ernsthaft behaupten, RW Faßbinder habe späterhin auf ebenjene von Ihnen skizzierte Weise in etwa "Effi Briest" , "Martha" oder "Lilly Marleen" angehimmelt ?
Stehen nicht vielmehr immer wieder die Präformation der Lebensentwicklung durch die gesellschaftlichen Konvention(en), durch das (technokratische) SYSTEM und die "selbstverschuldete" Nichtverfolgung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse (siehe Untertitel zu "Effi Briest"), die durchaus dann zum Scheitern verurteilt sein könnten, würden sie verfolgt, im Zentrum ?
Ich sehe mich bei Faßbinder immer wieder auch ein wenig erinnert an Sartres "Das Spiel ist aus", aber auch an "Der Frömmste kann nicht in Frieden leben, wenns dem bösen Nachbarn nicht gefällt." ..
R.W. Fassbinder: frauenliebender Sexismus?
@ Arkadij Zarthäuser: Nun ja, das Alice Miller-Zitat war möglicherweise ein wenig übertrieben. Der Grundtenor dieser Geschichte mit dem Titel "Der Weg zurück" (aus: "Im Land des Apfelbaums") bleibt wohl der, dass Fassbinder sich selbst wie dieses kleine Mädchen (sic!) fühlt, welches er zugleich, ebenso wie später seine SchauspielerInnen, herrisch angeht, da das Mädchen nicht wisse, was es wolle. Mädchenwünsche kann man(n) sich aber nicht erkaufen. Ist klar, oder?

Und warum war Fassbinders Kindheit eine "Nicht-Kindheit"? Meines Erachtens gar nicht so sehr wegen des "rasenden Stillstands" (Paul Virilio) der Großstadt, sondern vor allem, weil er als Scheidungskind allein mit seiner Mutter aufgewachsen ist, welche ihn nach eigener Aussage oftmals vernachlässigen musste:
"Ich muß ihm freilich zugute halten, daß er sehr viel Schweres durch meine Scheidung und meine langwierige Krankheit, während der er mütterliche Fürsorge und Liebe entbehren mußte, weil ich ja im Krankenhaus lag, durchmachen mußte." (aus: "Im Land des Apfelbaums")

Ein letzte Frage noch: Was bitte ist ein "frauenliebender Sexismus"? Das ist ja wohl ein Oxymoron, oder? Könnten Sie bitte noch einmal erklären, wie Sie das meinen? Für mich ist es jedenfalls keine erstrebenswertes, weil stockkonservatives, Gesellschaftsmodell, wenn "alle Vatis bei der Arbeit" und "alle Muttis am Herd" sind. Frauen können mehr. Und Männer auch.
R. W. Fassbinder: explizit auch als Kampf verstanden
@ 18

Beim Sexismus handelt es sich doch in eine Kurzformel gebracht um eine ideologische Fixierung in Form eines Sets unverrückbarer Zuschreibung via Geschlecht: warum aber muß diese in irgendeiner Form nur dann problematisch sein, wenn sie negativ ist oder als negativ (diskriminierend) empfunden wird; ein "Willkürproblem" der jeweiligen Setzung bleibt bestimmt, und auch die Eingewöhnung einer solchen willkürinduzierten Praxis wird keineswegs folgenlos bleiben in verwandten Verhaltenskontexten.

Naja, und das besagte Gesellschaftsmodell ist halt haargenau jenes, gegen das Fassbinder geradezu kampfesmäßig angefilmt (im übrigen explizit auch als ein Kampf verstanden und verbalisiert) hat; das meinte ich ja gerade: ist freilich ein Gemeinplatz.

Der "Mädchentext" enthält immerhin die Wendung, ob der Autor dieses Geschehen nicht gleichsam "taggeträumt" hat (was insofern ohnehin auf ihn bzw. Wahlverwandte zurückverweist), es gibt keinen Grund, dieses Mädchen nicht auch als Vorläuferin der Effi Briest oder Lilly Marleen oder Martha etcpp. gelten zu lassen, währenddessen der Autor seine eigene Rolle desmeist zwiellichtig und untergrundmäßig auslegt. Nicht umsonst die Weißenbornrolle in "Lilly Marleen" beispielsweise ! Das Effi-Briest-Szenarium kompliziert sich insofern via Weißenborn-Untergrund und "Zwangsheirat aus politischen Gründen". Es ist schwer, wenngleich nicht unmöglich, das Lilly-Marleen-Ende auch als eine Art Befreiung aufzufassen;als filmisch "erkaufbar" bzw. einholbar durch ein Ende, das diese Entwicklung erfassen könnte, so könnte die Botschaft lauten, hat Faßbinder dies offenbar selbst nicht empfunden, und so bleibt sein Wirken im Untergrund, seine Provokation letztlich angewiesen: auf Wahlverwandte..
R.W. Fassbinder: bitte noch einmal konkreter
@ Arkadij Zarthäuser: Ich habe Ihre Erklärung zum "frauenliebenden Sexismus" leider immer noch nicht verstanden. Versuchen Sie es doch bitte noch einmal konkreter. Meinen Sie jetzt den Sexismus, welcher von anderen erwartet oder verlangt, Geschlechternormen zu verkörpern? Dadurch würden auch Schwule, Lesben und Menschen, die nicht ins gängige Geschlechterkonzept passen, diskriminiert. Oder betonen Sie eher die Mechanismen eines diskriminierenden Gesellschaftssystems bzw. des Patriarchats, welches bestimmte Rollenerwartungen an Männer und Frauen mit bestimmten Hierarchien zwischen den Geschlechtern verknüpft? Fassbinder hat beide Formen des Sexismus kritisiert.
R. W. Fassbinder: weil er der Welt den Spiegel vorhalten wollte
Lieber Arkadij Zarthäuser, vielen Dank für Ihre Informationen.

Frau Inga, wenn Sie sich über Fassbinder aufregen wollen, schauen Sie sich am besten „Martha“ an. Der Film ist, soweit ich informiert bin, als DVD erhältlich oder in einer Stadtbibliothek ausleihbar. Karlhein Böhm wurde nach der TV-Übertragung von 1973 durch heftige Leserbriefe attackiert, obwohl er nur eine Rolle spielte. Vielleicht hätten Sie damals ähnlich reagiert, da die „arme“ Margit Carstensen nicht viel zu melden hatte. Noch schlimmer wurde es in „Satansbraten“.
Aber halt. Die Welt kann schnell zurechtgerückt werden, wenn man sich „Bolwieser“ ansieht. Die Figur von Kurt Raab verfällt Hanni (Elisabeth Trissenaar). Solche Phänomene gibt es auch bei Fassbinder. Weil die Welt so vielgestaltig ist. Und weil er der Welt einen Spiegel vorhalten wollte. Kurt Raab war schon bei der „laienhaften Off-Klitsche“ antiteater (Georg Kasch) dabei gewesen, und es gab viel Presse, von der manche Berliner Klitschen nur träumen können. Leider hat man es versäumt, Raab ein Denkmal zu setzen.
R.W. Fassbinder: Jagdinstinkt auffrischen
@ Flohbär

Danke gleichfalls. Inga und Sie haben es da eigentlich richtig gut, was die Zugänglichkeit zB. von Fassbinderfilmen angeht. So einen Laden wie die "Filmgalerie 451" in der Torstraße 231 gibt es natürlich in Kiel nicht - da dürften Sie aber zu den meisten Fassbindersachen fündig werden bzw. zu "Spezialisten" weitergeleitet werden etcpp.; auch das Neue Arsenal-Kino am Potsdamer Platz zeigt immer wieder seltener Gezeigtes und - ich denke jedenfalls - gewiß hin und wieder einen rareren Faßbinderstreifen. Allerdings werden einem DVDs geradezu hinterhergeworfen in allen möglichen Auslagen -und sei es bei der THALIA-Buchhandlung oder bei WOHLFAHRTS etcpp.-, "Angst vor der Angst" habe ich zB. im Zuge dieses Threads (qua selektiver Wahrnehmung infolge der hiesigen Beiträge) gerade als Sonderangebot geschossen, was ganz gut paßt: Kurt Raab und Margit Carstensen betreffend. Von all den Streifen habe ich kaum die Hälfte bisher sehen können, und die ARTE-Reihe hat eher das gezeigt, was ich bereits kannte; solche Nachtkritik-Seiten-Schwerpunktsetzungen sind immer wieder ein guter Anlaß, seinen "Jagdinstinkt" ein wenig aufzufrischen, auch wenn nicht jedem dieser Begriff gefallen wird. Ja, und was das antiteater angeht: das hat zweifellos sehr früh sehr viel Presse aufgerührt. Sehr lesenswert ist zB. jene Kritik zu einem Bremer Faßbinder-Marathon (11 Stunden) vom FAZ-Kritiker Georg Hensel -nachzulesen in seinem Kritikenbuch zum Theater der 70er-Jahre-.

@ Inga

Vermutlich wird "Sexismus" stärker ausgeübt als notariell beglaubigt als Roadmap geradezu abgefaßt, und vermutlich wird ein solcher Sexismus, der "frauenliebend" daherkommt, und das geht doch wirklich in beiden von Ihnen angedachten Spielarten (kennen Sie keinen weiblichen Sexismus, der sich als frauenliebend geriert?, keine ("invertierten" und ideologisch verfestigten Formen) weiblichen bzw. männlichen
Selbsthasses), und hat es nicht ganz konkret mit "Sexismus" zu schaffen, wenn bei Sorgerechtsfragen die Mutterbindung deutlichen Vorrang vor der Vaterschaft genießen sollte ?? -ich gebe zu, da den aktuellen Rechtsstand nicht genau zu kennen; vor etwa einem Jahrzehnt habe ich noch Artikel gelesen, die da auf ein ziemliches Ungleichgewicht hingewiesen haben). Wie weit ist es als "Alltagssexismus" zu bezeichnen, wenn die Mutter dem Sohne sagt bzw. ihn fragt "Wieso nimmst Du Dir keine Frau ?" (ich denke, das wird noch häufiger - auch unter Freunden/Freundinnen - vorkommen als "man" so denkt bzw. thematisieren möchte), oder Frauen nennen einen "Schüchternen" einen Schlappschwanz, der es nicht schafft, eine Frau anzusprechen bzw. sie zu unterhalten (Erwartungshaltung: Initiative vom Mann), und gibt es nicht in vielen Beziehungen ein starkes Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau bei der Einschätzung, inwiefern Ihre bzw. Seine Probleme für die "gesamte Beziehung" von Belang und auszutragen sind (zB. für den Mann in der Rolle einer "Beschützer-
funktion") ?? Das können zunächst ja auch nur (wertvolle) empirische Befunde sein,
höchstpersönliche Beziehungsdaten zwischen Zweien: Wir wissen ja nicht unbedingt, ob zB. Irm Hermann ihre Rollen tatsächlich als undankbar empfunden hat, oder ob der obige Faßbindersatz in der Beziehung zwischen diesen beiden irgendwie seine "Richtigkeit" hat (schwieriger ist es schon, wenn das öffentlich wird und sich mit den Filmen vermischt), solche Sätze können ja durchaus ein Reflex darauf sein, wenn jemand meint, das Verhalten eines nahestehenden Menschen bestätige eher ein (Vor-) Urteil, das auch Bestandteil eines prominenten (strukturbedingten) Sexismus ist. Faßbinder sind seine recht strikten Rollenbesetzungen, die möglicherweise selbst stockkonservativ genannt werden könnten, hin und wieder vorgeworfen worden, so als wolle er den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Faßbinder konnte sich noch so deutlich gegen das BRD-System artikulieren, es brauchte nicht vielmehr als den Satz "Ich bin kein Jud wie Juden Juden sind" (der Film zum Skandalstück heißt "Schatten der Engel" mit Ingrid Carven als Roma B. und Klaus Löwitsch als reichen Juden) und er sah sich massiven Antisemitismusvorwürfen gegenüber (siehe hierzu das Georg-Hensel-Buch zum Theater der 80er-Jahre (FAZ contra Rühle) - kommt auch im Interview, Interviewort: Paris, zur Sprache - bzw. Herrn Suchers Buch zum Theater der 80er- und 90er-Jahre). Und wie schwer es auch hier ist, diese Reaktionen als IDEOLOGIE abzutun !
R.W. Fassbinder: Struktur der -ismen
@ Inga (Fortsetzung)

Tatsächlich ging es mir also mehr allgemein um die Struktur solcher Ismen, die allemal offen sind zB. auch für eine Spielart eines "frauenliebenden Sexismus". Vom Film "Der Mann, der die Frauen liebte" von Francois Truffaut bewegte ich mich mit meinem obigen Kommentar eigentlich nicht allzusehr weg. Ich habe die Autofahrt des Autoren mit seiner Verlegerin (die sein Buch erst durchsetzen muß im Lektorat) noch gut vor Augen, wie sie ihm erklärt, daß sein Buch ja auch ein "Auslaufmodell, old school" sei (sinngemäß), da sich ja jetzt in Richtung Gleichstellung der Frau das Szenarium entschieden ändere, sie hoffe, es sei ihm klar !.

Aus dem Faßbinder-Thread werde ich mich jetzt aber ersteinmal abmelden, um mich in den nächsten Wochen gen nächste Spielzeit zu orientieren; ganz aufgegeben habe ich jenen "Häppchen-Essay"-Gedanken ja noch nicht, und da auch zu Redaktionssitzungen Häppchen ganz üblich sind, sehe ich mich irgendwie sogar ein wenig bestärkt: Monatsmiete am Montag - kein Gefühl von Avantgardismus dabei..
R.W. Fassbinder: indirekt formuliert
@ Arkadij Zarthäuser: Ich habe den Eindruck, Sie schreiben immer gleich ganze Romane als Antwort, allerdings ohne dass die Sache dadurch konkreter würde. Mir ging es weder um eine Abhandlung zu diversen Fassbinder-Filmen noch um Sorgerechtsfragen. Vielmehr ging es mir allein um die genauere Beschreibung Ihrer Begriffsbidlung eines "frauenliebenden Sexismus". Dazu schreiben Sie folgendes:

"Vermutlich wird 'Sexismus' stärker ausgeübt als notariell beglaubigt als Roadmap geradezu abgefaßt, und vermutlich wird ein solcher Sexismus, der 'frauenliebend' daherkommt, und das geht doch wirklich in beiden von Ihnen angedachten Spielarten (kennen Sie keinen weiblichen Sexismus, der sich als frauenliebend geriert?, keine ('invertierten' und ideologisch verfestigten Formen) weiblichen bzw. männlichen Selbsthasses)"

Puh, das ist so indirekt formuliert. Zudem hören Sie gern mitten im Satz auf und/oder verzetteln sich in Assoziationen. Könnten Sie also vielleicht einfach mal ein Beispiel für weiblichen Sexismus, der sich als frauenliebend geriert, nennen? Und inwiefern hängt Sexismus Ihnen nach mit Selbsthass zusammen? Erklären Sie das mal. Und ausserdem frage ich Sie: Inwiefern waren Fassbinders Rollenbesetzungen selbst stockkonservativ?

Als Letztes noch: Was verstehen Sie unter "Häppchen-Essay"-Gedanken?
R.W. Fassbinder: Wo beginnt das Stigma?
@ 25

"hierzulande eher weniger thematisiert (denn es dominiert der Diskurs zur "Unterdrückung der Frau") und insofern kaum (quasi-) wissenschaftlich dokumentiert" - so in etwa sollte der fehlende Halbsatz (tatsächlich, das ist mir unterlaufen) lauten.

Und daher nannte ich hier einige Beispiele, die als Alltagssexismus
infrage kommen. Alltagssprachliche Sexismen mehr als ein kohärentes System eines speziellen Sexismus. Noch einmal, ich hatte keinen konkreten "frauenliebenden Sexismus" im Auge, obschon Truffauts Insel, auf der nur Frauen zugelassen sind, da schon einen Wink von gibt (der Autor konstatiert sogar ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem anderen Geschlecht) oder jenes "Sie werden ihn nach 18 Uhr nicht mehr in männlicher Begleitung antreffen". Daß Selbsthaß dazu führen kann, das Andere zu idealisieren, ist Ihnen vermutlich schon bekannt. Und daß der "Idealisierende" dennoch so kaum von "sich" loskommt. Nun gut, hin und wieder wird dafür Ideologie aufgefahren, systematisiert, um nur irgendwie mit dieser Lage zurechtzukommen. Beim "Dressierten Mann" von Esther Vilar ist davon gewiß manches enthalten und zu spüren, und bei Otto Groß, der für eine mutterrechtliche Gesellschaft eintrat, werden Sie gewiß auch ganz ähnliche Züge, andersherumgewandt ,finden. Immer wieder wird es als Sexismus thematisiert, wenn Männer sich ein Bild von einer Frau machen und ihr vielleicht auf den Hintern, auf die Brüste, Beine etcpp. sehen, sich dazu Fotografien, Filme ansehen, die Frau zum "Sexualobjekt" degradieren, und wie oft wird der eine oder andere Blick schon "eindeutig" genannt, so als sei eine Taxis des Blickes auf einen Hintern schon jenes "Männer wollen nur das Eine". Und immer wieder gibt es genau diese Züge auch auf weiblicher Seite: "Der Mann unter 1,80 m, der Bauch, der kurze Schwanz ...", und das endet nicht im Alter des "Bravoposters"- legendär ist der Begriff "Frauengespräche" (die dann kaum etwas Anderes enthalten, als Frau einem Mann vorzuhalten bereit sich fände). "Männer sind Schweine", kann man überall aus den Lautsprechern dröhnen hören, "Frauen sind Säue" weniger. Und hatten es Schwule nicht einmal sogar um einiges schwerer als Lesben, so zB. zu jenen Zeiten, als Faßbinder seine Filme drehte ?! Wann spreche ich sinnvoll von "Typen", wo beginnt das Stigma ?? Eine Frage, die vor allem Rollenbesetzungen angeht.
Und da hat Faßbinder in seiner Rollenbesetzungsmatrix meineserachtens ne Menge Hollywood im Köcher, und zB. Irm Hermann spielt dann halt nicht einmal jene Rollen, für die zB. Hanna Schygulla wie gemacht ist. Ja, verflixt: Was ist denn dieses "Wie gemacht" ? Bestimmt nicht sogleich Sexismus. Ich sah einmal eine Raskolnikowillustration und sagte mir sogleich: "Das ist er." Mit dem Satz "Das Äußere ist das Innere, das Innere das Äußere" haben wir wohl kaum zu kämpfen schon aufgehört (und die -Ismen dabei nicht sonderlich geholfen). Zadek war bekannt für seine konträren Besetzungen, und Irm Hermann hätte bei ihm durchaus ne Chance gehabt, "Lili Marleen" zu singen, wenngleich seine Lulu dem wieder widersprechen mag. Im übrigen habe ich diesen Vorwurf der immergleichen, typen-stigmatisierenden "Hollywoodbesetzungsweise" gegenüber Faßbinder mehrfach gelesen und oben nur dokumentiert, daß dieses der Fall ist, keineswegs behauptet, daß ich mich diesen Vorwürfen anschließen würde (da mir Besetzungsfragen schwerlich ideologisch nach progressiv oder konservativ so einfach aufgehen wollen, täten sie es, wäre nur das neue Stigma da). Im übrigen geht es in diesem Thread um Faßbinder und nicht vornehmlich um Sexismus; insofern sollten Filmzitate wenig überraschen, vom Sexismus nicht loszukommen dagegen schon eher.

"Häppchen" hieß das, was ich zu Jens Raschkes "Schlafen Fische" schrieb; ich regte einmal an, jede(r) möge sich so eine Art "Häppchen"-Essay zu einem Stück der kommenden Spielzeit ausdenken "Warum Sie eine Nachtkritikerin/einen Nachtkritiker nach X zu Y schicken sollten", um einen Vorgeschmack, eine Appetitanregung für die kommende Spielzeit zu liefern und dafür "Warum es nachtkritik de. dann noch geben sollte" - das war halt so ein Vorschlag für die Spenden-Aquise. Mit Verwandtem will ich mich jetzt die nächsten Wochen herumschlagen und jetzt diesen Thread wirklich verlassen, bleiben ihre Fragen auch noch so offen..
R.W. Fassbinder: quer zu den Geschlechtern
@ Arkadij Zarthäuser: Entscheidend ist immer der Kontext des "sich ein Bild Machens". Ein Pornofilm, welcher Frauen entpersonalisiert und sie damit zum Sexualobjekt degradiert, ist etwas anderes als ein Kunstfilm, welcher danach fragt, inwiefern weibliche Schauspielerinnen durch den Blick des männlichen Regisseurs bzw. Produzenten auf ein Objekt und damit auf einen lebendigen Marketingfaktor reduziert werden können. Ich denke da zum Beispiel an Godards "Verachtung". Auch Fassbinder thematisiert diese profitorientierte Instrumentalisierung des Menschen durch den Menschen, zum Beispiel in seinem Film "In einem Jahr mit 13 Monden". Ich sehe (sexuelle) Ausbeutung also nicht bezogen auf ein Geschlecht, sondern quer zu den Geschlechtern liegend. Wie gesagt, es kommt entscheidend auf den Kontext drauf an.
R. W. Fassbinder: Klarname?
@ Arkadij Zarthäuser: Noch eine Frage: Heisst die von Ingrid Carven gespielte Figur einer Prostituierten in Daniel Schmids "Schatten der Engel" nicht Lily Brest? Sie dagegen nennen diese Figur Roma B. Das erklären Sie mir mal, bitte. Und wie ist eigentlich Ihr Klarname?
R.W. Fassbinder: Roma B.
"Der Müll, die Stadt und der Tod"- im Bühnenstück heißt die Figur Roma B. (zugrundegelegt : die Frankfurter "Skandalinszenierung").
R.W. Fassbinder: Prager Inszenierung
Anfang Juni gab es eine hervorragende Inszenierung von "Der Müll, die Stadt und der Tod" im Ballhaus Ost. Ein Gastspiel vom Prager Kammertheater. Roma B. wurde gespielt von Gabriela Mícová. Leider ließ sich kein Nachtkritiker blicken. Ja, in Daniel Schmids Verfilmung heißt Roma B. Lily Brest. Der Film ist leider nicht mehr zugänglich.
R. W. Fassbinder: halten wir fest
Und was kommt von Arkadij Zarthäuser als Antwort? Halten wir fest: Roma B. (Bühnenstück) bzw. Lily Brest (Film) war also eine Prostituierte mit einem reichen jüdischen Immobilien"vati". Und das Ballhaus Ost spielt(e) auch eine Rolle. Anne Tismer vielleicht auch?
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