Das Risiko des Schreibens

von Andreas Klaeui

Avignon, 8. Juli 2012. Auf einer berühmten Fotografie umringen sie ihren Verleger Jérôme Lindon, auf dem Trottoir vor den Editions de Minuit, die Autoren des "Nouveau Roman". Ein Herbsttag 1959, eine Straße in Saint Germain-des-Prés, etwas ungeschickt sind sie gruppiert, sichtlich unwohl, außer Nathalie Sarraute schaut keiner in die Linse. Robert Pinget blickt zu Boden und zündet sich eine Zigarette an, Samuel Beckett beobachtet ihn mit den Händen in den Hosentaschen. Vor fünfzig Jahren, nach der Zäsur des Zweiten Weltkriegs und mitten im französischen Algerienkrieg, brachen sie mit den klassichen Erzähltraditionen à la Balzac und stellten die Frage: Was macht einen "Roman" überhaupt aus, was heißt Schreiben?

Christophe Honoré ist 1970 geboren; da gehörten die Nouveaux Romanciers bereits zum Kanon und zur Schullektüre. In seinem ersten Stück – nach Romanen, auch Romanen für Kinder, Filmen (zuletzt "Les Bien-Aimés") und einer ironisch gewitzten Victor-Hugo-Inszenierung vor ein paar Jahren in Avignon ("Angelo, Tyran de Padoue") – übermalt er das Verlagsfoto mit seinen eigenen Fragezeichen, darunter das wohl drängendste: Wen würde so was heute noch vom Stuhl hauen? Welcher unserer Großverlage würde sich noch für einen Pinget oder Beckett einsetzen?

nouveau roman 560 jean louis fernandez u © Jean Louis Fernandez

Es ist nicht das Biopic, was ihn interessiert, schon gar nicht, wer mit wem und was dann doch wieder nicht. Françoise Sagan zählt man gewöhnlich nicht zu der Gruppe, die als Etikett vielleicht ohnehin mehr in der Literaturgeschichte existierte, hier kommt sie trotzdem dazu; Auch Marguerite Duras hatte wenig zu schaffen mit Alain Robbe-Grillet.

Einheit von Ort und Handlung

Bei Christophe Honoré finden sie sich alle auf dieser Spannteppich-Arena, die Alban Ho Van in den Innenhof des Lycéee Saint-Joseph gebaut hat (das sind dann die schönen Avignon-Momente: Einheit von Ort und Handlung), die Bühne ist Gerichts- und Hörsaal zugleich: Claude Simon, Nathalie Sarraute, Marguerite Duras, Alain und Catherine Robbe-Grillet, Robert Pinget, Michel Butor, Claude Ollier, Samuel Beckett, Claude Mauriac, Françoise Sagan, und der Verleger Jérôme Lindon. Soll man sagen, sie "treten auf"? Lindon spielt Annie Mercier, auch Butor ist eine Hosenrolle (Brigitte Catillon), Claude Ollier wird nach seinem Abgang zu Françoise Sagan (Benjamin Wangermee). Nathalie Sarraute spricht Text von Marguerite Duras, was der eine und andere im sachkundigen Premierenpublikum tuschelnd registriert. Darum geht es nicht.

Vielleicht geht es um eine Verwunderung. Die Gratifikation der Archivarbeit: die abermalige Erstbegegnung mit vermeintlich Bekanntem. Honoré begegnet den Nouveaux Romanciers mit einer schönen Nonchalance – schön, weil es natürlich eine wissende Nonchalance ist, gefüttert mit detaillierter Recherchekenntnis. Da mischt sich das Cliché mit der Überraschung, und auch ein viel gehörter Text wie Duras' Kartoffel-Lauchsuppe kann neue Elektrizität bekommen.

Auseinandersetzung eines Sohnes mit den Vätern und Müttern

Nicht nur, weil das ganze Ensemble relativ jung ist (darunter auch Ludivine Sagnier als Nathalie Sarraute, auch hier: die komplette Gegenbesetzung, die Leinwandschöne und das Biest), hat dieser Abend eine ausgesprochen jugendliche Anmutung. Er hat was von Heldenverehrung; gleichzeitig einen frischen, unbelasteten, neugierig zugewandten Blick. Honoré verortet die Lektüre in der Zeitgeschichte und gibt ihr einen neuen Soundtrack; er lässt die Nouveaux-Romanciers mit ihren Tics und Brillen Samba tanzen und schickt sie in die Fragestunde mit dem Publikum. Immer stellt sich dabei die eine Frage nach dem Risiko des Schreibens.

Der Abend ist die Auseinandersetzung eines Sohnes mit seinen Vätern und Müttern; vermutlich wirkt er auch darum so jung. Im Angesicht eines allgegenwärtigen schnellen Mainstreams erscheint es ja nicht gerade als zeitgemäss, dem Wort am Werk und dem Gedanken bei seiner Entstehung zuzuschauen, und dies gleich noch als Spektakel zu deklarieren. Nachher ist es die Leichtigkeit und selbstbewusste Reflektiertheit, oder vielmehr: das selbstreflektierte Bewusstsein, welches die Distanz aufhebt, indem es sie gerade nicht verleugnet, und die alten Fragen neu stellt.

 

Nouveau Roman (UA)
von Christophe Honoré
Regie: Christophe Honoré, Bühne: Alban Ho Van, Licht: Rémy Chevrin, Video: Rémy Chevrin, Christophe Honoré, Baptiste Klein, Kostüme: Coralie Gauthier pour Yohji Yamamoto, Y's, Limi Feu.

Mit: Brigitte Catillon, Jean-Charles Clichet, Anaïs Demoustier, Julien Honoré, Annie Mercier, Sébastien Pouderoux, Mélodie Richard, Ludivine Sagnier, Mathurin Voltz, Benjamin Wangermee

www.festival-avignon.com

 

Alles über das Festival d'Avignon auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Sollte es aber einen Ort geben, wo theatralische Ausschmückung ganz fehl am Platz sei, wäre dies die Welt des Nouveau Roman. "Gerade diese literarische Figuren- und Handlungsvernichtungsbewegung auf eine Theaterbühne zu bringen, ist umso verlockender. Der Schriftsteller und Filmautor Christophe Honoré hat es mit zehn meist jungen Schauspielern versucht - und ist gescheitert", findet Joseph Hanimann in der Süddeutschen Zeitung (12.7.2012). Honoré lasse auf einer großen Bilderbuchbühne der fünfziger Jahre seine Darsteller anekdotisch die Launenhaftigkeit der Marguerite Duras, die Sticheleien zwischen Robbe-Grillet und Michel Butor, die literarische Umtriebigkeit des Verlegers Jérôme Lindon vorführen. "Nur einer bleibt in dieser dreistündigen Talkshow über Sein oder Nichtsein des Romans ausgespart. Unbeteiligt späht Beckett vom Plakat aus dem Büro des Minuit-Verlags."

Honorés "Nouveau Roman" wolle die Geschichte der Literaturbewegung um Alain Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute, Claude Simon usw. erzählen, schreibt Marc Zitzmann in einer Avignon-Zwischenbilanz in der Neuen Zürcher Zeitung (20.7.2012). "Ein spannender Vorsatz – doch die Umsetzung ist hölzern und hilflos: akademischer Text, fuchtelnde Schauspieler."