altDas Volksstück als Wille und Vorstellung

von Matthias Weigel

Wunsiedel, 13. Juli 2012. Kritische Volksstücke wie Franz Xaver Kroetz oder Martin Sperr sie schrieben, finden inzwischen eher selten ihren Weg auf Theaterspielpläne. Auch der Autor Felix Mitterer, 1948 in Tirol geboren, widmet sich (neben dem Verfassen von Tatort-Drehbüchern) immer wieder diesem Genre. Seine neueste Bearbeitung ist aber wohl sinnbildlich für das Problem, das das kritische Volksstück heute hat.

Auf der Freilicht-Felsenbühne der Luisenburg-Festspiele im oberfränkischen Wunsiedel fühlt sich Intendant Michael Lerchenberg dem Volkstheater seit Jahren besonders verpflichtet. So ist regelmäßig eine der vier Eigenproduktionen ein – mal mehr oder weniger kritisches – Volksstück in Dialekt. In diesem Jahr also "Wast – Wohin?", eine eigens von Felix Mitterer bearbeitete Bühnenfassung seines Hörspiels aus dem Jahr 1977 "Kein Platz für Idioten", unter der Regie von Christoph Zauner.

wast1 560 sfffotodesign uMich, der Tagelöhner (Arthur Brauss) und Wast (Moritz Katzmair)
© SFF Fotodesign / Luisenburg-Festspiele

Der titelgebende Wast (für Sebastian) ist ein behinderter Bauernsohn, der von seinen eigenen Eltern wie auch einem Teil der Dorfgemeinschaft als Strafe, Schandfleck und Belastung empfunden wird. Einzig der ältere Tagelöhner Mich interessiert sich für den Jungen und nimmt ihn schließlich bei sich auf.

Anständige Portion Moral

Schon Martin Sperr widmete sich in "Jagdszenen aus Niederbayern" (vor Jahren ebenfalls auf der Luisenburg aufgeführt) einer ähnlichen Thematik. Wie für das Volksstück typisch sind diese Stücke meist auf einen konkreten Missstand in einem konkreten Milieu in einer konkreten Zeit bezogen, mit einem klaren, stringenten Plot und einer anständigen Portion Moralpredigt oben drauf. So ist auch die Stoßrichtung von "Wast – Wohin?" wie erwartet nicht gerade subtil, die Welt lässt sich dankenswerterweise noch in Schwarz und Weiß einteilen.

Böse ist Wasts cholerischer Vater (Toni Schatz), der seiner Frau die Schuld an Wasts Behinderung gibt und auf seinen Sohn einschlägt, wenn er einnässt. Böse auch der Wirtshaus-Krawallnarr Adi (Alfred Schedl), der nicht viel kann außer sich betrinken und (unmotiviert) rumpöbeln; während der gute alte Mich (gespielt von Großstadtrevier-Schauspieler Arthur Brauss) moralisch unanzweifelbarer ist als Mutter Theresa. Moritz Katzmair schlägt sich konsequent und detailgenau als autistischer Wast in seiner Parallelwelt durch den Abend, wobei auch seine Ticks und Absonderlichkeiten dabei immer im harmlosen Rahmen bleiben und seine Betreuungspersonen nicht wirklich herausfordern.

Zorniger Impuls ohne Wirkung

Mitterers Hörspiel und somit die jetzige Bühnenfassung sind nach eigener Aussage von einer konkreten Begebenheit inspiriert. Keinesfalls soll geleugnet werden, dass Diskriminierung von Behinderten nach wie vor existiert. Aber die Formen dürften sich wohl geändert haben. Die Anklage, die das Stück formuliert, ist längst gesellschaftlicher Konsens. Diskriminierung kommt unserer Tage subtiler und unauffälliger daher. Und so büßt das kritische Volksstück durch den starken, oft zornigen Impuls, aus dem heraus es einst aktuell geschrieben wurde, eben schon ein paar Jahrzehnte später seine Wirkkraft wieder ein. Dazu bleibt "Wast – Wohin?" auch in seiner Form recht harmlos. Dass Autisten durch ihr Verhalten beispielsweise  den Betreuern einiges abverlangen können, wird am freundlichen und einsichtigen Wast, der im Handumdrehen Schreiben und Lesen lernt, nicht gerade deutlich. Zu keiner Zeit droht die Beziehung zum Ziehvater Mich an den Rand der Überforderung zu geraten.

wast 560 sfffotodesign uNix zwischen die Füß'!   © Bessermann / Luisenburg-Festspiele

Unvorhersehbare Katastrophe

So besteht das Stück – untypischerweise – zu neunzig Prozent aus einer Aufwärtsspirale: Wast geht es besser, die meisten verteidigen ihn, sein unsympathischer Vater bringt sich um, schon fast sehnt man sich in den ausgedehnten Szenen nach Problemen und Konflikten.

So bricht dann zum Schluss die Katastrophe doch recht unvorbereitet herein. Wenn der Wast nämlich beim Abholen der Filzschuhe zufällig mitbekommt, dass die Nachbarstochter komischerweise nix zwischen den Beinen hat. Um daraufhin die Hose runter zu lassen um zu demonstrieren, dass es bei ihm doch anders ausschaut "zwischen die Füß". Und so bleibt das kritische Volksstück auch auf der Luisenburg mehr historischer Rückblick als das, was es einmal war: Aufschrei gegen die heutigen Missstände.

 

Wast - Wohin? oder Kein Platz für Idioten
Volksstück von Felix Mitterer
Regie: Christoph Zauner, Bühne: Jörg Brombacher, Kostüme: Carla Caminati, Musik: Lukas Schiemer, Licht-Design: Norbert Chmel.
Mit: Arthur Brauss, Moritz Katzmair, Simone Bartzick, Chris Nonnast, Uschi Reifenberger, Katharina Schwägerl; Rudolf Waldemar Brem, Jürgen Fischer, Julian Niedermeier, Toni Schatz, Alfred Schedl, C.C. Weinberger, Günter Ziegler, u.a.

www.luisenburg-aktuell.de

 

Was in Wunsiedel sonst noch geschah? Das kann man u.a. in Michael Buselmeiers Theaterroman Wunsiedel nachlesen, der 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand.

 

Kritikenrundschau

"Vor dem Hintergrundrauschen aktueller Integrations-, Inklusions- und Migrationsdebatten" gebe Mitterers Volksstück, "ohne in die Jahre gekommen zu sein, plakativ, doch bewegend anschaulich ein Beispiel dafür, worum es, abseits frommer Sonntagsreden in Politik und Medien, wirklich geht: oft genug ums nackte Leben", schreibt Michael Thumser in der Frankenpost (16.7.2012). Die Inszenierung Christoph Zauners bemühe manchmal "Mätzchen ohne Not", ansonsten aber handle es sich um "Darstellertheater, und zwar um solches erster Sorte. Auch wenn zwischen den vielfach kurzen Szenen sich oft lange Pausen dehnen: Die Spannung hält in jedem Augenblick." Was vor allem "dem atemberaubenden Moritz Katzmair zu danken" sei: "Sein Wast gehört zu den großartigsten Wunsiedler Schauspielerleistungen der vergangenen zehn Jahre. Dem behinderten Menschen nimmt er sein Befremdendes nicht, wohl aber das Monströse, vor dem die Dörfler sich fürchten."

Moritz Katzmair habe "sich bis zur Selbstaufgabe versenkt in die Rolle des autistischen Ausgestoßenen", meint Andrea Herdegen in den Nürnberger Nachrichten (16.7.2012) und weiß zu berichten, dass der Schauspieler "für diese enorme Leistung mit einem der beiden Nachwuchspreise der Festspiele bedacht" wurde. Arthur Brauss spiele "den lebensklugen Alten zurückhaltend, in seiner Güte liegt kein Pathos, nur pure Menschenliebe." Regisseur Christoph Zauner habe in den Intoleranz-Terror eine ergreifende Liebesgeschichte eingebettet. Doch die Hoffnung bleibt flüchtig, immer wieder frieren die Szenen ein wie die Herzen der Dörfler."

 

 

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