altUtopie der Mischung

von Jürgen Reuß

Freiburg, 14. Juli 2012. Ein Jahr lang betreibt das Theater Freiburg nun in einer ehemaligen, zuvor zehn Jahre leerstehenden Schluckerkneipe namens Finkenschlag im Freiburger Stadtteil Haslach etwas, das man vielleicht am besten als Utopiekaschemme bezeichnen kann. Wenn Freiburg Berlin wäre, wäre Haslach Neukölln, oder, wie Graham Smith, einer der künstlerischen Leiter, sagt: "Es erinnert mich ein bisschen an Brooklyn." Monat für Monat gaben sich dort internationale Künstler, echte und falsche Experten, Nachbarn und Neugierige die Klinke in die Hand. Es wurden mal mehr, mal weniger abgefahrene Projekte entwickelt und ständig zwischen Talkshow und Tanztee Performances präsentiert, die mal Kopfschütteln, mal Begeisterung, meistens aber kopfschüttelnde Begeisterung erzeugten. Bei Zuschauern wie bei Beteiligten, wobei die Grenze dazwischen selten eindeutig auszumachen war.

finkenschlag 560a m.korbel hAloha! bei Showtime Finkenschlag © Maurice KorbelSo wandelbar die Veranstaltungen im Finkenschlag, so wandelbar waren auch Fassade und Innenraum dieser Barackenarchitektur einer ehemaligen Kleingartenkneipe. Vor einem Jahr stach der Raum als "MS Finky" in See, war dann mal psychedelisches (Kinder-)Wunderland aus Schaumstoff, mal gazastreifenartiger Bretterverhau, mal verruchtes Kasino. Mal rollte ein Tänzer im durchsichtigen Riesenball durchs Viertel, mal wurden die Sprayerkids der Nachbarschaft aktiviert. Mal wurde Stadtteilpolitisches diskutiert, dann kroch eine Kinderraupe über die Wiesen, eine Starschauspielerin sang schüchterne Love Songs, Paare versuchten sich in Gesellschaftstanz, ein Soziologe sammelte Haslacher Geschichten, ein Historiker erläuterte Urbanistik, zwischendrin lud eine Theaterautor zu gehobener Vier-Gänge-Küche in offener WG-Atmosphäre, die von den monatlich wechselnden Artists in Residence ständig umdekoriert wurde.

Zwischen Bett, Showküche und Bier-Kiosk

Mal abgesehen von der Frage, was dieser Finkenschlag nun ist – ständig mutierende Kreativzelle? Mäanderndes Schwarmchaos? Mischung aus Stadtteiltreff, Performerrefugium und Sozialraumgenerator? – kann man das aus der Peripherie zurück auf die Bühne des Stadttheaters tragen?

Die Antwort ist nein, aber gemacht wurde es trotzdem und geklappt hat es auch. Die Hinterbühne des Großen Hauses wurde zur jahrmarktähnlichen parallelen Reinszenierung der vielen Verwandlungsstufen des Finkenschlags. Auf der Drehbühne wurde der Grundriss nachgebaut, samt Artist-in-Residence-Bett und Show-Küche, die das Publikum auch bekochte. Auf der übrigen Hinterbühne konnte man an weiteren Spielstätten vorbeiflanieren, in denen die verschiedenen im Original ausprobierten Formate angeboten wurden. Auch der Kiosk, an dem man mangels Schanklizenz im Finkenschlag sein Bier holen musste, wurde samt seinem Betreiber auf die Bühne geholt.

Hawaiikitsch und die Sehnsucht

Die Intimität und die spezielle Aura des Originalschauplatzes konnte diese Reinszenierung nicht bieten, aber es gelang doch, eines der wichtigsten Elemente des Projekts Finkenschlag zu reproduzieren – diese Utopie der Mischung, die Abwesenheit und Überflüssigkeit von Grenzen in einer wilden heterogenen Mischung. Wenn die Haslacher Aloha-Frauen zu kitschiger Musik mit großem Ernst ein hawaiianisches Fluchtidyll besingen und betanzen, reiht sich Tänzer und Choreograph Graham Smith einfach ein, macht mit.

Dieser Geist vermittelte sich auch im Theater-Finkenschlag an alle, die dort waren: reingehen, mitmachen. Keine ironische Distanz, kein überhebliches Belächeln. Die Realität hat viele Türen, die man zu neuen Räumen öffnen kann. Aus Hawaiikitsch wird dadurch kein Hawaii, aber unmerklich ist die Sehnsucht, die sich dahinter verbirgt, sekundenweise in einem gemeinschaftlichen Glücksgefühl erfüllt. Ähnlich dürfte es den Profikünstlern aus den Weltstädten gehen, die einfach mal ausprobieren, ohne dass die ewig castenden Blicke Berlins auf ihnen lasten. Schöner Leichtsinn. Und Geld spielt in dieser Utopie so gut wie keine Rolle. Acht Stunden, acht Euro, falls man nicht eh so rein kam.

Showtime Finkenschlag
vom Finkenschlag-Team: Michael Berger, Tom Böhm, Paul Brodowsky, Jens Dreske, Emil Galli, Franziska Jacobsen, Johannes Kasperczyk, Wolfgang Klüppel, David Lindemann, Inga Schonlau, Tom Schneider, Graham Smith.
Konzept & Künstlerische Leitung: Wolfgang Klüppel, Inga Schonlau, Graham Smith, Bühne & Ausstattung: Jens Dreske, Franziska Jacobsen, Produktionsleitung: Johannes Kasperczyk.
Mit: Aloha Freu(n)de Freiburg, Canavar Banavar, Tim Beam, Mustafa Bozkurt, Alain Croubalian, Ruby Edelman, Tobias Ergenzinger, Freiburger Blasorchester, Kate Harman, Bernadette La Hengst, Georg Hobmeier, Sandra Hüller, Sumi Jang, Thomas Jeker, Mathias Lodd, Lokalspieler, Grayson Millwood, Tommy Noonan, Otto Normal, Christoph Oertli, Maria Pires, Gigolo Reinhardt Duo, Ringerverein RKG 2000, Afordisman Salihins, Stefanie Schönfeld, SoLD, Mihran Tomasyan, Antonello Tudisco, Gavin Webber, Martin Weigel, Jeff Wood, Frank Zamboni, u.v.m.

www.pvc-haslach.de

Kommentare  
Showtime Finkenschlag, Freiburg: liebevoll
Ungeheuer liebevoll aufgezogenes Projekt- so mein Eindruck.
Jedenfalls lohnt auch der Blick auf die Haslach-Seite: alleine schon der Stadtplan, wirklich gut. Gäbe es zu "Chrashtest Nordstadt" auch einen ähnlichen Plan und mehr Feedback von den 21 Stationen der ersten Spielrunde zu diesem Plan, könnte sich in Sachen "Nachhaltigkeit" des Stadtteilprojektes noch manches in Richtung "Finkenschlag" tun, denke ich. Vielleicht fließt davon auch etwas in den zweiten Crashtest gen Anfang Oktober. Erfreulich ist mittlerweile die Breite gelungener Stadtteilprojekte !
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